„Wenn ich nachts auf meiner Pritsche lag, mitten zwischen leise schnarchenden, laut träumenden, still vor sich hin weinenden und sich wälzenden Frauen und Mädchen (...), dann war ich oft unendlich bewegt, ich lag wach und ließ die Ereignisse, die viel zu vielen Eindrücke eines viel zu langen Tages im Geist an mir vorbeiziehen und dachte: Lass mich dann das denkende Herz dieser Baracke sein!“
In den zwei Jahren vor ihrem Tod, auch noch aus dem Durchgangslager Westerbork heraus, schrieb sie rund 600 eng beschriebene und schwer leserliche Seiten Tagebücher und Briefe. Das Überraschende an ihnen: Sie sind nicht in erster Linie Zeugnis von Leid, Trauer oder Wut. Natürlich auch das. Aber noch mehr zeugen sie von einem unbändigen Lebenshunger. Sie zeigen, wie sich die intensive Liebe einer Frau zu einem Mann in eine allgemeine, geradezu ekstatische Menschenliebe wandelt, die am Ende sagt: „Man möchte ein Pflaster auf viele Wunden sein.“ Und sie zeugen von einem wachsenden Kontakt zu etwas, das Etty „der Einfachheit halber Gott nannte“.
Nein, sie war nicht religiös erzogen worden, sondern intellektuell und sehr frei. Traditionelles Judentum spielte keine große Rolle in der Familie. Das Königreich Niederlande war religiös tolerant. Und Ettys Familie gehörte zu einer gutbürgerlichen Elite: Ihr Vater war Gymnasialdirektor, ein Bruder Arzt, der andere ein großes Pianistentalent.
Und Etty? 1914 geboren, bei ihrem Vater zur Schule gegangen, studierte sie später Jura, Slawistik und Psychologie. Immerzu las sie — Rilke, Dostojewski, später Augustinus und die Bibel. 1937 zog sie mit einem pensionierten Buchhalter zusammen und begann eine Liebesbeziehung mit ihm. Doch trotz ihrer vielen Begabungen, Freundschaften und Geliebten nahm sie sich selbst als unsicher wahr und war teilweise depressiv.
Das änderte sich durch „S“: Im Februar 1941 lernt sie den Therapeuten und bekannten Handleser Julius Spier kennen und beginnt im März einer Psychotherapie bei ihm. Der ehemalige jüdische Bankier aus Frankfurt hatte bei C. G. Jung in Zürich eine Lehranalyse gemacht, seine eigene Begabung entdeckt und war in die Niederlande emigriert. Er wird vor allem von Frauen als ein Mann mit magischer, anziehender Persönlichkeit beschrieben.
Für Etty ist die Begegnung lebensverändernd. In den nächsten anderthalb Jahren wächst zwischen ihnen eine Freundschaft, ein Lehrer-Schülerin-Verhältnis und schließlich eine Liebesbeziehung.
Aus heutiger Sicht ist das empörend. Ein (älterer!) Therapeut, der mit einer jungen Patientin eine sexuelle Beziehung eingeht — das klingt nach Abhängigkeitsverhältnis. Jedoch in ihrem Fall — und wir kennen nur Ettys Sicht — scheint die Beziehung in die Freiheit zu führen.
„Liebe ich S? Ja, irrsinnig. Als Mann? Nein, nicht als Mann, sondern als Menschen. Oder vielleicht zieht mich mehr die Wärme, die Liebe, das Streben nach Güte an, das von ihm ausgeht. (…) Es ist schwierig, mit Gott und mit dem Unterleib in gleicher Weise zurechtzukommen.“
Offen, direkt und mit feiner Ironie beschreibt Etty sexuelle Erlebnisse, emotionales Chaos, Selbstzweifel und spirituelle Entwicklung. Zunächst half Spier ihr als Therapeut und Freund, zu sich selbst zu finden und weckte ihre große Gabe zu Selbstversenkung und radikaler Ehrlichkeit.
Er war es, der ihr riet, Tagebuch zu schreiben. Außerdem tägliche Körperübungen und die „buddhistische Viertelstunde“, wie sie es selbstironisch nannte: sich auf den weiten und leeren Raum im Inneren zu fokussieren — und schließlich beten. Beten? Ja. Sie entdeckt, zunächst scheu, dann immer glühender, diesen „allertiefsten und allerreichsten“ Teil in sich, den sie schließlich Gott nennt. Immer unbefangener und direkter spricht sie mit ihm.
Der Naziterror hatte da schon begonnen. Im Mai 1940 kapitulierten die Niederlande vor der deutschen Besatzung. Im selben Jahr begann die Judenverfolgung. Immer dichter und enger wurde das Netz aus Diskriminierung und Gewalt. Etty erkennt früh das „Massenschicksal“ der Juden als unausweichlich. Erst jetzt beginnt sie, ein jüdisches Bewusstsein zu entwickeln.
In gleichem Maße, wie die äußeren Umstände bedrohlicher wurden, festigt sich ihr Inneres. Die Liebe — zunächst zu Julius Spier, die sich immer mehr in eine allgemeine Menschenliebe wandelt — ist ihr seelischer Schutz.
„Man kann es uns recht ungemütlich machen, man kann uns der materiellen Güter berauben, auch der äußeren Bewegungsfreiheit, aber letzten Endes berauben wir uns selbst unserer besten Kräfte durch unsere falsche Einstellung. Weil wir uns verfolgt, erniedrigt und unterdrückt fühlen. Durch unseren Hass. Durch unsere Wichtigtuerei, hinter der sich die Angst verbirgt. (…)
Der Frieden kann nur dann zum echten Frieden werden, irgendwann später, wenn jedes Individuum den Frieden in sich selbst findet und den Hass gegen die Mitmenschen, gleich welcher Rasse oder welchen Volkes, in sich ausrottet, besiegt und zu etwas verwandelt, das kein Hass mehr ist, sondern auf weite Sicht vielleicht sogar zu Liebe werden könnte.“
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„Ich habe eigentlich keine Angst. Nicht weil ich besonders tapfer wäre, sondern in dem Gefühl, dass ich es immer noch mit Menschen zu tun habe und dass ich versuchen will, jede Äußerung zu verstehen, von wem sie auch sei, sofern es mir möglich ist. Und das war wieder ein historischer Moment an diesem Morgen: nicht dass ich von einem unglücklichen Gestapo-Burschen angeschrien wurde, sondern dass ich darüber keineswegs entrüstet war und eher Mitleid mit ihm hatte, sodass ich ihn am liebsten gefragt hätte: War deine Jugend denn so unglücklich, oder hat dein Mädchen dich betrogen? (…)
Verbrecherisch ist nur das System, welches sich dieser Kerle bedient. Und wenn von Ausrotten die Rede ist, dann sollte das Böse im Menschen und nicht der Mensch ausgerottet werden.“
Sie dokumentiert in ihrem Tagebuch auch Leid, Verzweiflung und sogar Hass gegen die deutschen Besatzer. Angeleitet durch Spier, verdrängt und unterdrückt sie die negativen Gefühle nicht. Sondern sie lernt, sie zu akzeptieren und zu klären. Das, so ahnte sie, war eine Vorbereitung auf das Schicksal und den Tod, mit dem sie als Ende der Judenverfolgung rechnete.
„Ich konfrontiere mich mit allem, was mir über den Weg läuft. Daher manchmal dieses bittere Gefühl. Es ist, als wollte ich mit Gewalt gegen alles anrennen, und dann gibt es Beulen und Schrammen. Aber ich bilde mir ein, dass es so sein muss. Ich habe manchmal ein Gefühl, als säße ich in einem höllischen Fegefeuer und würde zu etwas geschmiedet. Zu was? (…)
Aber dann auch wieder das Gefühl, als müssten alle Probleme dieser Zeit im Besonderen und der Menschheit im Allgemeinen ausgerechnet in meinem kleinen Kopf ausgetragen werden.“
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„Das eine Mal ist es ein Hitler, ein andermal meinetwegen ein Iwan der Schreckliche, einmal ist es Resignation, ein andermal sind es Kriege, Pest, Erdbeben oder Hungersnot. Entscheidend ist letzten Endes, wie man das Leiden, das in diesem Leben eine wesentliche Rolle spielt, trägt und erträgt und innerlich verarbeitet und dass man einen Teil seiner Seele unverletzt über alles hinwegrettet.“
Ab Sommer 1942 verschlechtern sich die Lebensbedingungen für die niederländischen Juden dramatisch. Etty bleibt ihrer Menschenliebe treu.
„Das Stück Geschichte, das wir jetzt erleben, kann ich sehr gut ertragen, ohne darunter zusammenzubrechen. Ich sehe genau, was geschieht, und behalte einen klaren Kopf. Manchmal freilich ist es, als legte sich eine Aschenschicht über mein Herz. Und dann kommt es mir vor, als würde mein Gesicht vor meinen Augen welken und vergehen, hinter meinen grauen Zügen taumeln Jahrhunderte nacheinander in einen Abgrund, und dann verschwimmt alles vor meinen Augen, und mein Herz lässt alle Hoffnung fahren.
Es sind nur Augenblicke, gleich darauf habe ich mich wieder in der Gewalt, mein Kopf wird wieder klar, und ich kann meinen Anteil an der Geschichte tragen, ohne darunter zu zerbrechen. Wenn man einmal begonnen hat, an Gottes Hand zu wandern, ja, dann wandert man weiter, das ganze Leben wird zu einer einzigen Wanderung.“
Was ist das für ein Gott, an den ein aufgeweckter Mensch in so einer Zeit glauben kann? Kein allmächtiger, sondern einer, dem Etty helfen und dem sie einen Platz in sich einrichten will durch absolute Bereitschaft und Hingabe. Es ist nicht der Gott der grausamen Religionsgeschichte. Es ist ein Gott der Liebe.
„Eigentlich sind das die einzigen Liebesbriefe, die man schreiben sollte: Liebesbriefe an Gott. Ist es sehr überheblich, wenn ich von mir behaupte, ich hätte zu viel Liebe in mir, um sie nur einem einzigen Menschen geben zu können?“
Im Juli 1942 beginnen die Deportationen. Etty erhält eine Bürostelle beim Judenrat Amsterdam. Dadurch ist sie zunächst geschützt. Doch Judenräte waren eine zwiespältige Einrichtung. Die Nazi-Besatzer hatten sie aufgebaut, um besser an die Strukturen innerhalb der jüdischen Gemeinde heranzukommen. Einige Juden machten mit, auch weil sie hofften, dadurch doch hier und da noch eine Deportation verhindern zu können.
Etty durchschaut das und nennt die Arbeit eine „Hölle“. „Es ist wohl nie wieder gutzumachen, dass ein kleiner Teil der Juden mithilft, die überwiegende Mehrheit abzutransportieren. Die Geschichte wird später ihr Urteil darüber fällen“, schreibt sie. Nach nur zwei Wochen meldet sie sich freiwillig für die Arbeit in der „Sozialen Versorgung der Aussiedler“ im Durchgangslager Westerbork.
„Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgung, die zahllosen Grausamkeiten, all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes. (…) Ich finde das Leben schön und sinnvoll. Jede einzelne Minute.“
Im Lager hilft sie den Schwächsten: Alten, Kranken, Müttern von kleinen Kindern. Auch hier sucht sie sich ruhige Momente und kleine Orte, um weiter zu schreiben: In Briefen auf Packpapier und sogar auf Rückseiten von Denunziationsformularen beschreibt sie ergreifend das Leben im Lager und die Deportationen. Als Angestellte des jüdischen Rats kann sie immer wieder zwischen Westerbork und Amsterdam pendeln.
„Und dann rette sich, wer kann, den anderen beiseite stoßen und ihn ertrinken lassen, das ist alles so unwürdig, und drängeln mag ich auch nicht. Ich gehöre wohl eher zu den Menschen, die lieber noch eine Weile mit zum Himmel erhobenen Augen auf dem Rücken im Ozean treiben und dann in ergebener Gelassenheit versinken.“
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„Es gibt Leute, es gibt sie tatsächlich, die im letzten Augenblick ihre Staubsauger und ihr silbernes Besteck in Sicherheit bringen, statt dich zu bewahren, mein Gott. Und es gibt Menschen, die nur ihren Körper retten wollen, der ja doch nichts anderes mehr ist als eine Behausung für tausend Ängste und Verbitterung. Und sie sagen: Mich sollen sie nicht in ihre Klauen bekommen. Und sie vergessen, dass man in niemandes Klauen ist, wenn man in deinen Armen ist.“
Schon vorher hat sie begonnen, sich allmählich von der persönlichen Beziehung zu Spier zu lösen und unabhängig zu werden. Aus der Liebe zu einem Mann wird immer mehr eine allgemeine Menschenliebe und schließlich eine nahezu ununterbrochene Gotteserfahrung. Ihre Gespräche mit Gott, die sie in ihrem Tagebuch dokumentiert, werden immer inniger.
„Gestern Abend auf dem Rad durch die kalte, dunkle Lairessestraat. Ich wollte, ich könnte wiederholen, was ich halblaut vor mich hinmurmelte: Gott, nimm mich an deine Hand, ich gehe brav mit, ohne mich allzusehr zu sträuben. Ich werde mich nicht entziehen; was in diesem Leben auch auf mich einstürmen mag, werde ich nach besten Kräften verarbeiten. Aber schenke mir ab und zu einen kurzen Augenblick der Ruhe. (…)
Ich gehe überall mit an deiner Hand und will versuchen, nicht ängstlich zu sein. Ich werde versuchen, etwas von der Liebe, der echten Menschenliebe, die in mir ist, auszustrahlen, wo ich auch sein werde. Aber mit dem Wort Menschenliebe soll man nicht prahlen. Man weiß nie, ob man sie besitzt.“
Julius Spier stirbt am 15. September 1942, sie kann an seiner Beerdigung in Amsterdam teilnehmen. In dieser Zeit hätte Etty leicht untertauchen und verschwinden können. Entsprechende Vorschläge ihrer Freunde weist sie von sich. Sie weiß, dass die einfacheren Menschen diese Möglichkeit nicht haben, und will „das Schicksal ihres Volkes“ teilen. Ihre vielen Talente will sie nicht im Exil, sondern bei ihren Mitgefangenen gebrauchen, um ihnen Erleuchtung zu bringen. So kommt es auch.
„Das Elend ist wirklich groß, und dennoch laufe ich oft am Abend, wenn der Tag hinter mir in der Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herzen herauf. Ich kann nichts dafür, es ist nun einmal so, es ist von elementarer Gewalt: Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen — und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen.
Wir dürfen zwar leiden, aber wir dürfen nicht darunter zerbrechen. Und wenn wir unversehrt überleben, körperlich und seelisch unversehrt, aber vor allem seelisch, ohne Verbitterung, ohne Hass, dann haben wir auch das Recht, nach dem Krieg ein Wort mitzureden.“
Am 6. Juni 1943 kommt Etty endgültig nach Westerbork und kehrt nicht mehr zurück. Überlebende des Lagers sprechen später von ihrer „leuchtenden Persönlichkeit“ — bis zuletzt. Auch ihre Eltern und ein Bruder werden nach Westerbork gebracht und von dort, am 7. September 1943, gemeinsam in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo die Eltern sofort umgebracht werden, Etty im November.
Es dauerte fast 40 Jahre, bis der Verleger J. G. Gaarlandt Ettys Tagebücher entziffern ließ und erkannte, was für einen Schatz er da in den Händen hielt:
„Etty Hillesum beschrieb in ihren Tagebüchern nicht nur sich selbst, sondern ebenso die menschlichen Möglichkeiten eines jeden anderen Menschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt.“
Noch im Waggon konnte Etty eine Postkarte schreiben und aus dem Zug werfen. Bauern fanden sie und schickten sie ab. Auf ihr steht:
„(…) ich schlage die Bibel an einer willkürlichen Stelle auf und finde: Der Herr ist meine starke Burg. Ich sitze mitten in einem überfüllten Güterwagen auf meinem Rucksack. Vater, Mutter und Mischa sitzen einige Waggons entfernt. Die Abfahrt kam doch noch recht unerwartet. Ein plötzlicher Befehl für uns aus Den Haag. Singend haben wir dieses Lager verlassen, Vater und Mutter sind tapfer und ruhig. Mischa ebenfalls. Wir werden drei Tage auf der Reise sein (…) Auf Wiedersehen von uns vieren. Etty.“
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Hingabe und Widerstand: Das denkende Herz“ im Zeitpunkt.ch.
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