Ist jeder, der kulturelle Vielfalt schätzt, ein Nazi? Ist jeder, der die Kultur der eigenen Heimat schätzt, ein Nazi? Ganz persönliche Gedanken einer linken, deutschen Internationalistin, die sich vor 25 Jahren in Österreich auf dem Land niedergelassen hat, die aber nie und nirgendwo eine kulturelle Heimat hatte.
Muss man es sich wirklich gefallen lassen, dass die Verbrecher aus der NS-Zeit dadurch verharmlost werden, dass buchstäblich jeder so genannt wird, der die besseren Argumente hat und anders nicht „mundtot“ zu machen ist? Den Kriegstreibern wird es gefallen, wenn jemand zumindest „mund-tot“ gemacht wird. Doch gerade in Zeiten, in denen Kriegsprofiteure Menschen wieder systematisch aufeinanderhetzen, ist es sinnvoll, sich auf das Gemeinsame zu konzentrieren: die völlig verschiedenen Kulturen.
Ich denke, niemand wird mir vorwerfen können, eine „stolze Deutsche“ zu sein, mit nationalen oder gar nationalistischen Ambitionen ausgestattet. Seit meiner Kindheit hatte ich zu dem Land, in dem ich geboren war, ein gespaltenes Verhältnis. Ich habe mich nie zugehörig gefühlt. Geprägt durch jüdisch-italienisch-kroatisch-preußisch-amerikanische Einflüsse in der Familie war ich in der deutschen Umgebung, in der ich aufwuchs, immer und überall die Außenseiterin.
Europäerin – ohne nationale Identität
Ich war mir sehr bewusst, dass ich europäisch sozialisiert war. Gewisse preußische Werte, die ich von meinem Großvater übernommen habe, hätten mir Leben und Arbeiten in Mexiko enorm erschwert – auch wenn ich Lateinamerika und die lateinamerikanische Mentalität sehr zu genießen weiß. Die – früheren – deutschen Eigenschaften wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Korrektheit erschienen mir für mein Berufsleben doch wichtig, sodass ich nach Abschluss meines Studiums, den ich mit einer längeren Reise durch Mexiko feierte, nicht ausgewandert bin, obwohl ich in sehr kurzer Zeit dort „angekommen“ war. Ich sprach sehr schnell ausreichend Spanisch und hatte an mehreren Orten Menschen kennengelernt, bei denen ich hätte bleiben können, wenn ich gewollt hätte.
Ich war anders als „die anderen Deutschen“. Ich wuchs zuhause mit internationaler Küche auf. Mehrsprachig. Espresso war bei uns der einzig wahre Kaffee, die deutsche Filter-Plörre einfach indiskutabel.
Spaghetti waren Normalität, dafür war mir Erbsensuppe fremd. Deutsche Musik, also deutsche Schlager und besonders die deutsche Volksmusik fand ich – im Vergleich mit der Lebensfreude der griechischen, lateinamerikanischen oder israelischen Musik – einfach nur unerträglich.
Wenn die deutsche Fußballmannschaft spielte, kam ich nicht auf die Idee zuzuschauen. Spielte dagegen Italien, jubelte ich, obwohl mich Fußball nie interessierte. Deswegen flog ich sogar mal aus einer Kneipe, was meinem damaligen Freund enorm peinlich war. Ich ging eben ganz klar auf Distanz zu diesem deutsch-nationalen Umfeld, das in den 1960er und 1970er Jahren mit einem nicht zu unterschätzenden Grad an ehemaligen NSDAP-Mitgliedern durchsetzt war. Mit diesem verband mich nichts, dafür hatte ich null Sympathie. Aus Gründen. Der alte Mief war überall noch zu spüren, bis der Wind der 68er dann nach und nach für einen Umbruch sorgte.
Erst in der zionistischen Jugend beziehungsweise im jüdischen Studentenverband stellte ich fest, dass meine Einstellungen und Erfahrungen nichts Ungewöhnliches waren. Die familiären Umstände der meisten Mitglieder des Studentenverbandes – auch wenn sie mehrheitlich aus Russland, Rumänien, Polen oder den USA stammten, ähnelten sich in vielerlei Hinsicht. Ich gehörte auf einmal dazu. Ich war nicht mehr die Einzige, für die Knoblauch ein völlig normales Gewürz war, in Deutschland der 1970er Jahre war Knofi noch wenig verbreitet. Ich war nicht die Einzige, die mehrsprachig aufgewachsen war und in deren Familie endlos diskutiert und politisiert wurde. Aber da ich auch nicht religiös erzogen und eigentlich agnostisch aufgewachsen war, stand auch hier etwas Trennendes zwischen mir und den meisten anderen Studenten in unserem Verband. Diese hielten Shabbat ein und befolgten oft auch die koscheren Essensregeln, während ich auf Gambas oder Speck definitiv nicht verzichten wollte.
Reisen – insbesondere Auslandsreisen – waren aber für mich seit frühester Kindheit Normalität. Meine Mutter hatte immer wieder das Bedürfnis, „aus Deutschland rauszukommen“. Seit meinem 13. Lebensjahr war ich auch allein in „fremden Ländern“ unterwegs. „Ausland“ stand für mich immer für „Neues erfahren“, mein Weltbild erweitern, fremde Kulturen kennen und schätzen oder auch ablehnen zu lernen.
Europas Einheitsbrei westlicher Prägung
Da ich in den letzten Jahrzehnten nicht die klassischen Reiseziele – schon gar nicht mit Unterstützung touristischer Reisegruppen – wählte und meist außerhalb Europas unterwegs war, fiel es mir lange Zeit nicht auf, wie sehr sich dieser Teil der Welt verändert hat.
Erst 2016 wurde mir das zum ersten Mal wirklich krass bewusst. Bei einer Autofahrt von Österreich nach Bosnien empfand ich es als ein richtiges Aufatmen, die Grenze nach Bosnien zu überqueren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten mich die Städte und Dörfer in Slowenien und Kroatien immer wieder an Österreich erinnert, mit ihren Raiffeisenbanken, OMV-Tankstellen, Spar-Supermärkten und was nicht alles an internationalen Ketten dort vertreten war.
In Bosnien gab es das noch – das „Ausländische“, das „Andere“, das „Neue“. Die regionalen Geschäfte, die nicht alle gleich aussahen. Städte und Dörfer sahen einfach anders aus.
Zur Kultur des Landes kann ich nichts sagen, da ich mir primär die bosnischen Pyramiden näher anschauen wollte, über die ich schon so viel gehört und gelesen hatte, die ich bis dato aber nur im Internet kennengelernt hatte. Mit bosnischen Traditionen habe ich mich nicht beschäftigt. Aber ich war merklich „im Ausland“ – und das fühlte sich richtig gut an. Denn ich war interessiert daran, Neues und Anderes zu sehen und kennenzulernen.
2023 besuchte ich in Griechenland eine Bekannte und war einfach nur schockiert und frustriert. Ich kannte Griechenland von Reisen seit meiner Jugend, war aber rund 20 Jahre nicht mehr dort gewesen. Ich hatte ein Bild im Kopf, das sehr viel mit Bouzoukia, Zorbas, alten Männern in Kafenia, die Backgammon spielten neben Menschen, die mit dem Komboloi in der Hand den Tag verstreichen ließen.
Dort, wo meine Bekannte wohnt, ist kein deutsches Touristen-Ghetto. Es gibt zwar dort auch Touristen, der Ort liegt am Strand, aber mehrheitlich griechische Touristen, in größerer Anzahl noch Bulgaren und ansonsten Menschen von überall her.
Was ich in der Zeit, in der ich bei ihr war, nicht einmal hörte, war griechische Musik, die am Strand gespielt wurde. Überall tönte aus den Lautsprechern der musikalische Einheitsbrei an Musik, den man auf der ganzen Welt hören kann. Nicht einmal sah ich alte Männer im Kafenion mit Komboloi oder Backgammon – obwohl ich viel durch die Gegend lief.
Ein junger Bouzouki-Spieler, den ich durch meine Bekannte kennenlernte, erzählte, dass die Menschen an dieser Art von Musik nicht mehr interessiert seien, dass alles ziemlich gleichgeschaltet wäre und man für einen Auftritt am Abend ganze 25 Euro bekommen würde. Dazu hatte er aber auch keine Lust.
Wo war das Griechenland meiner Jugend, in dem ich getanzt, Teller zerschmissen und das Leben gemeinsam mit Griechen genossen habe? Da wurde mir erneut bewusst, wie regionale Kulturen mehr und mehr zerstört wurden und werden.
Nur Kulturerhalt sichert Vielfalt
Ich gestehe, diesen Verlust habe ich bei deutscher oder österreichischer Heimatmusik nicht wahrgenommen. Ich war eben nur ein Mensch, der in Deutschland geboren wurde und einen deutschen Pass hat. Das Land und viele seiner Werte mir ungefähr so viel bedeutet wie Habeck.
Heimatverbundenheit, Lederhosen, Erbseneintopf ... für mich war das alles kein Genuss und die deutschen Schlager stellten eine Beleidigung für meine Ohren dar.
Aber Geschmack ist bekanntermaßen Geschmacksache und ich habe inzwischen akzeptieren gelernt, dass es unterschiedliche Geschmäcker gibt, dass mein Geschmack nicht das Maß aller Dinge ist.
Letztes Jahr bekam ich endgültig einen anderen Blickwinkel auf diese regionalen, kulturellen Besonderheiten, die nach und nach verloren gehen. Was mir 2016 erstmals in Form der bosnischen Supermärkte bewusst wurde: Der Einheitsbrei ist einfach nicht mehr zu übersehen.
Selbst in Ländern wie Paraguay und Nicaragua, die ich als letzte bereiste, merkte ich schon etwas von diesem Internationalismus, aber Gott sei dank zu wenig, um zu fühlen, dass ich „im Ausland“ war. Das scheint mir in vielen Teilen Europas – insbesondere im Westen der EU – leider verloren gegangen. Natürlich gibt es unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Mentalitäten, unterschiedliche Verhaltensweisen und regionale Küche. Aber Starbugs, McBrech & Co sind aus den Stadtbildern nicht mehr wegzudenken. Alles Ursprüngliche verschwindet zunehmend.
In Griechenland hatte ich mit einigen Menschen meines Alters – sprich 60plus – gesprochen, die den Verlust der traditionellen, kulturellen Elemente ebenfalls enorm bedauerten. Denn es geht ja nicht nur um Musik. Die Musik, die Kafenia, das Tanzen stehen für ein Lebensgefühl – das man mag oder auch nicht. Das man dann vermisst oder auch nicht. Ich habe es sehr gemocht und habe es in meinem Griechenlandurlaub 2023 sehr vermisst.
Genauso stehen Schuhplattler, Zither und Lederhosen für ein Lebensgefühl – das man mag oder auch nicht. Aber wer bei uns Lederhosen oder Dirndl trägt und für den Erhalt von Almdudler und ähnlichen regionalen Besonderheiten plädiert, wird schnell in die rechte Ecke gerückt.
Nein. Das sind keine Nazis, das sind Menschen, die kulturelle Besonderheiten und damit die bunte Vielfalt der Kulturen erhalten wollen. Das ist die Vielfalt, die von der woken Mehrheitsgesellschaft gefordert wird.
Diese kulturelle Vielfalt, die man aber pflegen muss und zwar jede und in allen Ländern beziehungsweise Regionen, bietet dann jedem die freie Wahl zu tun, was ihm gefällt – oder eben nicht.
Ich persönlich habe eben mehr Freude an einer Bouzouki als an einer Zither. Das macht die Zither nicht schlechter als die Bouzouki. Das macht die Zither nicht nationaler als die Bouzouki.
Ich hoffe, dass die Bouzouki überlebt und dass meine Erfahrung, die ich in Griechenland gemacht habe, nur ein unglücklicher Ausschnitt war. Dass an anderen Stellen in Griechenland noch die Traditionen gelebt und gepflegt werden, die ich seit meinem 13. Lebensjahr kenne – und liebe. Ich hoffe aber auch, dass die Zither überlebt. Und der Dudelsack. Und ...
Solange patriotische Kreise, die gemeinhin im politisch rechten Spektrum angesiedelt und sehr heimatverbunden sind, die Kultur und Werte anderer Länder nicht herabwürdigen, habe ich als politisch Linke mit deren Haltung kein Problem.
Darin unterscheiden sich deutsche, österreichische, griechische oder bosnische Patrioten vermutlich nicht. Der jeweilige Geschmack ist ein anderer. Nicht besser, nicht schlechter – anders.
Ich hoffe, dass die Kulturen sich nicht komplett westlich vereinheitlichen und sich den westlichen Geschmacksvorstellungen angleichen, sondern dass genau diese Vielfalt erhalten bleibt.
Wenn mich das in den Augen der Wokeness-Verfechter zu einem Nazi macht – dann sollen sie mich eben einen Nazi nennen.
PS. Wer meint, die entsetzlichen Verbrechen der Nazizeit derartig verharmlosen zu müssen, wird es vermutlich nötig haben, weil ihm die Argumente fehlen. Was soll's!
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.