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Das betäubte Selbst

Das betäubte Selbst

Um unsere Gefühle nicht spüren zu müssen, setzen wir uns der permanenten Ablenkung durch äußere Reize aus.

Seit einigen Jahren schon sieht — oder vielmehr hört — man sie immer mehr: Menschen, die mit ihren portablen Bluetooth-Lautsprechern im Rucksack oder in der Hand durch die Stadt oder auch durch den Wald gehen, ihre Musik laut aufgedreht. Damit beschallen sie die ganze Umgebung und lassen andere an ihrem oft fragwürdigen Musikgeschmack teilhaben, ob diese wollen oder nicht. Diese Form der auditiven Belästigung ist beinahe schon zu einer Plage geworden. Rücksichtslos und ignorant nötigen solche Menschen allen in ihrer Umgebung Lärm auf. Auffällig dabei ist, dass hauptsächlich elektronische oder Rapmusik erschallt sowie grölende Punkmusik, wenn man es mit dem entsprechenden Milieu zu tun hat. Nie hört man beispielsweise Klassik oder Jazz.

Wesentlich größer ist jedoch die Menge der Menschen, die Kopfhörer aufsetzen und ihre Musik — immerhin leise und für sich — hören. Das Lästige daran: Oft nehmen sie ihre Umgebung überhaupt nicht wahr, hören beispielsweise nicht das Klingeln eines Fahrradfahrers oder bekommen nicht mit, wenn sie angesprochen werden. Das Smartphone, über das die Musik im Allgemeinen gehört wird, hat im öffentlichen Raum generell massiv an Präsenz gewonnen. Kaum jemand, der nicht sein vermeintlich schlaues Telefon in der Hand hält; nicht wenige starren selbst beim Gehen, manchmal auch beim Radfahren auf das Display und übersehen dann nicht selten andere Menschen. Hinzu kommt, dass vor allem Jugendliche ihre Begeisterung für soziale Netzwerke in der Öffentlichkeit ausleben müssen. So drehen sie YouTube-Shorts oder TikTok-Videos, machen Fotos für ihr Instagram-Profil, um sich auf diese Weise selbst zu inszenieren und ihre Bestätigung durch Likes und Klicks zu erhalten.

Nicht wenige Menschen nehmen ihr Smartphone überall mit hin, sogar in den privatesten Rückzugbereich des stillen Örtchens — mit einem entsprechenden Unfallpotenzial, denn es kommt vor, dass das Gerät in die Toilettenschüssel fällt und, wenn es nicht wasserdicht ist, durch einen Kurzschluss unbrauchbar wird.

So groß also ist die Abhängigkeit, dass nicht für einen kurzen Augenblick auf das Gerät verzichtet werden kann.

Vor allem junge Menschen verbringen immer mehr Zeit in digitalen Welten. Sie surfen in sozialen Netzwerken, scrollen stundenlang durch Videos, die absolut keinen Mehrwert haben, sondern in denen sich irgendwelche unbekannten Menschen darstellen und inszenieren sowie Einblicke in ihr extrem langweiliges Leben oder ihre banalen und belanglosen Gedanken geben. Sie spielen Spiele auf dem Handy, versinken in den Parallelwelten von Streamingdiensten oder liefern sich Kommentarschlachten auf X.

All diese Dinge haben eins gemein: Sie sind eine riesige Ablenkungsmaschinerie. Sie bombardieren die Menschen dauerhaft und beinahe ohne Unterbrechung mit äußeren Reizen, die das Gehirn beschäftigen. Die Aufmerksamkeit der solchermaßen sich ablenkenden Menschen ist also ständig nach außen gerichtet, auf äußere Reize, auf etwas, das andere tun. Diese Reize lenken ab von der Welt im Inneren der Menschen. Sie führen weg von den eigenen Fähigkeiten, von dem, was aus dem eigenen Inneren kommt. Es ist eine Ablenkung vom eigenen Erleben der Wirklichkeit, sogar von der Wirklichkeit selbst. Denn das, was in diesen digitalen Welten dargestellt wird, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Es ist eine Scheinwelt, die durch geschickte Inszenierung entsteht und die Realität nicht widerspiegelt, eine Gesellschaft des Spektakels, wie Guy Debord sie schon 1968 in seinem gleichnamigen Werk beschrieben hat.

So werden viele Videos und Fotos erstellt, in denen hässliche oder unangenehme Dinge ausgeblendet wurden. Oftmals wird ein Szenario erschaffen. So stellen sich viele Influencer als reich und erfolgreich dar. Forscht man aber etwas genauer, dann kann es durchaus sein, dass das überhaupt nicht der Wirklichkeit entspricht. Die teure Wohnung etwa, in der Foto und Videos gemacht wurden, war gar nicht die eigene, das tolle Auto, vor dem man sich in Szene setzte wurde möglicherweise nur zufällig irgendwo stehend gesehen und befindet sich in fremdem Eigentum. Hier wird eine Scheinrealität erschaffen, die dann wiederum von den Konsumenten am anderen Ende für real gehalten wird. Diese versinken dann im Vergleich mit dem scheinbar makellosen Leben anderer in Depressionen.

Der Drang zur Flucht in diese Welten ist so ausgeprägt, dass sie ständig und überall stattfinden muss. Sei es in der Öffentlichkeit beim Spazierengehen, beim Einkaufen, in Bus und Bahn oder eben auf der Toilette — immer mehr Menschen scheinen immer weniger Zeit ohne diese Ablenkungen auszuhalten.

Da stellt sich die Frage, warum immer mehr Menschen sich in solche virtuellen Welten flüchten müssen. Die naheliegende Antwort ist, dass sie vor ihrem eigenen Leben fliehen.

In einer Welt, die immer weniger Lebenssinn zu bieten hat, weil der Mensch im Angesicht der kapitalistischen Maschinerie seine höhere Bedeutung verloren hat und nur noch als Zahnrad im Getriebe eine Funktion ausfüllt, ist das Dasein auf die reine Belanglosigkeit im Wirtschafts- und Arbeitsleben reduziert. Eine höhere Bedeutung, einen Sinn im Leben verspüren die wenigsten. Unter diesem Eindruck wachsen schon Kinder und Jugendliche auf. Trotz aller optimistisch zur Schau gestellten Freude über den eigenen Lebensweg und begeisterte Bekundungen, sich in die Arbeitsfront einzureihen, verspüren doch die meisten Menschen, dass all das keinen tieferen Sinn hat und sie nicht ausfüllt.

Da ist die Flucht in digitale Welten naheliegend. Statt klein und unbedeutend zu sein, das Leben nicht mit eigenen Vorstellungen ausfüllen zu können, konsumiert man ein Surrogat der Bedeutung über den Umweg der Serien- und Filmfiguren oder der Influencer, die man sich anschaut. Mit ihnen kann man Abenteuer erleben, die Größe und Bedeutung dieser Erlebnisse spüren und Emotionen durchleben, die man im wahren Leben nicht mehr wahrnehmen kann oder will. Das deutet auf eine vollkommen entwurzelte, verzweifelte Generation hin.

Auch Traumata spielen hierbei eine wichtige Rolle. Der Konsum kann eine Trauma-Überlebensstrategie sein, die von den eigenen Gefühlen ablenkt. Denn Traumata entstehen aus einem Erleben von Hilf- und Machtlosigkeit, oft in früher Kindheit oder sogar noch vor der Geburt. Menschen, die solche Situationen erfahren, müssen Teile von sich selbst abspalten, um psychisch überleben zu können. Diese abgespaltenen Anteile sind dann aber nicht einfach verschwunden, sie sind weiterhin vorhanden und wollen gespürt werden. Der Aufwand, sie zu unterdrücken, wächst mit jedem Lebensjahr. Die Gefühle, die hochkommen könnten, wenn man sie zulässt, sind oft sehr schmerzhaft. Daher ersinnt die Psyche eine ganze Reihe von Überlebensstrategien, und die Ablenkung durch die digitalen Welten, die uns die letzten beiden Jahrzehnte der technischen Entwicklung beschert haben, ist geradezu ideal. Hier kann man sich von sich selbst ablenken, vor den eigenen Gefühlen flüchten und sie in ungefährliche Bahnen der Anteilnahme an anderen, oft fiktiven, Leben kanalisieren.

Da heutzutage alle Menschen schon aufgrund ihrer Erziehung sowie den Weg durch die Bildungsinstitutionen traumatisiert sind, überrascht es nicht, dass diese digitalen Geräte auch in der Öffentlichkeit so überrepräsentiert sind.

Das heutige, kapitalistische System führt zwangsläufig zur Traumatisierung. Denn in diesem muss man sich anpassen. Man muss sich dem Verwertungszwang unterwerfen, muss sich fremder Herrschaft unterordnen, die nicht nur aus dem Staat, sondern auch und vor allem aus der Herrschaft der Kapitalisten besteht. Man muss sich dem unterwerfen, was ein ominöser Markt verlangt, muss seine Fähigkeiten entsprechend entwickeln, auch wenn man das überhaupt nicht will oder kann. Der Arbeitgeber hat die Verfügungsmacht über die Menschen. Dasselbe spielt sich in Schulen ab, in denen die Kinder sich der Fremdherrschaft der Ministerien und der Lehrer unterwerfen müssen. Ob sie wollen oder nicht, sie müssen bestimmte Inhalte lernen, und zwar unter dem Zwang der Bewertung, die im Zweifelsfall das ganze Leben zerstören kann.

In einem solchen System können auch Eltern sich nicht adäquat um ihre Kinder kümmern. Sie sind dazu gezwungen, sich so bald wie möglich nach der Geburt wieder in das Verwertungssystem einzugliedern. Anstatt Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, müssen sie sich in fremdbestimmter Arbeit aufreiben und ihre Kinder vernachlässigen. Das traumatisiert diese zwangsläufig, da auch eine Abwesenheit der Eltern, ihrer Aufmerksamkeit und Liebe, ein schweres Trauma darstellt.

Auch die vorgelebte Unterwerfung unter die Fremdbestimmung, die Lohnarbeit und die ökonomischen Zwänge, die in der Regel widerwillig erfolgt, ist den Kindern kein Vorbild. Denn wenn man ständig erlebt, wie anstrengend, frustrierend, deprimierend und erzwungen die Lohnarbeit ist, blickt man der Zukunft nicht positiv gestimmt entgegen.

Man erlebt die Welt vielmehr als eine große Zwangsveranstaltung, der man sich zu beugen hat, wenn man überleben will. Es ist kein Wunder, dass die jüngeren Generationen oft verzweifelt sind und keinen Sinn im Leben sehen. Im „Hamsterrad“ gibt es ihn ja tatsächlich auch nicht.

Hinzu kommt, dass immer mehr Eltern schon ihre jüngsten Kindern digitale Geräte in die Hand drücken, damit sie den Eltern bloß nicht auf die Nerven fallen. Von der Arbeit ausgelaugt, können sie ein schreiendes, quengelndes, nervendes Kind schlichtweg nicht gebrauchen. Einfacher ist es, das Kind mithilfe eines Gerätes ruhigzustellen. Für die Entwicklung des Gehirns ist das jedoch fatal. Dass diese Kinder dann eine Abhängigkeit von den Geräten entwickeln, ist wenig überraschend. Denn die Reize aus den Geräten stellen einen Ersatz für den Mangel an elterlicher Zuwendung dar.

Doch eine solche Selbstbetäubung, die von Schmerz und Sinn- und Hoffnungslosigkeit ablenkt, führt die Menschen auch von ihrem eigenen Selbst weg. Sie konzentrieren sich auf das, was andere Menschen machen. Sie sehen ihre Influencer-Vorbilder, die Dinge machen, über Themen sprechen, und erleben im direkten Vergleich mit diesen immer ihre eigene Minderwertigkeit. Denn das, was dieser Influencer oder jene Serienfigur bewerkstelligen, das kann man selbst oftmals nicht. Neid, Frustration und Depression sind die Folge. Dadurch wird es erschwert, die eigenen Talente zu identifizieren und zu entwickeln, das zu erforschen und zu verstehen, was aus einem selbst kommt. Der Vergleich mit „Vorbildern“ aus der digitalen Welt erweckt den Wunsch, eben dasselbe auch zu können und zu tun. Es ist kein Wunder, dass immer mehr junge Menschen als Berufswunsch „YouTube-Star“ oder „Influencer“ angeben. Und das, obwohl die meisten dieser sogenannten Stars keine besonderen Fähigkeiten haben, ja über den Kreis des Banalen und Alltäglichen überhaupt nicht hinausweisen.

Anstatt Fähigkeiten, Wissen und Interessen in der Wirklichkeit zu entwickeln, konzentrieren sich die Menschen auf digitale Welten, mit der Folge, dass die reale Welt immer weniger funktioniert. Denn wenn alle Menschen Influencer sind, wer baut dann noch die Nahrung an, wer baut Straßen und repariert Brücken?

Eine Welt, in der alle Menschen Influencer sind, würde schon ökonomisch nicht funktionieren, da irgendwoher das ganze Geld kommen muss, das diese über Werbung — denn das ist es, was sie letztlich nur machen — generieren. Influencer sind nichts anderes als Werbeträger, die im Grunde sich selbst und ihre Seele verkaufen.

Schon aus diesem Grund sollte einer Gesellschaft daran gelegen sein, die Anreize für eine Flucht aus der Wirklichkeit in digitale Welten zu verringern. Das jedoch würde eine komplette Umgestaltung des kapitalistischen Systems notwendig machen, was nicht so bald zu erwarten ist. Auch das Staats- und das Schulsystem müssten sich verändern, wenn nicht ganz auflösen. Denn alles traumatisiert Menschen und treibt sie deswegen in die Überlebensstrategien der dauerhaften Ablenkung vom eigenen Selbst. Zudem wäre es notwendig, Traumata aufzuarbeiten und zu integrieren. Das jedoch kann nur jeder für sich machen, man kann niemanden dazu zwingen. Das System der dauerhaften digitalen Ablenkung wird nicht für alle dauerhaft funktionieren, und das ist vielleicht die gute Nachricht: Irgendwann kommt der Zusammenbruch und damit die Notwendigkeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Auch Eltern sind aufgefordert, ihre Kinder nicht mit digitalen Geräten ruhigzustellen, um selbst ihre Ruhe zu haben. Die frühe Zerstörung des Gehirns durch digitale Endgeräte führt dazu, dass viele Fähigkeiten in Zukunft schon überhaupt nicht mehr ausgeprägt werden können. Auf diese Weise entstehen Menschen, die lebensunfähig sind und orientierungslos in der Welt umherirren. Auch die Abhängigkeit von digitalen Endgeräten wird auf diese Weise gefördert. Statt also Kinder ruhigzustellen, wäre es notwendig, sich ihnen zuzuwenden, sich mit ihren Bedürfnissen auseinanderzusetzen und diese möglichst zu erfüllen. Der Kindern auferlegte Zwang, sich fremden Vorstellungen zu beugen, ob von den Eltern oder den Lehrern ausgehend, traumatisiert sie und sollte daher ebenfalls vermieden werden.

Noch einmal: Die Flucht in digitale Welten ist eine Trauma-Überlebensstrategie und eine Ablenkung vom eigenen Selbst. Sie ist vollkommen nachvollziehbar in diesen lebensfeindlichen Gesellschaften, die Menschen unterdrücken und sie in vorgegebene Formen und Muster zu pressen versuchen. Aber wenn wir nicht anfangen, etwas gegen die traumatisierenden Strukturen zu unternehmen und uns mit den Problemen, Traumata und Emotionen auseinanderzusetzen, dann wird dieses System eine vollkommen lebensfremde Generation hervorbringen, was auf Dauer eine lebensfähige Gesellschaft unmöglich machen wird.


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