Am Anfang dieses Essays stand ein verblüffender Verschreiber. Der Autor hatte anstatt „Blühend ist mein Baum“ „Brühend ist mein Baum“ getippt. Nachzuvollziehen ist dieser Fehler allenfalls, weil sowohl das B wie auch das R der Tastatur in Zeigefingernähe liegen. Allerdings wird das R mit dem Mittelfinger geschrieben. Was (oder wer?) ihn da wohl geritten hat? Verdächtig. Offenbar soll er nicht denken, was er denkt. Er sagt es trotzdem.
Nach der Morgenwäsche werfe ich gerne einen Blick durchs Badezimmerfenster auf unseren Kirschbaum. Er blüht das ganze Jahr. Sie haben richtig gelesen. Damit Sie mich nicht für geistesgestört halten, muss ich das erklären.
Frühling
In den ersten Aprilwochen blüht der Kirschbaum ganz konventionell, sozusagen mainstreammäßig, und verwandelt sich in eine florale Braut vor dem Altar des Himmels. Wer schon einmal einen von Hunderttausenden filigraner Blüten geschmückten Kirschbaum gesehen hat, ich meine: wirklich GESEHEN hat, der weiß, dass diese Braut-Metapher eher untertrieben ist.
Später dann bilden sich im Herzen der Blüten winzige grüne Knötchen aus: Hurra, das werden Kirschen, aber noch steht die Blüte im Vordergrund. Doch endlich wölben sich die Kirschen auf wie kleine gelbe und schließlich rote Ballons am Blütenstiel, durch den der Baum wie durch eine Miniatur-Nabelschnur alle Nährstoffe in die Frucht eingespeist hat, die wir so lieben — ein schier unbewältigbares Schlaraffenland.
Sommer
Im Hochsommer sind alle Blüten- und Fruchtreste verschwunden. Jetzt wirkt der Kirschbaum prall und stattlich, voll berechtigtem Stolz auf seine Leistung. Jetzt holt er sich an Licht, Nährstoffen und Wasser all die Nahrung in die Wurzeln, die er braucht, um im nächsten Jahr erneut dieses Fruchtwunder zu vollbringen. Er steht in der Blüte seiner Kraft.
Die Schönheit der kleinen Blüten hat sich in die Pracht eines dicht belaubten, gesunden Baumes verwandelt, ein Prachtbursche. Und mit jedem neuen Morgenblick klopfe ich ihm quasi auf die Schulter und murmle: „Gut gemacht, Kumpel.“ Nicht, dass er das bräuchte, aber schätzen wir nicht alle eine Ermunterung? Warum sollte das bei ihm anders sein?
Herbst und Winter
Im Herbst wird er still und zieht sich zurück, ein sanfter Riese. Monate haben Vögel in ihm gelärmt, Eichhörnchen sind auf seinen Ästen und Zweigen herumgeturnt, Käfer und Raupen auf ihm herumgelaufen. Jetzt will er seine Ruhe haben. Ich kann das gut verstehen; es gibt Tage, da fühle ich so einen Herbst auch selbst, manchmal schon im Frühjahr; mir fehlt einfach diese bewundernswerte Baumgeduld.
Und die Blüten? Wo sind die im Herbst? Ihr Bild ist nach innen gewandert bis zum Grund, in ihn und in mich hinein, weil so jede Blütenerinnerung eine neue Blüte gebiert. Ich bin ihm dankbar, dass seine Pracht nur zwei, drei Wochen währt. Andernfalls wäre diese Menge an Schönheit schwer zu ertragen.
So aber zehre ich noch Monate später davon, Schönheits-Häppchen all die düsteren Herbstwochen und die ungemütlichen Wintertage hindurch. Und spätestens im Januar, wenn wir miteinander Blicke wechseln, der Baum und ich, dann liegt Hoffnung in der Luft, ganz egal, wie unvernünftig oder dumm sich die Menschen benehmen.
Mein Kirschbaum ist jetzt in sich gekehrt, ganz Innerlichkeit und Konzentration, ganz Vorbereitung. In dunklen Nächten habe ich ihn im Zwiegespräch mit den Sternen beobachtet und vermute, dass er von dort ein Stück seiner Kraft bezieht, die er mir dann Morgen für Morgen in menschenfähigen Blütenportionen freundlich herüberreicht und mir so den neuen Tag versüßt.
Frühling
Und während die Menschen ringsum plappernd in Belanglosigkeiten baden, manchmal gut und öfter noch bös zueinander sind — immer aber eitel, obwohl blütenlos —, während sie der Welt ihre ausgedachten Werte überstülpen oder nach dem Zweck des Lebens trachten und nach seinem tieferen Sinn suchen, steht er in schmunzelnder Stille nebenan, weiß um den eigenen Sinn und hört zu, denkt sich sein Teil und bereitet Hunderttausende Knospen für die kommenden Blüten und Blätter. „Was für ein Vorbild du bist“, raune ich ihm zu, „von dir können wir uns eine dicke Scheibe abschneiden.“
Als dann schließlich die Knospen schwellen, von Morgen zu Morgen mehr und allen Widrigkeiten — Kälte und Sturmböen, Regengüssen und trockenen Wochen — zum Trotz; als er in seinem geheimen Boden-Atelier schon alle weißen Farbtuben öffnet, um seine Blüten zu betupfen und sich auch in mir die beinahe schon vergessene Freude über die Pracht vom letzten Jahr neu entpuppt, da stehe ich eines Morgens — der Himmel ist wolkenlos veilchenblau und das Morgenkonzert der Vögel in vollem Gange — und blicke zu ihm hinüber und entdecke oben in seinem Wipfel, wie er die ersten weißen Blüten gen Süden öffnet: Ah, die Braut schmückt sich erneut. Blüte für Blüte bereitet sich die Freude darüber vor, dass das Leben weitergeht, die Erde sich weiterdreht um ihren leuchtenden Gemahl.
Geschenk und Gabe
Was kann ich dafür geben, welche Gabe kann einem solchen Geschenk angemessen sein? In meiner Hilflosigkeit könnte ich ihm ein paar Zeilen widmen, immerhin mehr als diesen rasch hingeworfenen Menschen-Morgen-Gruß.
Ich weiß: Das ist nichts im Vergleich zu dem, was er mir schenkt, und ich entschuldige mich. Darauf, so antwortet er mir, komme es doch gar nicht an. Geschenke würden nicht nach Gewicht, sondern nach dem Grad und Ausdruck von Verbundenheit zählen. Und überhaupt, sagt er, stehe, blühe und fruchte er ja nicht allein.
„Ohne diese Wiese und die Erde unter mir, ohne die Insekten und den mich befruchtenden Wind, ohne den Himmel und das Licht, das du und ich Morgen für Morgen teilen, wäre auch ich nichts weiter als ein banales Stück Holz.“

Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.