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Gefangen im Netz

Gefangen im Netz

Die künstliche Realität beherrscht die eigentliche Wirklichkeit.

Wer hat schon einmal bei einer Geburt geholfen? Wer einen sterbenden Menschen begleitet? Wer war dabei, als ein Tier geschlachtet wurde? Wer hat einen Verwundeten versorgt? Wer setzt sich zu alten Menschen und kümmert sich um sie? Wer wacht am Krankenbett? Wer kennt sich in der Pflege aus? Wer kann einen Garten anlegen?

Wer weiß, wann welche Frucht reift? Wer kann Vogelstimmen voneinander unterscheiden, wer in den Sternen lesen, Kleidung herstellen, eine Behausung bauen? Wer kann ein schmackhaftes Essen zubereiten, eine Geschichte erzählen, ein Kind trösten?

Für viele Menschen gehören diese Dinge nicht mehr zum Leben dazu. Der Alltag wird von einer anderen Realität beherrscht: Krieg in der Ukraine. Krieg in Gaza. Aufrüstung in Europa. Die Taten anderer Menschen. Es sind Informationen, die wir in Zeitungen lesen und auf Bildschirmen verfolgen. Sie geschehen nicht vor unseren Augen. Wir können sie nicht mit unseren Sinnen erfassen und haben folglich keinen direkten Bezug zu ihnen.

Die meisten von uns haben noch nie einen Verletzten gesehen, einen Verwundeten gepflegt, einem Toten die Augen geschlossen. Die meisten haben noch nie gehungert, mussten nicht in Nässe und Kälte ausharrend auf halb verdorbene Lebensmittel warten oder sich fürchten, die kommende Nacht nicht zu überleben. Die meisten haben noch nie den zerrissenen Leib ihres Kindes, ihrer Mutter, ihres Geliebten in den Armen gehalten. Das, was wir auf den Bildschirmen sehen, haben die meisten noch nie erlebt. Es war noch nie ihre Realität. Es ist die der anderen.

Aufgepropft

Der Begriff Realität ist vom lateinischen „res“ abgeleitet: Sache und beschreibt das wirkliche und tatsächliche Vorhandensein einer Sache oder eines Gedankens. Als real gilt gemeinhin das, was allgemein Gültigkeit hat, unabhängig von einem einzelnen Betrachter und dessen Handeln und Urteilen. Realität kann beeinflusst werden. Die Medienrealität etwa ist eine von den Faktoren der medialen Kommunikation beeinflusste Realität, die sich von der Realität eines direkt vor Ort Betrachtenden erheblich unterscheiden kann. Als virtuelle Realität versteht man eine vom Computer simulierte künstliche Wirklichkeit.

Die Zeit, die die meisten von uns hinter einem Bildschirm verbringen, birgt die Gefahr, dass wir die medial-virtuelle Realität stärker bewerten als das, was eigentlich um uns herum ist. Im privaten wie im öffentlichen Raum sind die meisten Gesichter über ein Smartphone gebeugt.

Auf Schritt und Tritt tragen wir das, was andere uns als Realität vermitteln, mit uns herum und vernachlässigen dabei unsere eigene Realität.

So glaubt mancher weniger das, was er mit eigenen Sinnen erfassen kann, sondern das, was über Bildschirme zu ihm kommt. Doch hat jemand die Konvois mit den Särgen wirklich gesehen? Wer war in den Krankenhäusern? Wer ist in die Ukraine gereist, nach Russland, nach Gaza? Wer hat mit Trump oder Putin gesprochen? Dennoch erlauben sich viele Menschen Urteile und Meinungen über Ereignisse, von denen sie eigentlich keine Ahnung haben, und sind bereit, für Informationen, deren Wahrheitsgehalt sie nicht kennen, familiäre und freundschaftliche Bindungen zu opfern.

Die virtuelle beherrscht die eigentliche Realität, das, was vor Ort geschieht. Anstatt in das eigene Wahrnehmen, das eigene Fühlen zu gehen, sprechen viele papageienhaft nach, was sie anderswo aufgeschnappt haben. Hierbei erscheint etwas um so glaubwürdiger, je öfter es wiederholt wird und je mehr Menschen es nachsprechen.

Ich sehe was

Meine Realität sieht in diesem Moment so aus: Ich sitze in einem Gartenstuhl, gerade ist die Sonne hinter einer Wolke verschwunden. Zu meinen Füßen schnurrt eine Katze. Der Wind rauscht ein wenig in der Palme über mir. Auf dem Platz vor dem Haus fährt ein Auto vorbei. Keine Spur von den Informationen, die mich erreichen, wenn ich ein Gerät einschalte.

Es ist mir keineswegs egal, was anderswo passiert. Ich fühle mich verbunden mit meinen Brüdern und Schwestern überall auf der Welt und spüre das Seufzen der Mutter Erde unter ihrer schweren Last. Doch ich lasse es mir nicht nehmen, diesen Moment als schön und angenehm wahrzunehmen.

Hier kann ich sein. Hier kann ich wirken. Nur das, was hier bei mir ist, kann ich mitgestalten.

Heute ist wieder einer der Donnerstage, an denen ich einen Foodtruck eingeladen habe. Er hält auf dem Platz vor meinem Haus. Ich öffne meine Garage, in der alles bereit ist. Es kann kommen, wer will. Vielleicht bringt jemand seine Gitarre mit oder ein anderes Instrument. Vielleicht wird gesungen. Vielleicht klingen dort, wo die meisten Menschen vor Bildschirmen hängen, Lieder in die Nacht hinaus. Vielleicht werden neue Freundschaften entstehen. Vielleicht werden sich Gespräche darüber entwickeln, was gerade in der Welt passiert.

Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich kann nur den Rahmen schaffen, gewissermaßen ein Feld anbieten, auf dem etwas geschieht. Alle zusammen werden wir etwas erschaffen, was wir Realität nennen. Diese Realität ist echt. Innerhalb dieser Wirklichkeit wird jeder die Situation auf ganz eigene Weise wahrnehmen. Eine Objektivität wird es nicht geben, nichts, was allgemein gültig und unabhängig von einem der Betrachtenden wäre. Die echte Realität lässt jedem Platz für die eigene Wahrnehmung.

Film im Kopf

Nur die künstliche, medial-virtuelle Realität nimmt für sich Allgemeingültigkeit in Anspruch. Nur manipulative Kräfte behaupten zu wissen, was fake und was wahr ist. Daran können wir sie erkennen. Sie machen Subjekte zu Objekten, die sie beherrschen können, und behaupten, es gebe „die“ Realität, so wie es „die“ Wissenschaft“ geben soll.

Realität formt sich vorm Auge des Betrachters. Auf ihn kommt es an. Zwischen den verschiedenen Betrachtungsweisen können Welten liegen. Der Welle-Teilchen-Dualismus lässt die Frage unbeantwortet, ob ein Elektron ein Teilchen ist, also etwas „Festes“, oder eine Welle, etwas energetisch Existierendes. Der Betrachtende sieht, was er sehen will.

Somit ist jeder verantwortlich für seine Realität. Meine Realität ist wie ein Kind, für das ich Sorge zu tragen habe, wenn es in der Welt mitspielt. Wie sehe ich die Dinge? Mit verächtlich-strafendem Blick oder mit herzlichem Wohlwollen?

Jeder hat selbst dafür Sorge zu tragen, welche Bilder in seinen Kopf kommen und welche Filme sich entwickeln. Jeder ist für seine eigenen Vor-Stellungen verantwortlich, für die Filter, die er zwischen sich und die Wirklichkeit schiebt und durch die er die Welt betrachtet. Jeder ist selbst dafür zuständig, diese Filter zu reinigen, damit nicht immer wieder die gleichen Geschichten auf die Leinwand in seinem Kopf projiziert werden und sich immer wieder die gleichen Szenen abspielen.

Natürlich echt

So träume ich von einer Welt, in der die Menschen nicht wie Klatschtanten in ihren Fenstern hängen und jeder Sau nachblicken, die durchs Dorf getrieben wird, von einer Welt, in der jeder Sorge für seine eigene Realität trägt und vor der eigenen Haustür kehrt.

Ich gönne mir einen weiteren Augenblick der Ruhe und schaue den Insekten nach. In der Natur ist alles echt. Hier ist sie, die Wirklichkeit, die durch die medial-virtuelle Realität verdrängt werden soll. Hier finde ich Orientierung und Trost.

Es rührt mich tief, die Tier- und Pflanzenwelt am Werk zu sehen. Sie machen einfach, was zu machen ist, ohne sich darum zu kümmern, was auch nur ein paar Meter weiter los ist. Alles in der Natur folgt einem inhärenten Rhythmus. Alles vollzieht sich zyklisch, integriert in den unaufhörlichen Zyklus des Werdens und Vergehens.

Dieses Vibrieren, diese Vielfalt ist meine Wirklichkeit. Sie ist nicht fern von mir. Ich bin in sie integriert, bin ein Teil von ihr. Jenseits der Bildschirme kann ich nichts ausrichten. Doch hier, bei mir, kann ich eine Art Akupunkturpunkt sein, der mit dem Ganzen in Verbindung steht. Von hier aus kann ich Impulse aussenden, die, vielleicht, anderswo aufgefangen werden. Und vielleicht auch nicht.


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