von Sophia Alt
Anarchie zum Frühstück
1. Mai 2020
Es ist der Morgen des 1. Mai 2020. Der Himmel ist bewölkt und Wind zerrt an den zartgrünen Blättern der Esche vor dem Küchenfenster. Wir sind gerade erst aufgestanden und ich habe noch den salzigen Geschmack deines Körpers im Mund, spüre die Berührung deiner Hände auf meiner Haut und fühle mich wach und entspannt, voll und leer zur gleichen Zeit.
Du hast Wasser aufgesetzt und ich schaue den Molekülen bei ihrem immer schneller werdenden Tanz miteinander zu; freue mich über die kleinen Blubberbläschen, die an die Oberfläche steigen, sie aufwühlen. Ich brühe den Kaffee auf, den ich mit Zimt und Kardamom gewürzt habe, gebe dir einen Kuss und decke den Tisch.
„Willst du heute demonstrieren gehen?“, fragst du mich, während du unsere Tassen füllst und ich überlege.
„Ich weiß nicht“, sage ich. „Meine letzte Demo ist locker vier Jahre her. Ich habe nicht das Gefühl, dass das etwas bringt. Willst du?“
Du zuckst mit den Schultern und trinkst einen Schluck Kaffee. „Weiß auch nicht“, sagst du schließlich. „Ich will nicht, dass wir uns an all das gewöhnen.“
Seit über einen Monat befinden wir uns im Lock-Down, im Krieg gegen das Killervirus Corona, wie der französische Präsident Macron es nennt.
„Verstehe ich“, sage ich. „An manchen Tagen vergesse ich es. Ich mache meine Sachen, gehe spazieren, schreibe. Und dann will ich Brötchen kaufen und darf ohne Mundschutz die Bäckerei nicht betreten; treffe Freunde auf der Straße, die zurückschrecken, wenn ich sie aus Gewohnheit umarmen will; verschweige den Osterbesuch meiner Mutter.“
Du nickst. „Es ist wirklich seltsam. Und ich habe das Gefühl, so langsam hören die Meisten auf, sich aus den vielen widersprüchlichen Aussagen eine eigene Meinung bilden zu wollen. Sie warten nur noch darauf, dass man es ihnen wieder gestattet, frei zu sein.“
Ich schüttele den Kopf, gieße mir etwas Milch in meinen Kaffee und genieße dann den ersten Schluck dieser wundervollen Droge, die meine Gedanken dazu bringt, in Siebenmeilenstiefeln vom Hölzchen aufs Stöckchen zu kommen.
„Ist das denn noch Freiheit, wenn sie von der Erlaubnis anderer Menschen abhängt?“, frage ich dich und erfreue mich an einem Sonnenstrahl, der durch die Wolkendecke und durch das verstaubte Fenster in die Küche hineinbricht und deine linke Schläfe streift. Deine Stirn wirft sich in Falten, und deine kristallblauen Augen blicken nach oben und wandern auf der Suche nach den richtigen Worten für deine Gedanken hin und her. Schließlich bleiben sie stehen und du schaust mich an.
„Nein“, sagst du entschieden. „Freiheit bedeutet innere Souveränität und äußere Anarchie.“
„Das verstehe ich nicht“, sage ich. „Wie meinst du das?“
Du trinkst noch einen Schluck Kaffee, ich greife nach einer Packung Tabak und rolle die braunen Krümel im dünnen Papier zu einer Zigarette. Ich rauche und du erklärst: „Ich glaube, im Grunde gibt es zwei Bewusstseinszustände: Liebe im Sinne von Offenheit, Neugier und der Suche nach Wahrheit – und Angst. Während Liebe dazu führt, dass wir ein tieferes Verständnis unserer Selbst und der Welt entwickeln und uns im Inneren souverän fühlen, verwirrt Angst.“
Ich nicke, reiche dir die Zigarette und betrachte den Rauch, den du aus deiner Lunge bläst. Die Schwaden wabern träge über dem hölzernen Küchentisch und ich denke an die vielen Artikel, die ich in den letzten Wochen gelesen, die Diskussionen, die ich geführt habe und die Fragen, die mit seither den Kopf verdrehen: Warum hat das Virus in den Medien von Anfang an so viel Raum bekommen, während die Grippewelle im vergangenen Jahr unbeachtet blieb? Ist der Lock-Down im Hinblick auf die langfristigen gesellschaftlichen Folgen verhältnismäßig? Und stimmt etwas mit mir nicht, weil ich mir diese Fragen stelle?
„Wenn wir Angst haben, dann fühlen wir uns überfordert, der Welt nicht gewachsen. Die innere Souveränität bröckelt und das löst das Verlangen nach äußerer Kontrolle aus; nach einer Instanz, die uns unmissverständlich sagt, was falsch und was richtig ist. Damit verengt Angst das Bewusstsein und führt zu dieser abwartenden Passivität, die sich gerade auch bei uns breitmacht.“
Ich überlege, greife nach der fast aufgerauchten Zigarette in deiner Hand und unsere Blicke treffen sich. Klar bist du, und ruhig, und lächelst mich an. Ich liebe es, wie annehmend du deiner, meiner, der menschlichen Schwäche gegenüber bist, ohne dich darin zu suhlen. Wir verweilen einen Augenblick ineinander, dann lösen wir uns.
„Ist übrigens nicht von mir“, sagst du. „Hab‘ ich von Mark Passio.“
„Ist spannend“, sage ich. „Aber was hat das jetzt mit Anarchie zu tun?“
„Naja“, antwortest du, gehst zum Küchenschrank und holst zwei Äpfel, die du aufschneidest.
„Der Zustand einer Gesellschaft lässt unmittelbar schließen auf das Bewusstsein ihrer Mitglieder. Wenn die Menschen in Liebe sind, dann suchen sie selber aktiv nach der Wahrheit. Sie fragen und hinterfragen, akzeptieren und verwerfen — und das aus Spaß an der Freude etwas zu begreifen und den eigenen Horizont zu erweitern. Geht man jetzt davon aus, dass Wahrheit nichts Relatives ist, sondern von jedem, der sich die Mühe macht, erfasst werden kann, dann werden diejenigen, die sich für sie öffnen, zu ähnlichen Erkenntnissen gelangen und ähnliche Wertevorstellungen entwickeln.
In einer solchen Gesellschaft braucht es keinen Druck von Außen, damit Menschen sich moralisch verhalten. Sie tun es freiwillig und aus einer inneren Ordnung und Souveränität heraus. Und so entsteht eine kultivierte Anarchie, die die Freiheit und Eigenverantwortung des Individuums anerkennt und seine Menschenwürde fördert.“
Du schiebst den Teller mit den Apfelstückchen in die Mitte des Küchentischs, nimmst dir eines und beißt in das weiße, saftige Fruchtfleisch. Ich mag es, dir beim Denken zuzuhören und kitzele dich unter dem Küchentisch mit meinen blau lackierten Fußzehen.
„Weiter“, fordere ich dich auf.
„Sind die Mitglieder einer Gesellschaft dagegen in einem Zustand der Angst und Verwirrung, dann passiert im Grunde genau das Gegenteil: Die Menschen glauben nicht daran, die Wahrheit erkennen zu können und misstrauen ihren eigenen Erkenntnissen und moralischen Empfindungen. Im Inneren herrscht eine destruktive, unkultivierte Anarchie, die nach äußerer Kontrolle schreit. Diese Kontrolle kann religiöser, staatlicher oder kultureller Natur sein, das ist dann egal. Wichtig ist nur, dass sie fortan das Verhalten des Individuums diktiert und das Individuum sich ihr dankbar unterordnet. Jegliche Kritik an dieser Kontroll-Instanz wird dann als ein direkter Angriff auf das eigene Sein wahrgenommen und muss vehement abgewehrt werden — selbst wenn es bedeutet, Wahrheit zu verleugnen.“
Ich nehme mir ein Apfelstück und kaue, um deine Worte zu verdauen. Ich denke an meine eigene Unsicherheit, wenn ich in den letzten Wochen draußen war; die Angst davor, aus Versehen unsichtbare und von Viren verseuchte Tröpfchen zu verbreiten und dadurch vielleicht eine Altenpflegerin anzustecken, die dann wiederum Risikopatienten infiziert. Ich will keine indirekte Mörderin sein und gleichzeitig bereitet es mir Unbehagen, dabei zuzuschauen, wie Grundrechte auf unbestimmte Dauer eingeschränkt werden. Irgendetwas daran fühlt sich nicht richtig an.
„Was genau ist das denn für eine Demo heute?“, frage ich.
Du greifst nach deinem Handy und liest vor: „Der Demokratische Widerstand tritt ein für Verfassung, Grundrechte und transparente Gestaltung der neuen Wirtschaftsregeln durch die Menschen selbst. Ab fünfzehn Uhr dreißig auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Mit Zwei-Meter-Abstand, Mundschutz und Grundgesetz.“
Ich trinke meinen Kaffee leer, schaue dich an und zwinkere dir abenteuerlustig zu. „In Ordnung, du kultivierter Anarchist. Dann lass uns doch nachher demonstrieren gehen.“
Die Sonne scheint, als wir am Alexanderplatz ankommen. Du trägst eine schwarze Sturmhaube und ich habe mir einen roten Schal umgewickelt, um Mund und Nase zu verdecken, so wie es mittlerweile Pflicht ist. Wir verlassen die S-Bahn-Station in Richtung Rosa-Luxemburg Platz und versuchen, die angekündigte Demonstration zu finden. Über uns, am blauen, wolkengetupften Himmel, kreisen Polizeihubschrauber. Ich greife nach deiner Hand und du umschließt meine fest.
„Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei“, ertönt es aus einer Seitenstraße und wir folgen der blechernen Frauenstimme aus dem Lautsprecher. „Wir weisen darauf hin, dass Versammlungen mit bis zu zwanzig Teilnehmern nur mit Ausnahmegenehmigung stattfinden dürfen. Diese liegt nicht vor. Daher wird hier keine Versammlung stattfinden.“
Ich schaue mich um. Den Eindruck einer Versammlung erwecken die einzeln auf der Straße stehenden Menschen nicht. Es gibt weder Redner, noch Sprechchöre, nicht einmal Plakate fallen mir auf den ersten Blick auf.
„Diese Reglementierung dient dazu, die Ausbreitung des Corona-Virus zu reduzieren. Wir fordern Sie daher auf, diese Ansammlung zu beenden und sich einzeln, maximal zu zweit, von diesem Ort zu entfernen. Halten Sie hierbei einen Abstand von einem Meter fünfzig zueinander ein. Ich weiße Sie darauf hin, dass Sie mit Ihrem weiteren Verbleib eine Straftat nach dem Infektionsschutzgesetz in Verbindung mit der Eindämmungsmaßnahme des Senats begehen. Meine Kollegen werden Sie jetzt ansprechen und Anzeigen gegen Sie fertigen. Ende der Durchsage. Uhrzeit: Fünfzehn Uhr dreiundfünfzig.“
Einige Leute johlen, doch die meisten stehen einfach nur stumm und mit verschränkten Armen da. Viele halten ein weißes Grundgesetz mit schwarz-rot-goldener Fahne und dem Bundesadler darauf in der Hand. Wir stehen nah beieinander und können beobachten, wie uniformierte Polizisten beginnen, die ersten Passanten anzusprechen.
„Und jetzt?“, will ich wissen. „Hast du Bock auf ‘ne Anzeige?“
Du schüttelst den Kopf. „Nee. Das Geld spende ich lieber unabhängigen Journalistinnen wie Lilian Franck. Ich habe neulich eine Doku von ihr gesehen, in der sie die Verbindungen der WHO zur Nuklear-, Tabak- und Pharmaindustrie aufdröselt. Tolle Frau! Jetzt ist sie dran an einer Doku über Corona und hat ein Crowdfunding-Projekt gestartet.“
„Klingt gut“, sage ich. „Aber jetzt einfach wieder nach Hause gehen ist doch auch irgendwie scheiße, oder? Wir können ja mal abwarten, was die Polizisten sagen.“
Du zuckst mit den Schultern und nickst.
„Haben Sie die Durchsage gehört?“, spricht uns wenige Minuten später ein vielleicht Anfang-zwanzigjähriger-Beamter mit dunklem Oberlippenflaum an.
Wir bejahen.
„Dann gehen Sie jetzt bitte!“, fordert der Polizist uns auf.
Ich schaue dich an und deine Ruhe macht mir Mut. „Warum?“, frage ich den Polizisten. „Wir stehen doch einfach nur hier rum. Wir tragen einen Mundschutz und halten Abstand. Ich verstehe nicht, wie wir dadurch die Verbreitung des Virus fördern.“
Der Polizist schüttelt den Kopf. „Mit Ihrem weiteren Verbleib an diesem Ort begehen Sie eine Straftat. Wollen Sie das? Wenn nicht, dann fordere ich Sie jetzt noch einmal höflich dazu auf, zu gehen.“
Ich ziehe scharf Luft durch die Nase ein und atme geräuschvoll wieder aus. Ich hasse es, keine Antwort auf Fragen zu bekommen. Mit deinem Daumen streichelst du über meinen Handrücken.
„Wenn wir jetzt gehen“, lenkst du ein, „dann ist Ihnen aber schon bewusst, dass wir das nicht tun, weil Sie uns mit logischen Argumenten überzeugen, oder? Wir gehen, weil Sie uns drohen.“
Der junge Beamte schaut sich hilfesuchend nach einem Kollegen um. Ein älterer Polizist mit gestutztem, grauem Bart kommt zu uns. „Das Gespräch dauert aber lange“, schaltet er sich ein. „Gibt es Probleme?“ Sein Blick bohrt sich in mich hinein. Mein Herz klopft und du drückst meine Hand. „Nein“, sagst du. „Wir gehen schon.“
Ein paar Meter weiter bleiben wir erneut in einer Seitenstraße stehen. Noch immer finde ich es schwer zu begreifen, was gerade passiert. Ich betrachte ein älteres Paar; sie mit tailliertem Trenchcoat, geradem Rücken, hohen Wangenknochen und einer markanten Adlernase; er mit buschigen, weißen, zusammengezogenen Augenbrauen und in den Hosentaschen vergrabenen Händen. „Sind das besorgte Bürger?“, frage ich mich und schaue mich weiter um.
Ein junger Mann mit Lockenkopf und Sonnenbrille schiebt mit einer Hand sein Rennrad durch die Menge und hält mit der anderen ein Smartphone in die Luft und filmt. Ein Besoffener rezitiert mit heiser gebrüllter Stimme das Grundgesetz. Keiner scheint so recht zu wissen, was er hier tun soll, doch einfach so und unverrichteter Dinge gehen, das möchte auch niemand.
„Weitergehen!“, eine ganze Wand aus Polizisten betritt die Seitenstraße. Sie tragen weiße Mundschutz-Masken mit Belüftung und haben ihre Helme unter die Arme geklemmt. In ihren Gürteln stecken Pistolen. Die Polizisten sehen aus wie eine Armee von Darth Vaders und ich fühle mich wie Vieh, das vorangetrieben wird. Aus meiner Ohnmacht heraus werde ich wütend und während du dir eine kostenlose Zeitung holst, drehe ich mich um und gehe mit dem Grundgesetz in der Hand auf einen der Beamten zu.
„Können Sie mir einen Gefallen tun?“, frage ich ihn und ärgere mich, dass ich mich vorher nicht über die Rechtsgrundlage der Eindämmungsmaßnahmen informiert habe. „Wo im Grundgesetz steht das mit dem Infektionsschutzgesetz denn?“
Der Beamte, von dem ich nur die grünen Augen, die gewölbte Stirn und den kurzgeschorenen Schädel sehe, stiert mich an. „Weitergehen!“, blafft er noch einmal. Ich stiere zurück. Plötzlich packt er mich am linken Arm, ein weiterer seiner Kollegen am rechten. „Das reicht jetzt! Sie sind festgenommen!“
Für einen Augenblick wird mir schwindelig und ich spüre, wie sich mir dir Brust verengt. Mir steigen Tränen in die Augen und ich blicke mich nach dir um. Du siehst mich, doch ich werde weitergezogen, während man dich zurückhält. Ich bin ausgeliefert.
„Mein Geldbeutel ... Mein Personalausweis“, stammele ich. „Das hat alles mein Freund. Können wir nochmal kurz zurück?“
Weder der eine, noch der andere Beamte antwortet mir. Ich spüre das Blitzlicht von Kameras auf mir, Applaus und Buh-Rufe und setze ein stolzes Gesicht auf. „Gut, dass ich mich vorhin noch geschminkt habe“, denke ich. „Wenn schon verhaftet werden, dann wenigstens mit Stil.“
Fortan bin ich ruhig. „Können Sie verstehen, dass mich Ihr Schweigen gerade verunsichert?“, frage ich die Polizisten. „Wo bringen Sie mich denn jetzt hin und was passiert weiter? Es wäre wirklich wichtig für mich, die nächsten Schritte zu verstehen.“
Der Griff um meinen linken Arm lockert sich. Ich werden von den beiden Beamten gemustert und dann sagt der, der mich zuerst gepackt hat: „Sie kommen jetzt in die Bearbeitungsstraße. Da nehmen wir Ihre Personalien auf und fertigen eine Anzeige. Danach bekommen Sie einen Platzverweis und dürfen sich entfernen.“
Ich nicke und bin erleichtert, dass ich nicht aufs Revier muss. „Und wie wollen Sie meine Personalien aufnehmen?“, frage ich. „Ich hab‘ doch versucht Ihnen zu sagen, dass alle meine Dokumente bei meinem Freund im Rucksack sind.“ „Keine Sorge“, antwortet der Beamte zu meiner rechten. „Da haben wir andere Methoden.“
In der sogenannten Bearbeitungsstraße reihen wir uns ein in eine lange Schlange voll Festgenommener. Jeder hat mindestens einen Freund und Helfer an seiner Seite, Sicherheitsabstand spielt keine Rolle. Vor mir steht ein kleiner, dicker Vietnamese und redet mit ausladenden Handbewegungen auf seinen Beamten ein:
„Können Sie denn nachvollziehen, dass die mediale Berichterstattung mich skeptisch macht? Da wurde von Anfang mit hochspekulativen Zahlen gearbeitet und Angst geschürt. Ich meine, schauen Sie doch mal in die Geschichte. Bekommen Sie da keine Befürchtungen, dass man dieses Virus jetzt nutzt, um Gesetze durchzubringen, über die man sonst viel länger diskutieren müsste? Denken Sie an 9/11 und die danach eingeführten Überwachungsmaßnahmen!“
Der Beamte an seiner Seite steht breitbeinig da, schaut demonstrativ nach vorne und ich kann sehen, dass er die Augen verdreht.
„Kannst du mal den Schnabel halten?“, fragt er den Vietnamesen und sein abwertender Tonfall macht mich wütend.
Doch der Vietnamese lässt sich nicht beirren. „Jetzt entschuldigen Sie bitte mal. Ich habe laut Grundgesetz, Artikel 5 das Anrecht meine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Übrigens steht mir laut dieses Artikels auch das Recht zu, mich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Meinen Sie, es ist ein Zufall, dass kritische arte-Dokus auf YouTube immer wieder gelöscht werden?“
Ich nicke zustimmend und erneut schwirrt mir der Begriff des besorgten Bürgers im Kopf herum. Bin ich jetzt eine von denen?
„Mischen Sie sich nicht in diese Diskussion ein“, weist mein Begleiter mich an. „Sonst handeln Sie sich noch mehr Ärger ein.“
Ich seufze und schaue mir den Polizisten an meiner Seite das erste Mal richtig an. Er ist breit und stämmig, hat eine spitze Nase und geschwungene Augenbrauen. Vielleicht hat er türkische Wurzeln.
„Ich will keinen Ärger mit Ihnen“, sage ich. „Dürfte ich Sie trotzdem auf etwas hinweisen?“
Der Polizist schaut mir in die Augen, dann nickt er.
„Ich mache mir ähnliche Gedanken wie mein Vordermann. Und wenn darauf mit Ignoranz und Abwertung reagiert wird, dann fühle ich mich nicht gesehen. Ich glaube, weder Sie noch ich haben ein Interesse daran, dass die Gräben in unserer Demokratie tiefer werden und das Vertrauen ins System weiter schwindet. Aber dann müssen wir miteinander sprechen.“
Der Polizist runzelt die Stirn. „Das ist nicht mein Job“, sagt er und fortan schweigen wir.
Nach mehr als einer Stunde sind meine Personalien aufgenommen und geprüft und eine Anzeige gefertigt worden. Ich kann gehen und fühle mich verloren. Die Strahlen der Abendsonne reichen nicht, um zu wärmen; ich habe weder mein Telefon, noch Geld bei mir und weiß nicht, wo du bist. Aus dem Bauch heraus versuche ich zu bestimmen, ob ich zu dir nach Hause fahren oder dich am Alex suchen sollte und laufe durch mir unbekannte Straßen am Stasi-Unterlagen Archiv vorbei.
Ich frage mich, was es bedeutet, dass ich nun aktenkundig bin und ermahne mich selbst, keine voreiligen Vergleiche zu ziehen. An mir rauschen Autos und Menschen vorbei und je näher ich der S-Bahn-Haltestelle komme, desto unwirklicher erscheint mir, was ich gerade erlebt habe. Ich schnorre mir Geld für ein Ticket zusammen, eine Anzeige genügt mir, und steige in die Bahn. Mit mir zusammen steigt eine junge Frau mit langen Dreadlocks ein. Sie trägt eine Gitarre bei sich und einen selbstgenähten Mundschutz mit Herzen und Peace-Zeichen.
Ich lasse mich auf einen der Sitze sinken, lehne meinen Hinterkopf gegen die Scheibe und schließe die Augen. Ich träume von einer warmen Dusche und einer deiner liebevollen Umarmungen, die meine innere Erstarrung löst, mich erdet und erhebet zur gleichen Zeit. Hoffentlich wartest du Zuhause auf mich.
Sophia Alt, Jahrgang 1994, hat in Magdeburg Philosophie und Neurowissenschaften studiert und sich in ihrer Bachelorarbeit mit der wahrnehmungsverändernden Wirkung von Literatur befasst. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und ist mehrfache Preisträgerin des Ovag-Jugendliteraturpreises. In ihrem aktuellen Projekt „Das Land hinter der Mauer“ setzt sie sich literarisch mit der friedlichen Revolution und ihrer Auswirkung auf Stasi-Familien auseinander. Mehr Infos zur Autorin auf gedanken-haeppchen.
Das Corona-Tagebuch im Überblick:
Teil 1: Katrin McClean, Corona-Tagebuch
Teil 2: Roland Rottenfußer, Der letzte freie Tag
Teil 3: Isabelle Krötsch, Corona-Tagebuch
Teil 4: Kerstin Chavent, An das Mögliche glauben
Teil 5: Anonym, Meine Mutter und die Isolation
Teil 6: Gabriele Herb, Aufruf zur Wachsamkeit!
Teil 7: Paul Löber, Spanienbericht
Teil 8: Liselotte Korfmacher-Finke, DemokratInnen unerwünscht
Teil 9: Michael Bock, Sind wir bereit, uns zu verändern?
Teil 10: Oliver Märtens, Corona-Tagebuch
Teil 11: Dirk Hüther, Gehen, Sehen, Handeln!Teil
Teil 12: Doris Röschmann, Jenseits von richtig und falsch
Teil 13: Mathilda Libertad, Irgendnirgendsicherwo
Teil 14: Heidemarie Weber, Corona-Tagebuch
Teil 15: Daniela Wolter, Corona-Tagebuch
Teil 16: Thomas Hochschild, Corona-Tagebuch
Teil 17: Wolf Schneider, Hausarrest
Teil 18: Jitka Nickel, Kopfcorona — das Trauma sickert ein
Teil 19: Heike Wentland, Corona-Tagebuch
Teil 20: Michael Bock, Die fast perfekte Show & Eine Frage an die Liebe
Teil 21: Dijana Ilic, Eine Antwort auf die Frage : Mama, wo warst Du?
Teil 22: Anna Köppel, Nicht in meinem Namen
Teil 23: Ines Maas, Was soll ich tun?
Teil 24: Helene Bellis, Wie ich auszog, die verrückt gewordene Welt zu retten
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