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Arm gegen ganz arm

Arm gegen ganz arm

Anstatt ihren wirklichen Gegnern gemeinsam die Stirn zu bieten, lassen sich einheimische und eingewanderte Armutsbetroffene gegeneinander aufhetzen.

Am Sonntag, dem 28. Dezember 2014, bekam Holdger Platta, Armutsrentner, von Change.org um 12 Uhr 27 die folgende Petition zugesandt. Sie stammte von dem Hannoveraner Karl Lempert, einem Elektrotechniker, und hatte — wir zitieren Ausschnitte daraus — den folgenden Inhalt:

„Hallo, dieser Aufruf wurde vor Kurzem auf Change.org gestartet. Wir dachten, Sie möchten sich vielleicht engagieren. Für ein buntes Deutschland! NoPegida! Tausende von Bürgern treten auf die Straße und lassen ihrer Enttäuschung und Wut freien Lauf, ‚geführt‘ und verführt von Demagogen.

Die Anführer dieser ‚Bewegung‘ lehnen jegliche Kommunikation mit den Organen der parlamentarischen Demokratie und den Medien ab. Am 22. Dezember haben sich 17.500 Anhänger und Mitläufer dieser ‚Bewegung‘ in Dresden versammelt, um Weihnachtslieder zu singen. Den Geist der Weihnacht, nämlich Flüchtlingen eine Herberge und Mitmenschlichkeit zu bieten, trägt eine solche Veranstaltung jedoch nicht in sich.

Jetzt ist die Zeit, zu bekennen, dass ‚Wir sind das Volk!‘ unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion — oder was auch immer — gilt und weiter gelten muss!

Meine Forderung an uns alle lautet:

1 Million Unterschriften gegen Pegida!“

Am folgenden Tag, am Montag dem 29. Dezember 2014, leitete Holdger Platta, nachdem er selber diesen Aufruf unterzeichnet hatte, diese Petition an zahlreiche Menschen in Deutschland weiter, an Freunde, Verwandte, Bekannte und Mitstreiterinnen und Mitstreiter gegen Hartz-IV. Das war um 11 Uhr 43.

Schon um 12 Uhr 11 desselben Tages erhielt er von einer langjährigen Mitstreiterin gegen Hartz-IV aus dem Osten Deutschlands die folgende Antwort. Nennen wir sie Margot M. und den von ihr mehrfach im folgenden Mailwechsel erwähnten Ort Freienrode. Margot M., ebenfalls ALG-II-Bezieherin, schrieb:

„Hallo Holdger,

ich unterschreibe und unterstütze die Petition nicht. Viele einfachen und armen Menschen machen bei der PEGIDA mit, weil sie einfach nur die Schnauze voll haben von unserer Politik und der Lügenpresse. Ich finde es auch nicht in Ordnung, dass man 17.500 Leute in Dresden einfach als Nazis bezeichnet.

Viele Grüße
Margot“

Eine gute halbe Stunde später antwortete Holdger Platta darauf, um 12 Uhr 45:

„Liebe Margot,

schade, dass Du nicht mitunterschreiben möchtest. Stimmt Dich nicht bedenklich, dass diese Bewegung ihre Widerstandsenergien statt auf die Verursacher ihrer Not und ihres Unbeachtetseins auf völlig hilflose und völlig unschuldige Menschen richtet? Das ist doch die alte deutsche Radfahrerkrankheit: Von oben hat man die Tritte bekommen, aber man gibt sie selber nun nach unten weiter, an andere, denen es oft noch schlechter geht als einem selbst.

Gegen Merkel, Schäuble, gegen Gabriel und Nahles, gegen diese Figuren oben wären alle diese Energien zu richten, nicht aber — wie es passiert — gegen eine angebliche „Islamisierung des Abendlandes“! Und was soll dieser Scheiß-abendländische „Patriotismus“? Dieses Europa hat als Festung das Erbe angetreten dessen, was früher mal der verfluchte Chauvinismus der einzelnen Nationen gewesen ist. Die sterbenden Menschen auf dem Mittelmeer, diese FRONTEX-Opfer, sind Opfer ebenderselben zynischen Kapitalismus-Politik, die anderswo zu Massenverelendung unter dem Tarnnamen „Austeritätspolitik“ geführt hat, in Griechenland zum Beispiel, in Spanien und Portugal, und bei uns zu Hartz-IV.

Wir geben also die Solidarität der Opfer auf, wenn wir uns als Opfergruppe nun gegen andere Opfergruppen wenden — egal, ob sie aus dem Sahel, aus Syrien, aus Nigeria oder sonst woher zu uns kommen — aus Elendsgründen, die unsere Kapitalisten dort hervorgerufen haben. Und wir schonen dabei die weltweiten Verursacher dieses weltweiten Massenelends bei uns, die Herrschaftseliten in ‚unseren' Ländern. PEGIDA ist Katzbuckelei gegenüber den wirklichen Tätern, die an unserem Elend schuld sind, und macht Menschen, die wie wir nur Opfer — zumeist noch viel schlimmere Opfer — sind, zu Prügelknaben. Das ist falsch und außerdem schäbig, zutiefst schäbig, liebe Margot!

Mit herzlichen Grüßen,
Dein Holdger“

Keine Stunde später — wir schreiben immer noch Montag den 29. Dezember 2014—, geht um 13 Uhr 35 die folgende Antwort bei Holdger Platta ein:

Lieber Holdger,

„Bevor Du mich schäbig nennst, lies Dir in Ruhe alles durch. Wenn ich dann immer noch schäbig bin, dann müssen sich unsere Wege trennen.

Im Moment versuche ich alles, damit es bei uns nicht eskaliert. Bitte lies auch den Anhang.“

Der lange Briefanhang enthielt den folgenden Text:

„Lieber Holdger,

na, dann bin ich eben schäbig. Bis jetzt habe ich mich aus allem rausgehalten. Ich beobachte beide Seiten, die PEGIDA und die Gegner von PEGIDA. Aufgrund dessen, weil ich jahrelang die Demos als Einzelperson in Freienrode gegen Hartz-IV organisiert habe, habe ich in Freienrode auch sehr viele Bürger hinter mir. Außerdem bin ich Betreiber von einem Forum. Du musst auch meine Situation verstehen.

Viele Bürger aus meiner Stadt haben einfach nur die Schnauze voll. Alles wird teurer, alles wurde aus Geldmangel abgeschafft. Wir haben keine einzige kulturelle Einrichtung mehr. Jahrelang haben wir für den Erhalt unserer Förderschule protestiert. Sie wurde aus Geldmangel geschlossen. Die Schüler müssen jetzt teilweise große Strecken zur nächsten Schule fahren.

Genau in dieser Schule, die aus Geldmangel geschlossen wurde, ist jetzt ein Asylheim. Nun fragten mich schon die Bürger, wo kommt denn nun das Geld her? Viele Flüchtlinge wohnen bei uns schon in Wohnungen, dagegen hat auch keiner was, obwohl wir dadurch keine Hartz-IV-Wohnungen mehr haben. Aber diese Schulschließung aus Geldmangel gefällt den Bürgern gar nicht.

Jetzt wurden Millionen investiert, um die Schule in eine Notaufnahme für Flüchtlinge umzubauen. Bei unserer Suppenküche, der Tafel, war die Warteliste vor 2 Jahre schon ein Jahr lang. Es müssen erst Menschen sterben, bevor die nächsten nachrücken können. Nun fragen mich unsere Bürger aus meiner Stadt, wenn die Flüchtlinge auch noch zur Tafel wollen, was wird dann?

Wir haben akuten Ärztemangel. Kein Hausarzt, aber auch keiner, nimmt bei uns noch Patienten an. Alle außer einem Arzt sind im Rentenalter. Die Flüchtlinge brauchen aber auch ärztliche Versorgung, wo sollen die denn nun hingehen? Sollten die Politiker nicht erst alles absichern, bevor sie solche Schritte gehen?

In unserer Stadt hat sich schon ein Bündnis gegen das Asylheim gegründet. Circa 400 Leute machen da schon mit. Ich halte mich da vollkommen raus. Es wurde auch ein ach so tolerantes Bündnis aus Grünen, SPD und Kirchenmitgliedern wiederbelebt. Diesem Bündnis habe ich einen Brief geschrieben. Bis heute habe ich keine Antwort erhalten.

Bei uns in Freienrode ist eine Arbeitslosenquote von 15 Prozent. Die Bürger haben natürlich auch Angst um ihre Arbeit und ihre kleinen Nebenjobs. Viele Alte, Kranke und Behinderte tragen Zeitungen aus und anderes.

Ich wohne im Grenzgebiet. Dadurch haben wir hier auch sehr viele Bürger aus Polen. Teilweise wohnen in unseren Dörfern 52 bis 70 Prozent polnische Bürger. Das Zusammenleben klappt ganz gut, denn die Polen wohnen bei uns und arbeiten in Polen.

Wir haben aber auch eine sehr hohe Grenzkriminalität, durch die osteuropäischen Länder. Jede Woche entstehen dadurch Schäden in vielen Millionen Euro. Die Bauern und Unternehmer vertrauen nur noch den rechten Parteien, weil die eine Bürgerwehr organisieren wollen. Die anderen Parteien machen ja nichts. Unsere Polizeiwache wurde abgebaut und schafft das schon lange nicht mehr.

Unsere Bürger haben Angst, sind wütend, vertrauen niemandem mehr und sind misstrauisch. Ich bin gerne bereit, mit dir zu diskutieren, aber ich trete nicht meinen eigenen Leuten in den Hintern. Ich habe dir hier nur ein paar Beispiele aufgeschrieben, warum die Bürger so denken, davon kann ich dir noch viele mehr übermitteln.

Viele Grüße Margot“

Wenige Minuten später, um 13 Uhr 56, schickte Margot M. aus Freienrode noch die folgende Mitteilung hinterher:

„Nachtrag: Auch unser Obdachlosenheim wurde wegen Geldmangels geschlossen. Alle Obdachlosen werden in anderen Städten untergebracht und müssen ihre Heimat verlassen.“

Darauf Holdger Platta in seiner Mail vom selben Tag, dem 29. Dezember, 16 Uhr 45:

„Liebe Margot,

ich habe nicht Dich als ‚schäbig‘ bezeichnet, sondern die deutlich dargestellte Denkweise der Leute, die PEGIDA organisieren.

Wenn Du bei kaum begonnenem Gespräch schon mit dem Abbruch der Gespräche drohst, spricht das nicht für die Bereitschaft, sich auf die Sorgen und Bedenken, auf die Gedanken und gänzlich andersartigen Schlussfolgerungen des anderen einzulassen. Dieses wäre sehr, sehr schade.

Mit herzlichen Grüßen
Holdger“

Die Antwort von Margot M., wenige Minuten später, um 16 Uhr 52:

„Lieber Holdger,

na, dann haben wir uns falsch verstanden. Ich dachte, Du hältst mich jetzt für schäbig, weil ich nicht unterschreiben werde. Ich hatte Dir doch auch eine Diskussion über meine Denkweise zu diesem Thema angeboten.

MfG Margot“

Ebenso prompt die Antwort von Holdger Platta, um 17 Uhr 03:

„Liebe Margot,

wie Du weißt, rennst Du mit Deiner Darstellung unserer Nöte bei mir weit, weit offene Türen ein. Diese Not darf uns aber nicht dazu bringen, uns nun unsererseits gegen die Not der anderen zu stellen, sondern gegen die Urheber der Not — ‚hüben wie drüben', wenn Du so willst: in Deutschland wie in Griechenland, in Portugal und Spanien wie auf dem afrikanischen Kontinent. Und so weiter ...

Was übrigens gewisse Sympathisanten der PEGIDA in der AfD betrifft, Du weißt es genauso wie ich: Diese Herren haben sich niemals gegen Hartz-IV gewendet, ein Lucke nicht und nicht ein Hans-Olaf Henkel, letzterer war sogar ein Permanent-Verteidiger von Hartz-IV bei zig Talkshows und so weiter.

Bitte bitte, renne doch nicht hinter den falschen Leuten her, mit falschen Slogans, von diesen Leutchen ausgegeben, mit klarster Frontstellung gegen Ausländer, Asylbewerber, speziell gegen den Islam! Bitte denke doch nicht, dass die 17.500 Menschen, die da in Dresden aufmarschiert sind, von einer Minderheit abgesehen, aus unseren Reihen kämen und an Deinen wie meinen Problemen irgendein Interesse hätten.

Allerdings kenne ich einige, die auf den Gegendemonstrationen in Dresden mitgemacht haben und Hartz-IV-Mitbetroffene sind. Gleiches gilt — in noch stärkerem Maße — für die Gegendemonstranten gegen PEGIDA in München: Dort äußern und engagieren sich unsere BündnispartnerInnen, die übrigens dieses schon seit Langem sind, an der Spitze Konstantin Wecker, den ich ja seit zwei Jahren auch persönlich gut kenne.

Natürlich ist mir klar, dass es manchmal nicht einfach ist — bei der verheerenden Berichterstattung über all diese Ereignisse bei uns —, die Übersicht zu bewahren oder überhaupt herstellen zu können. Umso wichtiger ist es, sich selber über Personen, Slogans, Hintermänner und so weiter Klarheit zu verschaffen. Bereits die Äußerungen des CSU-Herren Friedrich zeigt, wohin, angesichts von PEGIDA, nunmehr die Gesamtunion zurückdirigiert werden soll: Selbst die Mini-Zugeständnisse in Richtung einer minimal sozialeren Politik sollen diesen Leutchen zufolge wieder rückgängig gemacht werden: Mindestlohn — eh zu niedrig—, Gleichstellung der Frauen — eh zu mickrig — und anderes mehr.

Die Gutherzigen, die bislang der PEGIDA nachlaufen, stehen in der Gefahr, eine Politik befördern zu helfen — unfreiwillig natürlich —, die ihren eigenen humanen Interessen brutalstmöglich den Hahn abdrehen soll.

Mit herzlichem Gruß nochmal,
Holdger

PS: eben auf www.hinter-den-schlagzeilen.de gelesen, der Website von Konstantin Wecker, geschrieben von einer Susanne Faust:

„Meine diesjährige Lieblingsweihnachtsgeschichte:

Drei Personen sitzen an einem Tisch mit 15 Keksen.
Das sind: ein Banker, ein Asylbewerber und ein HartzIV-ler.
Der Banker nimmt sich 14 Kekse und sagt zum HartzIV-ler:
‚Paß‘ auf, der Asylbewerber will Dir Deinen Keks klauen.‘“

Die Antwort von Margot M. aus Freienrode, eine gute Stunde später, um 18 Uhr 14:

„Hallo Holdger,

wir im Osten ticken ein bisschen anders. Ich bin ja nicht gegen Flüchtlinge und habe nichts gegen Ausländer.

Der Protest richtet sich ja auch gegen die Armut in Deutschland und die falsche Politik.
Margot“

Einen Tag darauf, Dienstag, den 30. Dezember 2014, 12 Uhr 18, schreibt Holdger Platta an Margot M. aus Freienrode dann die folgende Mail:

„Liebe Margot,

ich bin Dir sicherlich gestern noch eine Antwort schuldig geblieben, als ich Dir nur ganz kurz schrieb, dass Du bei mir ganz, ganz weite Türen einrennst, wenn Du all diese Elendsbedingungen, zum Beispiel bei Euch in Freienrode, schilderst. — Das lag daran, dass ich gestern meine Frau noch zum Arzt fahren musste — sie hat Grippe — und, während sie auf ihren Termin dort wartete, einige unvermeidbare Einkäufe zu erledigen hatte.

Lass mich also heute nochmal — etwas ausführlicher — auf Deine vielen Hinweise zurückkommen, mit denen Du die Situation bei Euch im Ort geschildert hast!

Darf ich — mit Dir jetzt — davon ausgehen, dass all diese kleinen und großen Skandale, diese Nöte, Engpässe, Mangelsituationen mit Sicherheit von einer Gruppe nicht verschuldet worden und zu verantworten sind: von den Asylbewerbern, von den Immigranten, von den Ausländern, wie immer man sie nennen mag? Darf ich — mit Dir jetzt — davon ausgehen, dass für all diese kleinen und großen Skandale, Nöte, Engpässe, Mangelsituationen einzig und allein diejenigen verantwortlich sind und die Schuld tragen, die bei uns — ganz, ganz oben — über Macht und Einfluss verfügen und über sehr, sehr viel Geld!!!: die PolitikerInnen ganz oben sowie die — sogenannten — Wirtschafts’eliten' ganz oben?

Wenn wir uns darin einig sind, dann frage ich mich um so mehr, wieso wir nicht mehr über die Sozialstaatsvernichtungspolitik in diesem Lande reden, über SPD, Grüne, CDU/CSU, FDP — soweit diese noch existiert: wenigsten diese Mistpartei scheint's ja endgültig erwischt zu haben —), und ich frage mich auch, wieso wir dann nicht mehr über die Irrsinnsgehälter und Irrsinnsgewinne der Konzernherrn, Banker und Manager reden, sondern stattdessen darüber, dass eine Asylbewerberfamilie womöglich mal eine bessere Wohnung bekommen hat als eine bundesdeutsche Hartz-IV-Familie, dass Flüchtlinge, die sich vor dem Verhungern zu uns geflüchtet haben, nun von uns mitverpflegt werden, statt dass wir sie auf dem Mittelmeer — diesem Massengrab Europas inzwischen! — krepieren lassen.

Wenn Du schreibst, Ihr im Osten ‚tickt‘ halt anders, dann kann ich das, völlig jenseits dieser Geografie-Frage, schlicht nicht akzeptieren. Erstens kenne ich genug Menschen im Osten, für die trifft das überhaupt nicht zu. Zweitens ist das überhaupt kein Ost-West-Gegensatz. Und drittens ist diese andere, vermeintlich ‚östliche‘ Art des ‚Tickens‘ schlicht ein Hinweis darauf, dass die Uhr kaputt ist. Und ich möchte es, um überflüssige Wiederholungen zu vermeiden, auch nur ein einziges Mal noch betonen:

Man kann nicht hinter einem Firmenschild ‚Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ herlaufen, wenn nichts an diesem Idioten-Slogan mit den von Dir — zu Recht — angesprochenen Themen auch nur entferntest irgendwas zu tun hat, wenn damit nur die einen — die deutschen — Opfer aufgehetzt werden sollen gegen die anderen — die ausländischen — Opfer und wenn die eigentlichen Urheber und die eigentlich Schuldigen an all den von Dir erwähnten Problemen sich damit aufs Behaglichste die Hände reiben können: die PolitikerInnen und die Wirtschaftsherren ganz oben. Das, wie gesagt, hatte ich als ‚falsch‘ bezeichnet — und ich bleibe dabei —, das ist, wie ich gesagt habe, ‚schäbig‘ — und auch dabei bleibe ich.

Die Unbarmherzigkeit, mit der wir seit einem guten Jahrzehnt behandelt werden, darf nicht dazu führen, dass wir nun unsererseits selber unbarmherzig werden und auf andere Menschen in Not und Elend losgehen, wie vorher ‚unsere‘ Oberen auf uns in unserer Not und unserem Elend losgegangen sind. Es wäre das Schlimmste, was passieren könnte: dass wir zu Karikaturen derer da oben werden — und zu Nachahmern ihrer unmenschlichen Politik.

Mit lieben Grüßen, in alter Solidarität,
Dein Holdger“

Dazu die Antwort von Margot M. vom gleichen Tag, dem 30. Dezember 2014, um 13 Uhr 32:

„Lieber Holdger,

ich verstehe ja deine Gründe, gegen PEGIDA zu sein. Ich habe mir heute eine Hose bei den Vietnamesen gekauft, habe zwei türkische Vermieter für meine Wohnung und habe mir heute einen halben Broiler bei den Türken gekauft. Du siehst also, ich gehe gerne bei den Ausländern einkaufen. Aus diesem Grund halte ich mich da auch vollkommen raus. Unsere Bürger hier haben viel Leid erleben müssen. Unsere Wohnbauten, 1.300 Wohneinheiten, wurden an eine Heuschrecke verkauft. Unter den Auswirkungen leiden Bürger heute noch. PEGIDA bedeutet für viele viel mehr als das Abendland. Die Bedeutung vom Abendland werden die wenigsten wissen.

PEGIDA bedeutet für die Mehrheit, Lügenpresse, verfehlte Asylpolitik, Armut, Waffentransporte ins Ausland, schlechte Schulbildung, schlechtes Gesundheitssystem und vieles mehr. Das ist PEGIDA. Schau dir doch einmal an, wer dagegen protestiert. Das sind die SPD, die Grünen und die Kirchenmitglieder. So ist das jedenfalls in Freienrode.

Bei uns steht täglich nur in der Zeitung, es kommen mehr Flüchtlinge. Die Räumlichkeiten dafür haben so und so viel gekostet. Seid bitte alle freundlich und nett zu den Flüchtlingen, und so weiter und so weiter, und das jeden Tag. Die Bürger bekommen Rundschreiben vom Bürgermeister und vieles mehr. Unser ganzes Leben dreht sich seit Monaten nur noch um Flüchtlinge. Die Bürger bei uns fühlen sich benachteiligt, vernachlässigt, im Stich gelassen und vieles mehr. Diese Überfürsorglichkeit ist ja schon krankhaft und lächerlich. Obdachlose werden bei uns nicht geduldet, das Obdachlosenheim wurde aus Geldmangel geschlossen. Obdachlose werden in anderen Städten untergebracht und müssen ihre Heimat verlassen.

Das nennen unsere Leute ungerecht, und da haben sie Recht. Für mich bedeutet PEGIDA viel mehr. Für mich bedeutet das Lügenpresse, Armut, Waffenlieferungen ins Ausland, schlechte Schulausbildung, schlechte medizinische Versorgung und vieles mehr. Bei uns haben sich bis jetzt schon circa 400 Bürger zusammengeschlossen. Das sind alles Pegida-Anhänger. Das Gegenbündnis aus SPD, die Grünen und Kirchenmitglieder hat circa 20 Personen. Die Pegida-Anhänger bei uns suchen händeringend einen Anmelder für einen Fackelmarsch, weil darin keiner Erfahrung hat. Ich wurde auch schon gefragt, ob ich den Anführer machen würde. Ich habe abgelehnt, mit der Begründung, dass ich mich raushalte aus beiden Bündnissen.

Jetzt ist das Fass voll und läuft immer mehr über und das im Osten ganz besonders. Wir Uckermärker und die Bürger aus Mecklenburg-Vorpommern sind lange ruhig, aber wenn uns der Kragen platzt, dann wird es sehr schlimm.

Du siehst also, dass ich sehr tolerant bin, denn ich halte mich bei uns aus beiden Bündnissen raus.

Aber mehr kann ich im Moment nicht tun.
L.G. Margot“

Am späteren Nachmittag dieses 30. Dezembers 2014 antwortet Holdger Platta darauf, um 17 Uhr 48:

„Liebe Margot,

ich habe mir inzwischen mal das 19- Punkte-Programmpapier der PEGIDA durchgelesen. Hier in Kürze meine Stellungnahme:

Ganz strikt bin ich auch für die Aufnahme von Hunger- und Elendsflüchtlingen — irreführend von interessierten Kreisen zumeist als ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ bezeichnet. Es ist egal, ob jemand flieht, weil ihm der Tod durch Erschießen droht oder durch Hunger! Humanität und UNO-Menschenrechts-Charta gebieten die Aufnahme aller an Leib und Leben bedrohten Menschen.

Schlicht falsch ist die Auffassung, Europa sei eine christlich-jüdisch geprägte Kultur. Die Juden waren nahezu immer von Ausgrenzung betroffen. Viel eher könnten wir von einer christlich-moslemischen Kultur sprechen. Von unserer gesamten griechisch-römischen Antike wüssten wir nichts, wenn nicht im ‚maurischen‘ Spanien des 13. Jahrhunderts, übrigens eine Friedensordnung dort zwischen allen drei abrahamitischen Religionen, präzise: in Toledo, Moslems rund 30.000 Schriften aus dieser Antike gerettet hätte. Zum Vergleich: In der Nationalbibliothek London lagen zur selben Zeit lediglich 200 Schriften. Die Verfasser des PEGIDA-Papiers haben von abendländischer Geschichte keinerlei Ahnung.

Mit herzlichen Grüßen
Holdger“

Darauf antwortet Margot M. am gleichen Tag um 20 Uhr 11 wie folgt:

„Hallo Holdger,

nun verstehe ich, dass Du dagegen bist. Wir diskutieren das Thema Pegida auch auf unser Forum, und die meisten User denken so wie ich. Ich denke zu den Punkten, die Du hier aufgeführt hast, ganz anders. Wir hatten jahrelang bis zu ihrem Tod eine Jüdin auf unserem Forum, sie kam aus Israel und lebte in der Schweiz. Sie hat sich bei uns auf dem Forum mit unseren Ansichten sehr wohl gefühlt. Ihre Freundin war aus Dänemark und lebte auch in der Schweiz.

Ich bin der Meinung, wir haben in Deutschland selber viele Bürger, die sehr arm sind. Unsere Suppenküchen reichen ja jetzt schon nicht mehr, und das darf auch nicht die Lösung sein. Ich bin der Meinung, dass die Armut in den jeweiligen Ländern behoben werden muss, in dem für alle ein Grundeinkommen eingeführt werden muss. Gegen politisch Verfolgte oder Kriegsbetroffene habe ich nichts. Auch gegen Flüchtlinge, die wegen ihres Glauben oder ihrer Sexualität, Lesben oder Schwule, flüchten mussten, sollten aufgenommen werden.

Wenn ein Ausländer nach Deutschland kommt, sollte er oder sie die deutsche Sprache lernen, unsere Religion und unsere Gesetze achten. Wer seine Religion ausleben möchte, sollte das bitte schön in seinen eigenen vier Wänden tun. Für uns Deutsche baut auch kein anderes Land extra eine Kirche oder Gebetsräume. Bevor die Ausländer bei uns ins Land kommen, sollten sie die Kopftücher ablegen. Ich bin stolz darauf, dass unsere deutschen Frauen emanzipiert sind und die gleichen Rechte wie die Männer haben. Das will ich auch nicht ablegen.

Daran erkennst Du, dass wir vollkommen unterschiedliche Meinungen haben. Deshalb bin ich auch für PEGIDA.

V.G. Margot“

Einen Tag später, am Silvestertag des Jahres 2014, antwortet Holdger Platta darauf mit folgender Mail, verschickt um 11 Uhr 20:

„Liebe Margot,

scheint, die Grippe ist nun auch bei mir angekommen, deswegen nur ganz kurz:

  1. Du bist jetzt also auch ‚für PEGIDA‘. Neu!
  2. Hast Du bemerkt, dass im 19-Punkte-Programm der PEGIDA kein einziges Wort zu Deinen sozialen Forderungen geäußert wird?
  3. Soso, Grundeinkommen einführen in den armen Ländern der Welt. Bin dafür, dito. Und bis dahin alle Hungerflüchtlinge an den europäischen Grenzen krepieren lassen? Die Grenzen Europas = die Grenzen der Menschlichkeit = nun auch Deine Grenzen der Menschlichkeit?

Traurig, tief, tief traurig!
Holdger“

Die Antwort von Margot M. aus Freienrode, ebenfalls noch am Silvestertag 2014, eine gute Stunde später um 12 Uhr 53:

„Lieber Holdger,

Du kannst mir kein schlechtes Gewissen einreden. Schau hier:

Seit über 10 Jahren kämpfe ich gegen Hartz-IV und gegen Armut in Deutschland. Täglich, jeden Tag, lesen wir in unserer Presse in Freienrode nur noch das Thema Flüchtlinge. Unser Bürgermeister hat schon mehrmals Benimmregeln in die Zeitung setzen lassen, wie wir uns gegenüber den Flüchtlingen zu verhalten und zu benehmen haben. Ich hatte schon ganz viele Anrufe aus der Bevölkerung, wie sie sich jetzt verhalten sollen, wo sie doch selber täglich ums Überleben kämpfen müssen. Ich sagte immer, so, wie es hineinschallt, so schallt es auch raus. Wenn Euch die Flüchtlinge freundlich und nett grüßen, dann grüßt zurück, wenn sie Euch anpöbeln, dann pöbelt zurück.

Ich hatte gestern ein langes Gespräch mit meinem stellvertretenden Admin auf unserem Forum, in welche Richtung wir das Forum steuern werden. Der Mann, mein Admin, ist ein herzensguter Mensch. Auch er sagte zu mir, wir müssen auch an unsere Obdachlosen und armen Menschen denken.

Es kann und darf nicht sein, dass deutsche Menschen ungewollt auf der Straße als Obdachlose leben müssen und die Flüchtlinge die letzten Wohnungen bekommen. Wir hatten Bürger, junge Leute, die obdachlos waren. Die Frau war im achten Monat schwanger. Wir hatten einen Rentner auf dem Forum, der schrieb, bitte helft mir, ich möchte nicht im Obdachlosenheim sterben. Wir haben schon vielen Obdachlosen in Deutschland geholfen. Wir haben Bürger ohne Krankenversicherung, ohne Strom.

Ich habe Bürgern geholfen, im Winter, ohne Heizung, mit einem Baby zu Hause. Wir haben Spendenpakete verschickt und gemeinsam gesammelt. Aber wir können nicht die ganze Welt retten. Du machst mir kein schlechtes Gewissen. Wir hatten einen jungen alleinstehenden Vater auf dem Forum, der nur vom Kindergeld seines Sohnes leben musste. In Hamburg, Sankt Pauli, hat der Fußballverein eine Demo organisiert, damit die Obdachlosen ihre Brücke zum Schlafen behalten konnten. Die Stadt wollte die Obdachlosen dort vertreiben. Diese Aktion haben wir unterstützt.

Du machst mir kein schlechtes Gewissen. Ich könnte jetzt genauso sagen, Du lässt unsere Bürger in Deutschland im Stich. Wir haben in der Umgebung von Freienrode keine Wohnungen mehr für Hartz-IV-Empfänger. Bitte sage mir eine Antwort dafür, was soll ich den Bürgern sagen? Unsere Tafel hat eine Warteliste von über einem Jahr. Ich bin der Meinung, die Flüchtlinge müssen sich ganz hinten anstellen, wie jeder andere Bürger auch. Was ist falsch daran? Du machst mir kein schlechtes Gewissen, denn ich habe ein unheimliches Gerechtigkeitsgefühl. Aber es kann und darf nicht sein, dass die Flüchtlinge besser behandelt werden als die Deutschen.

Wir haben Bürger, die eine Zwangsräumung haben, weil der Vermieter Eigenbedarf angemeldet hat. Die Bürger finden jetzt keine neue Wohnung. Weißt du, was in Deutschland los ist, oder schaust Du bloß noch ins Ausland? Wir hatten oft Bürger, die sanktioniert waren und nicht wussten, wie sie ihre Mieten, Strom und alles bezahlen sollten. Wir helfen bei falschen Bescheiden, stellen Beistände und vieles mehr. Wir hatten junge Leute unter 25, die zu Hause rausgeflogen sind oder misshandelt wurden. Diesen Leute unter 25 mit Hartz-IV steht keine eigene Wohnung zu. Das Jugendamt gibt zwar die Zustimmung für eine eigene Wohnung, das Jobcenter lehnt aber ab, nun mache was, damit diese jungen Menschen nicht in Parks erfrieren müssen.

Ich leiste täglich vieles, versuche zu helfen, mache Unmögliches möglich, und Du willst mir ein schlechtes Gewissen einreden. Das finde ich nun schäbig.

V.G. Margot“

Eine knappe Woche später, am Dienstag, den 6. Januar 2015, unternimmt Holdger Platta einen letzten Versuch zur Klärung des Streits. Seine Mail an Margot M. aus Freienrode, verschickt um 18 Uhr 46, hat den folgenden Wortlaut:

„Liebe Margot,

unter anderem aus Krankheitsgründen kann ich Dir erst heute antworten. Ich befürchte zwar, dass es nicht mehr sehr sinnvoll sein dürfte, Dir ein letztes Mal zu schreiben, aber ich möchte es doch wenigstens noch ein allerletztes Mal versucht haben.

Du schreibst mir überaus ausführlich — und nochmals — von den Problemen, mit denen Hartz-IV-Betroffene bei Euch und anderswo zu kämpfen haben. Außerdem — durchaus zutreffend, das weiß ich doch —, dass Du mit anderen MitstreiterInnen immer wieder den Hartz-IV-Betroffenen geholfen hast, zumindest zu helfen versucht hast.

Aber das, Margot, ist und war doch gar nicht mein Thema. Das habe ich doch mit keinem Wort in Abrede gestellt, runtergemacht, kritisiert oder dergleichen. Kurz:

Mit all diesen Darlegungen kämpfst Du an einer Front, die gar nicht existiert.

Ganz im Gegenteil — und das weißt Du sehr genau! —: Du hast mich bei diesen Problemen und Kämpfen stets auf Deiner Seite gehabt. Auch ich kämpfe seit Ende 2004 gegen Hartz-IV, auch ich habe bereits zig Hilfsaktionen angeleiert, gebe Rechtsberatungen und schreibe Briefe für Mitbetroffene, habe zig politische bundesweite Aktionen gegen Hartz-IV initiiert und organisiert, habe wieder und wieder, in zig Artikeln, gegen Hartz-IV angeschrieben — inklusive Buchveröffentlichung, wie Du weißt. Also, nochmal: All das mir noch einmal detailliertest aufzuzählen, unsere Probleme, Deine Verdienste, das war völlig überflüssig, und ich hatte es bereits in meiner ersten Mail an Dich geschrieben:

Mit all dem rennst Du bei mir weit, weit offene Türen ein.

Wogegen ich mich gewandt habe — und nach wie vor, mit allergrößter Entschiedenheit, wehre:

  • Dass Du all diese Tatsachen missbrauchst, um diese nun gegen Menschen zu kehren, die ebenfalls Opfer unmenschlicher Verhältnisse und Geschehnisse sind, zum Teil noch viel schlimmer dran als wir Hartz-IV-Betroffenen.
  • Dass Du damit die Schuld abschiebst auf völlig unschuldige Menschen. Und die tatsächlichen Schuldigen, die sogenannten politischen und wirtschaftlichen ‚Eliten‘ in unserem Land und anderswo schonst.
  • Dass Du die Opfer hüben wie drüben auseinandertreibst beziehungsweise nunmehr — wie Du inzwischen auch noch geschrieben hast — für die PEGIDA bist und dadurch deren Spaltereien mit befördern hilfst.
  • Und dass Du damit PEGIDA-Figuren unterstützt, die in ihrem eigenen 19-Punkte-Programm zu Deinen, zu unseren Hartz-IV-Problemen nichts, aber auch gar nichts sagen.

Besonders schlimm übrigens war und ist für mich dabei Deine Bemerkung zu den Hungerflüchtlingen gewesen: Für diese solle man in deren Herkunftsländern für ein — ich vermute, Du meinst — menschenwürdiges Grundeinkommen sorgen. Hier bei uns aufnehmen solle man aber diese Hungerflüchtlinge nicht.

Weißt Du wirklich nicht, was Du damit im Klartext gesagt hast? — Dass Hungerflüchtlinge, also jetzt und heute an Leib und Leben bedrohte Menschen, auf den Sankt-Nimmerleinstag vertröstet werden sollen, auf eine ferne, ferne Zukunft, in der vielleicht auch bei ihnen daheim die Existenzverhältnisse einmal in Ordnung sein werden, dass aber bis dahin Deiner Meinung nach billigend in Kauf zu nehmen ist, dass sie heute, morgen, übermorgen, bis auf weiteres, an Europas Grenzen gerne weiter krepieren sollen! Also voraussichtlich viele, viele Jahrzehnte noch!

Würdest Du mit dieser Unmenschlichkeit der Vertröstung auf eine ferne — hoffentlich einmal bessere und gute — Zukunft einverstanden sein, wenn man damit ab sofort auch Dich und mich und alle Hartz-IV-Betroffenen hierzulande vertrösten wollte???

Wo ist da Deine Klarsicht geblieben, wo Deine Barmherzigkeit anderen Menschen gegenüber, die vielleicht nicht unsere Hautfarbe haben, nicht unsere Religion, wo Dein Mitgefühl Menschen gegenüber, die — wie zum Beispiel in Nigeria — Opfer eben jener Erdölweltkonzerne sind, die auch bei uns das Sagen haben? Und weißt Du eigentlich, wie ungeheuer schmerzhaft der Hungertod ist? Bist Du mittlerweile derart verbittert in Egozentrik und Seelenverhärtung gelandet, dass Du nur noch das eigene Leiden, das eigene Unglück —- beziehungsweise das der ‚eigenen‘ Leute — wahrzunehmen und ernst zu nehmen vermagst, Mitgefühl nur noch für die Eigengruppe kennst?

Du sprichst — offenbar in diesem Zusammenhang, und dieses gleich mehrfach — davon, dass ich Dir ‚kein schlechtes Gewissen einreden könne‘.

Nun, abgesehen davon, dass es die von mir benannten Fakten selber sind, die einzig und allein imstande sein könnten, Dein Gewissen zu erreichen und aufzuwühlen wie sie meines wieder und wieder aufzuwühlen vermögen: Ich muss heulen, wenn ich die entsprechenden Bilder aus Nigeria sehe, wenn ich die auf Lampedusa in irgendwelchen Hallen aufgestellten Särge von Flüchtlingen sehe, wenn ich die Berichte über Auffanglager lese, in Griechenland zum Beispiel, die von UN-Beobachtern mit den Verhältnissen in deutschen KZs verglichen worden sind.

Was wäre so schlecht daran, angesichts dieser Fakten und Berichte, angesichts dieser furchtbarsten Menschenschicksale, endlich, endlich wieder das eigene Gewissen zu spüren? Und da willst nun auch Du Leuten nachlaufen, die uns irgendeinen Nonsense erzählen wollen über die angebliche ‚Islamisierung des Abendlandes‘? Ist das nicht eine Gläubigkeit höchst-obskuren Leuten gegenüber, die bereit ist, buchstäblich über Leichen zu gehen?

Bemerkst Du nicht, dass damit die Unbarmherzigkeit, die uns Hartz-IV-Betroffenen seit nunmehr einem ganzen Jahrzehnt zu schaffen macht, in Deine eigene Seele einzuziehen droht? Dass Du, ich, wir alle, die Geprügelten, damit selber zu Prüglern zu werden drohen? Selber Getretene, träten wir damit nun auch selber zu??? Und — politisch betrachtet — gäben wir Opfer damit jegliche Solidarität mit all den anderen Opfern auf? Was nichts anderes hieße als: Die Herrschenden hätten mal wieder gesiegt mit ihrem Herrschaftstaktik des ‚teile und herrsche!‘.

Dabei möchtest Du, ein ganzes Jahrzehnt lang engagiert gewesen im Kampf gegen Unmenschlichkeit, nunmehr auch Deinerseits mitmachen? Und nach einem Selektionsprinzip, das wir eigentlich von ganz woanders her kennen, nur noch den ‚eigenen‘ Leuten helfen, anderen, zum Teil noch viel stärker hilfsbedürftigen Menschen aber nicht — ganz im Gegenteil!?

Mitmenschlichkeit, die sich derart aufspalten würde, wäre keine wirkliche Mitmenschlichkeit mehr. Es wäre nur noch nationalistische Gnadenaktswillkür. Sie wäre das Gegenteil jeder wirklichen Humanität. An dieser Tatsache wirst auch Du Dich nicht vorbeischreiben können — selbst mit noch längeren Aufzählungen eigener Leiden oder der Leiden anderer aus der Eigengruppe nicht. Irgendwo in Deinem Innern wirst Du Dir das selber nicht glauben können, und Du wirst selber irgendwo in Deinem Innern spüren, dass Du Dich belügst.

Ich hoffe immer noch, dass Du zurückfindest zu Dir selber und nicht zum Handlanger eiskalter Abendlandfaschisten wirst.

Dein Holdger“

Auch dieser letzte Klärungsversuch führte zu keinem Ergebnis.

Nachtrag eins: Den Aufruf von Karl Lempert gegen PEGIDA unterschrieben bis heute rund 520.000 Menschen.

Nachtrag zwei: Inzwischen hat sich auch Margot M. von PEGIDA distanziert. Folge dieses Mailwechsels? — Wir wissen es nicht.


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