Müssen wir alle auf die Couch?
Die Coronakrise hat unsere Gesellschaft so gespalten wie kaum ein anderes Ereignis. Der Psychiater, Neurobiologe und systemische Psychotherapeut Raphael Bonelli erläutert in einem Interview mit Milena Preradovic Anfang November die psychologischen Ursachen für die derzeitige Situation. Und er schlägt Wege vor, die Gesellschaft zu befrieden. Laut seiner Einschätzung befinden wir uns in einer „narzisstischen Empörungsgesellschaft“, die sich zu viel von Bauchgefühlen leiten lässt.
Angst ist der falsche Ratgeber
Vor allem Angstgefühle sind „vorvernünftig“ und brauchen laut Bonelli „die Kontrolle der Vernunft“. Was passiert, wenn diese ignoriert wird, durften wir alle in den letzten zweieinhalb Jahren erleben. Ein Mensch mit Angststörung geht „exzessiv in die Sicherheit. Aber zu viel Sicherheit entwickelt sich dann in Richtung Zwangsneurose.“ Und diese ist seit Corona gesellschaftsfähig geworden, was gravierende Folgen hatte. Eine Gesellschaft, die „sicher ist sicher“ zum kategorischen Imperativ erhoben hat, wird jegliches Sozialleben für Keimfreiheit opfern. Es gibt „keine Lebensperspektive vor lauter Sicherheit“.
Besonders menschenverachtend wurde dabei in den letzten zweieinhalb Jahren in Seniorenheimen agiert. Hier wurde alles unterbunden, was das Leben ausmacht: soziale Kontakte zur Familie, geselliges Beisammensein, ja sogar therapeutische Behandlungen. Die älteren Mitbürger wurden im wahrsten Sinne zu Tode geschützt, ein unverzeihlicher Vorgang.
Bonelli sieht die Entwicklung, dass wir „von der Lustgesellschaft in rasenden Schritten innerhalb von wenigen Jahren in eine Angstgesellschaft geschlittert sind“.
Eng verbunden mit dem Bauchgefühl Angst ist das Bauchgefühl Aggression. Dies ist eine Erklärung, warum besonders ängstliche Menschen sich auch besonders aggressiv gegenüber den vermeintlich Schuldigen verhalten haben.
Solidarität oder Angst vorm eigenen Tod
Was war also die treibende Kraft beim Weg in diese „kollektive Zwangsneurose“? War es die vielbeschworene Solidarität? Der vorgegebene Schutz der Vulnerablen vor der Krankheit? Oder war es doch ganz profan die Angst vor dem eigenen Tod?
In den Mainstreammedien wurde vor allem diese Angst erfolgreich getriggert. Exemplarisch dafür stehen die „Bilder von Bergamo“, die Militärtransporter beim Abtransport der Coronatoten zeigten. Sie durften aus Hygienegründen nicht beerdigt werden, sondern wurden zur Einäscherung in die umliegenden Krematorien gefahren. Diese Bilder verfehlten ihre Wirkung nicht und werden bis heute noch als Rechtfertigung für die harten Maßnahmen herangezogen. Jedes vernünftige und abwägende Argument und jeder abweichende wissenschaftliche Fakt wurde seinerzeit mit der Moralkeule erschlagen. Auch die ständige Zurschaustellung von Intensivpatienten im Fernsehen zielte ausschließlich auf das Bauchgefühl der Zuseher. Das Gehirn bleibt dabei weitgehend ausgeschaltet.
Das Bauchgefühl ist nur ein Frühwarnsystem, Hirn und Herz sind ebenso wichtig
Raphael Bonelli schlägt deshalb vor, nicht nur aus dem Bauch heraus zu handeln. Gerade Menschen mit Angststörungen sollten erstmal trainieren, den Kopf einzuschalten. Er übt mit seinen Patienten, die „Gefahr ins Verhältnis setzen zu dem, was ich verliere“. Die entstehenden Kollateralschäden sind ein massiver Verlust der Lebensqualität. Für Bonelli ist es notwendig, Bauchgefühle wahrnehmen zu lernen und den Kopf und das Herz bei Entscheidungen zwischenzuschalten. So soll Verhalten wieder auf eine rational sinnvolle Ebene gestellt werden.
Gesamtgesellschaftlich wurde in den letzten zweieinhalb Jahren das Gegenteil getan. Es wurde massiv die Angst vor dem Tod geschürt. Wer noch des rationalen Denkens fähig war, musste miterleben, wie Entscheidungen getroffen wurden, die gegen jede Logik und Menschlichkeit verstoßen haben.
Ein Beispiel für diese intellektuelle Vergewaltigung ist die Entscheidung, dass zwar niemand, sei er noch so alt und multimorbide, an Corona versterben darf, aber es im Gegenzug durchaus gerechtfertigt ist, bei Badeunfällen verunglückten Menschen aus Hygienegründen keine Atemspende mehr zu geben, wie es die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft e.V. im Juli 2020 formulierte. Hier wird konkret Leben gefährdet, während der Nutzen zweifelhaft ist. Dieses Verhalten aus dem Bauch heraus verstößt nicht nur gegen logisches Denken, sondern auch gegen sämtliche moralische Werte, ist also zusätzlich noch eine Entscheidung gegen das Herz.
Auch wer brav „der Wissenschaft“ folgte, musste flexibel im Kopf bleiben, so schnell änderten sich die Erkenntnisse: Maske nein — Maske ja, Lockdowns schaden — Lockdowns schützen, Kindertagesstätten offen lassen — Kindertagesstätten schließen, bis hin zu: Impfung schützt verlässlich vor Übertragung — aber Durchbruchsinfektionen sind möglich.
Die Spaltung der Gesellschaft wurde laut Bonelli besonders durch den „moralischen Narzissmus“ befeuert. Das richtige Verhalten im Pandemiegeschehen diente dabei der „moralische(n) Selbsterhöhung und Fremdabwertung“. Die Kritiker der Maßnahmen wurden auf eine Art und Weise diffamiert, dass sie nicht mehr am öffentlichen Diskurs teilnehmen durften.
„Das, was du machst, ist so falsch, dass sogar ein Dialog mit dir falsch wäre.“ Für Bonelli war das eine weitere Triebfeder. „Corona diente als aktive Selbsterhöhung der Menschen, weil sie sich so als gute Menschen fühlen konnten, dem anderen moralisch überlegen“. Das ging so weit, dass selbst „Deeskalation als moderne Sünde“ behandelt wurde.
Ein weiteres gesellschaftliches Problem ist laut Raphael Bonelli die Manipulierbarkeit der Menschen, wenn sie ihre Emotionen nicht reflektieren, „sowohl die Angst als auch den Hass“. Dabei war der Hass auf Andersdenkende aus Angst vor einer Krankheit für ihn besonders beeindruckend. Hier sieht er Redebedarf. „Ich glaube, es muss zurechtgerückt werden, dass das nicht alles Spinner waren, sondern eher Propheten.“ Gesellschaftlich wieder Gerechtigkeit herzustellen wird aus Bonellis Sicht sehr schwierig. Es ist „keine Sache eines Psychiaters, sondern eines Richters“.
Wir müssen alle auf die Couch!
Raphael Bonelli weiß, dass Menschen mit psychiatrischen Krankheitsbildern leicht geholfen werden kann, „die Gesellschaft rausholen ist ein bisschen schwieriger.“ Heilsam ist das Ausformulieren von Gefühlen und das gemeinsame Reflektieren. Die im Moment vorherrschende Intoleranz empfindet er als äußerst störend für die Aufarbeitung: „Niemand darf über das Postulat des anderen überhaupt nachdenken.“ Für eine Deeskalation müssten die unterschiedlichen Positionen angehört und Lösungen für ein friedliches Miteinander gesucht werden. „Das Zeitalter der Vernunft wird kommen.“ Es ist aber laut Bonelli noch weit entfernt.
Was bedeutet das für uns als Gesellschaft? Zuallererst müssen wir wieder lernen, unsere Ängste zu reflektieren, den Verstand wieder einzuschalten und miteinander auf Augenhöhe zu kommunizieren. Dieser Schritt wird für die Menschen, die dem Corona- Narrativ folgten, die größte Herausforderung. Nach jahrelangem Diffamieren und Verspotten dem Gegenüber zugestehen zu müssen, dass seine Position vielleicht doch richtig war, erfordert viel menschliche Größe. Aber nur dann ist ein ehrliches Vergeben und damit eine gesellschaftliche Aufarbeitung der vergangenen Jahre überhaupt möglich.
Also machen wir uns als Gesellschaft auf den Weg und treffen uns bei Raphael Bonelli auf der Couch, um das Miteinanderreden wieder neu zu erlernen.
Corona-Amnestie? — Punkt.PRERADOVIC mit DDr. Raphael M. Bonelli
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