Wir verfolgen mit dieser Betrachtung die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus als wissenschaftlichen Ansatz. Der Vorschlag ist mittlerweile über 100 Jahre alt. Er geht auf Rudolf Steiner zurück, der ihn in den Kernpunkten der sozialen Frage (2) zuerst schriftlich ausgeführt hat.
In den Fesseln methodischer Verengung
Die Methodik der Demokratie ist das Prinzip der Abstimmung. Es ist fast überflüssig, es hier zu paraphrasieren, so bekannt ist es, so sehr sind wir daran gewöhnt: Das Prinzip der Abstimmung besteht in der Feststellung einer Stimmenmehrheit unter zuvor hergestellter Gleichheit aller Stimmen. Diese kurze Charakteristik nennt alle wesentlichen Elemente des Abstimmungsprinzips. Was darüber hinausgeht, schafft zusätzliche Spezifika, die das Prinzip verschärfen können. Oder es — genau betrachtet — aushebeln.
Die zwei Grundmerkmale des Abstimmungsprinzips sind also: Erstens wird die Bedingung gesetzt, dass alle Stimmen gleichbedeutend sind. Zweitens geht es ausschließlich um die Feststellung einer Stimmenmehrheit. So gesehen ist das Abstimmungsprinzip ein Rasenmäherprinzip, es macht einheitlich.
Die Feststellung der Mehrheit kann insofern verschärft werden, als die Formel, mindestens die Hälfte aller Stimmen plus eine ist entscheidend, zum Beispiel abgeändert werden kann in „mindestens zwei Drittel aller Stimmen ist entscheidend“. Dieses Verhältnis wird oft für besonders grundlegende Entscheidungen gewählt. In der Bundesrepublik Deutschland (BRD) zum Beispiel für Änderungen am Grundgesetzes (GG). Es wäre denkbar, diese Relation noch weiter hochzuschrauben, auf drei Viertel oder gar absolute Einstimmigkeit. Damit würde das Prinzip verschärft, aber nicht in seinem wesentlichen Kern verändert.
Ein Gegenbeispiel, also ein zusätzliches Spezifikum, das das Prinzip der Abstimmung aushebelt, ist die sogenannte Vetostimme. Wir sind an die Möglichkeit der Vetostimme gewöhnt. Es gibt zum Beispiel Staaten, die das Recht dazu im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben. Wenn wir es aber genau besehen, hebelt die Existenz der Vetostimme die Bedingung der Stimmengleichheit aus. Denn sie verschafft ja ein zusätzliches Recht: das Recht einer einzelnen Partei, eine Entscheidung zu blockieren.
Damit ist die Voraussetzung der Gleichheit aller Stimmen nicht mehr gegeben, das Prinzip der Abstimmung also in seinem Grundzug ausgehöhlt. Das wird uns noch deutlicher, wenn wir auf die Einstimmigkeit zurückkommen. Sie ist eine krasse Forderung, erfüllt aber das Prinzip der Abstimmung, da zwar eine einzige Stimme das Zustandekommen einer Entscheidung verhindern kann; es könnte aber jede Partei sein, die diese Stimme abgibt, und nicht nur eine privilegierte, es ist also ein allgemeines Recht. Die privilegierte Stimme mit Vetorecht aber ist, eben weil sie privilegiert ist, nicht mehr allen anderen gleich.
Eine Anmerkung zum Konsens
Da es zur Zeit eine starke Bewegung gibt, das Konsensprinzip für die demokratische Willensbildung heranzuziehen, möchte ich kurz darauf eingehen. Auch, weil wir mangels ausreichender Differenzierung momentan praktisch jede gesellschaftliche Willensbildung als demokratische verstehen. Das Konsensprinzip ist durchaus ein sinnvolles Prinzip gemeinschaftlicher Willensbildung. Ich will es dennoch für den Moment aus der Betrachtung ausklammern, da es uns bei der Untersuchung über die Grenzen des Abstimmungsprinzips nicht hilft.
Es ist wie mit Klammeraufgaben: Wir klammern aus, bis die Gleichung in ihrer einfachsten Form vorliegt. Unsere Gedanken zum Abstimmungsprinzip führen uns von selbst später wieder zum Konsensprinzip zurück. Wir werden dann sowohl feststellen, dass es ein geeignetes Prinzip gemeinschaftlicher Willensbildung ist, als auch einsehen, warum es als Methode für demokratische Entscheidungen nicht geeignet ist. Und auch verstehen, warum es uns jetzt aber sehr wohl so scheint, als sei es für die demokratische Willensbildung geeignet.
Es ist für bestimmte Fragen sinnvoll, am einfachen Prinzip der Abstimmung festzuhalten und nur diese als demokratische Fragen zu bezeichnen. So einleuchtend diese Methode ist, so wenig ist uns in der Regel bewusst, wo ihre Grenzen liegen. Denn in der alltäglichen Politisierung unseres Lebens kommen sie eigentlich nirgends wirklich zur Geltung. Zu stark sind die Überlagerungen durch sachfremde Fragestellungen. Wir widerstehen hier der Versuchung, darauf einzugehen, da es nur Staub aufwirbelt, der uns den Blick auf das Wesentliche versperrt.
Kommen wir zurück zu unserer Frage: Was kann das Abstimmungsprinzip eigentlich leisten? Hat es Grenzen, also gibt es Fragen, auf die es keine Antworten geben kann? Wenn ja, wo liegen diese Grenzen? Eine Demokratie, die nicht selber die Grenzen ihrer Methodik aufzeigt, ist von vornherein eine simulative Demokratie. Die Simulation muss mit der Zeit zwangsläufig an Intensität gewinnen. Was also kann das Abstimmungsprinzip leisten? Auf welche Art von Fragen kann es Antworten geben?
Gleichheit vor dem Recht
Eine Frage beispielsweise, auf die wir das Abstimmungsprinzip sinnvoll anwenden können, ist: „Wollen wir, dass Kinder in der BRD ein Recht auf Bildung haben?“ Vermutlich denken Sie jetzt: Aber das ist doch selbstverständlich! Da kann ich Ihnen nur beipflichten, es sollte selbstverständlich sein, dass Kinder ein Recht haben, sich ihrem Wesen gemäß zu entfalten. Momentan ist es aber so, dass es eine Pflicht zum Schulbesuch gibt. Was bitte hat das mit einem Recht auf Bildung zu tun?
Ein Recht auf Bildung wird damit in keiner Weise gewährleistet. Eine Schule kann eine Einrichtung der miserabelsten Art sein; solange sie aufgesucht wird, ist die Pflicht erfüllt. Was aber hilft eine Pflicht dem, der ein Recht braucht? Nichts. Also, die Anwendung des Abstimmungsprinzips auf die Frage “Wollen wir, dass Kinder in der BRD ein Recht auf Bildung haben?“ wäre sinnvoll. Mit dieser Frage geht es um ein zu gewährendes Recht.
Das bringt dann von selbst mit sich, dass Pflichten entstehen. Allerdings nicht aufseiten der Kinder. Sondern aufseiten der Gesellschaft, die sich verpflichtet, die Voraussetzungen für Bildung zu schaffen. Und zwar gleichermaßen für jedes Kind! Die grundlegendste zu schaffende Voraussetzung, um das Recht auf Bildung zu gewährleisten, ist, dass Kinder frei davon sind, zum Lebensunterhalt beitragen zu müssen. Genauso grundlegend ist die Voraussetzung, dass sie sich ihrem Wesen gemäß entfalten können. Also dass sie der Fokus sind, um den sich in ihrer Bildung alles dreht. Und nicht irgendwelche von außen an sie herangetragenen Erwartungen.
Wir können das Abstimmungsprinzip hier anwenden, weil es um eine Frage geht, vor der alle Menschen, respektive alle Kinder, gleich sind. Es ist uns unmittelbar einleuchtend, dass es unmenschlich wäre, manchen Kindern das Recht auf Bildung zu gewähren und manchen nicht. Es geht kurz und bündig um eine Rechtsfrage. Und es ist uns klar, dass alle Menschen vor dem Recht gleich sein sollen. Die Vereinheitlichung ist hier sachgemäß. Das Rasenmäherprinzip ist hier an der richtigen Stelle.
Eine differenzierte Leiterzählung
Um die Grenze hervorzuheben, an der das Abstimmungsprinzip seine positive Kraft verliert und zu einer negativen Macht wird, suchen wir deutliche Beispiele auf. Zugegeben, es sind Extrembeispiele, von denen wir ausgehen. Wenn wir die eingeschlagene Richtung genauer verfolgen, können wir aber das an ihnen Eingesehene in feineren Schattierungen an anderer Stelle wiedererkennen und so zu einer neuen, in sich stabilen Leiterzählung kommen, die Menschenwürde wirklich stützt.
Mehrheitsentscheidungen sind notwendig ihrer Qualität nach nivellierende Entscheidungen. Entscheidungen, die Ungleichheit aufheben, weil sie alles über einen Kamm scheren. Es gibt Fragen, für die wir genau dadurch zu sozial fruchtbaren Antworten kommen. Wenn wir allerdings immer und überall und ausschließlich nach der Aufhebung von Ungleichheit streben, schütten wir das Kind mit dem Bade aus.
Es gibt Aspekte des Lebens, bei denen es absolut darauf ankommt, dass wir eben nicht alle gleich sind, sondern ganz und gar individuell.
Die Richtigkeit einer Aussage zum Beispiel können wir nicht per Mehrheitsabfrage feststellen. Wir können sie immer nur individuell erkennen. Den Satz des Pythagoras können wir nur individuell einsehen. Und wenn ich ihn eingesehen habe, wird mich keine Mehrheit davon überzeugen, dass er falsch ist. Ich kann ihn natürlich, ohne ihn einzusehen, auswendig lernen und für Flächenberechnungen anwenden. Genauso deutlich kann ich aber mein Erlebnis der Erkenntnis, also meiner ganz individuellen Einsicht in die Richtigkeit des Satzes, beobachten und es von der reinen Anwendung durch Auswendiglernen unterscheiden. Es ist ein grundsätzlich anderes Erlebnis. Dieses Erlebnis ist Teil eines Erlebnisfeldes, in dem andere Gesetzmäßigkeiten gelten als im Feld des Abstimmungsprinzips. Und wenn wir doch das Prinzip der Abstimmung in es hineintragen, wird es schief. Es hat gesellschaftlich destruktive Wirkung.
Einsicht können wir nur individuell erringen. Sie hängt immer von Initiative ab. Initiative können wir nur individuell aufbringen, sie ist sonst keine Initiative, sondern extrinsische Motivation. Wir können das Recht auf Bildung verankern. Wir können aber niemals erzwingen, dass es individuell wahrgenommen wird. Vielleicht ist genau das der Grund, warum wir momentan eine Schulpflicht haben: weil wir Angst vor der Freiheit haben, dass das Recht auf Bildung nicht wahrgenommen wird, was natürlich unserer gesellschaftlichen Entfaltung, also uns, schaden würde.
Aber auch wenn wir Angst davor haben — es geht rein sachlich nicht, Bildung zu erzwingen, da sie notwendig immer auf Initiative beruht. Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass, wenn wir wirklich individuelle Entfaltung ermöglichen, diese auch gesucht wird: Kinder sind ihrem Wesen nach neugierig und wollen ihre Fähigkeiten entfalten! Um ganz unmissverständlich klar zu sein: die, die in ihnen liegen! Nicht die, die ihnen jemand von außen aufzwingt. Oberstes Gebot in der Vermittlung von Bildung ist also das Interesse für das Kind, das liebevolle Interesse für das werdende Wesen. Nur daraus kann sich dann ergeben, was im Einzelfall hilfreich und gut ist. Und darauf muss es ein bedingungsloses Recht geben, für jedes Kind.
Das Rasenmäherprinzip
Schauen wir noch mal auf ein Beispiel für die positive Wirksamkeit des Abstimmungsprinzips. Welche Entscheidungen können mittels Abstimmung sehr wohl entschieden werden? Natürlich die, bei denen es eben gerade nicht auf unsere Individualität ankommt. Ein Paradebeispiel ist unsere Straßenverkehrsordnung. Unser Straßenverkehr hat nichts mit unserer Individualität zu tun. Er fließt umso besser, je klarer gilt: alle unter gleichem Recht. Jeder kommt an einer nicht anderweitig geregelten Kreuzung mal von links und steht auf der schwächeren Seite des Vorfahrtsgebotes.
Es gibt keinen Grund dafür, dass ihm aufgrund seiner Einmaligkeit, die ihm als Individuum zweifelsohne eigen ist, anderes Recht zukommt. Es gibt Gesichtspunkte, unter deren Perspektive unsere Einmaligkeit verschwindet. Für die ist es sinnvoll, dem Abstimmungsprinzip zu folgen. Es gibt andere Gesichtspunkte, unter denen unsere Gleichheit verschwindet. Unter diesen können wir nicht, ohne Schaden anzurichten, am Prinzip der Gleichheit festhalten.
Fragen der Erkenntnis, der Kunst und des Glaubens lassen sich nicht demokratisch, also dem Abstimmungsprinzip folgend, beantworten, ohne dass es zerstörerische Auswirkungen hat.
Glaubensfragen haben wir schon lange von der Staatshoheit ausgeklammert. Komischerweise glauben wir immer noch, dass Wissenschaft und Kunst staatlich getragen — also beaufsichtigt und finanziert — sein müssen und können.
Etwas strenger müssen wir also feststellen: Die Fragen, die wir mittels des Abstimmungsprinzips beantworten können, sind auch die, die wir mittels seiner beantworten müssen. Denn es gibt Fragen, bei denen es gerade darauf ankommt, dass wir gleich sind. Wir sollten also sinnvollerweise fordern: Abstimmung darf sich immer nur auf das beziehen, bezüglich dessen wir gleich sind. Deswegen reicht es auch, volljährig zu sein, um wählen zu dürfen. Und deswegen habe ich weiter oben daran festgehalten, dass es sinnvoll ist, einen demokratischen Bereich zu haben, in dem ausschließlich das Abstimmungsprinzip gilt und eben nicht an seiner statt oder ergänzend das Konsensprinzip eingeführt wird.
Vielmehr sollten wir Fragen, zu deren Beantwortung es reicht, volljährig zu sein, klar unterscheiden von Fragen, die darüber hinausgehen — was auf unterschiedliche Art der Fall sein kann —, und diese letzteren Fragen darum vom Feld des Abstimmungsprinzips grundsätzlich fernhalten.
Wenn wir anfangen, diese methodischen Differenzierungen in unserer Gesellschaftsbetrachtung zu berücksichtigen, lichtet sich der Nebel, und wir kommen zu einer differenzierten Rahmenerzählung. Diese führt uns über das Einheitsstaatsdenken hinaus. Das demokratische Prinzip wird ein Prinzip der Gesellschaftsgestaltung. Und kann gerade darum einen Staat hervorbringen, der Menschenwürde stützt und schützt.
Hinter dem Horizont geht es weiter
Was liegt also jenseits der Grenzen, innerhalb derer das Abstimmungsprinzip produktiv wirken kann? Und welche Art der Entscheidungsfindung kann uns dort helfen, unsere Gesellschaft in gesunder Weise zu gestalten?
Einen Aspekt haben wir schon berührt. Er hat uns geholfen, die Grenzen des Abstimmungsprinzips nach einer Richtung zu erkennen. Ich nenne ihn das Prinzip der Einsicht. Es geht darauf zurück, dass wir ebenso individuell sind, wie wir eine Seite an uns haben, von der wir gleich sind. Es gibt daneben — da wir eine weitere Seite an unserem Wesen haben — noch ein anderes Prinzip. Es verweist uns auf einen Lebensbereich ganz anderer Art, der seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Ich bezeichne dieses als das Prinzip der integrativen Urteilsfindung.
Es gibt Lebenszusammenhänge, in denen wir alleine ganz schlicht nicht urteilsfähig sind. Keiner von uns würde in dem Wohlstand leben, in dem er lebt, wenn wir nicht in einer arbeitsteiligen Gesellschaft leben würden. Das bringt aber sowohl mit sich, dass wir zwangsläufig von unseren Mitmenschen — global! — abhängig sind, als auch, dass wir zwangsläufig alleine nicht alles überblicken können, was in diesem Feld vor sich geht. Niemand! Wenn wir das anerkennen und hier darum die Geste der integrativen Entscheidungsfindung verfolgen, kommen wir zu positivsten Ergebnissen. Wir können unser Verlorensein in den Einzelaspekten auflösen, indem wir sie zusammentragen.
Ganz konkret ein Beispiel: Wenn wir nicht Ressourcenverluste erleiden wollen, sollten wir dafür sorgen, dass der Bäcker in unserem Kiez möglichst genau weiß, wie viele Croissants und wie viele Laugenbrezeln an einem ganz konkreten Morgen gewünscht sind. Der Bäcker in unserem Kiez weiß das aus Erfahrung so ungefähr, weil er seinerseits ein Interesse daran hat, keine Verluste zu haben. Er könnte es viel präziser und leichter wissen, wenn wir das Prinzip der integrativen Entscheidungsfindung deutlich in unsere Gesellschaftsstruktur integrieren würden.
Die intransparenten Prozesse der Marktforschung und der Werbung würden überflüssig. Wir würden sie durch ein ehrlich miteinander geführtes Gespräch ersetzen. Wo bekannt ist, welche Bedürfnisse es gibt, kann gezielt auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse hin gearbeitet werden. Einrichtungen, in denen dieser Prozess der integrativen Entscheidungsfindung vollzogen wird, könnten wir Assoziationen nennen. Weil darin das wesentliche Element liegt: im Zusammenschluss derjenigen, die produzieren, mit denen, die konsumieren.
Bitte beachten: also nicht Produzentenvereinigungen und Konsumentenvereinigungen, sondern Einrichtungen, in denen Produzenten und Konsumenten miteinander sprechen. Jeder bringt seine Gesichtspunkte ein, die Gesamtheit an Gesichtspunkten ist also viel vollständiger, als wenn sich nur die einen oder die andern treffen und über das, was sie nicht wissen, im Nebel stochern. So können Entscheidungen zustande kommen, die Verluste minimieren.
Warum uns das interessieren sollte, wo wir doch gar nicht die Betriebsinhaber sind? Na, weil wir mit den Laugenbrezeln und Croissants, die wir kaufen, immer auch die mitbezahlen, die niemand kauft und die darum letzten Endes in der Biotonne landen. Wenn wir das nicht täten, gäbe es unseren Bäcker um die Ecke bald nicht mehr. Wirtschaftlich sitzen wir immer in einem Boot. Das Wohlergehen des einen hängt vom Wohlergehen des anderen ab. Denn die Ausgaben des einen sind immer die Einnahmen des andern.
Die entscheidende Qualität im integrativen Entscheidungsprozess ist, dass einzelne Erfahrungen zusammengetragen werden. Je umfassender das geschieht, desto vollständiger ist die zustande kommende Lösung. Der Unterschied zum Feld, in dem das Abstimmungsprinzip positiv wirken kann, liegt darin, dass wir es hier nicht mit dem Recht zu tun haben, vor dem wir alle gleich sind, sondern wir es mit unseren Bedürfnissen zu tun haben, die betreffend wir im wahrsten Sinne des Wortes voneinander abhängig sind. Alternativ können wir natürlich in die Einsiedelei in den Wald ziehen und uns mit dem begnügen, was der liebe Gott uns schenkt.
Der oben kurz angetippte Konsens ist eine Möglichkeit, das Prinzip der integrativen Urteilsfindung praktisch umzusetzen. Er erscheint uns derzeit als ein geeignetes Mittel der Demokratie, weil wir in unserem Einheitsstaat alle möglichen Fragen versuchen zu beantworten, die gar nichts mit der Gleichheit vor dem Recht zu tun haben, sondern die vielmehr im Feld der gegenseitigen Abhängigkeit liegen. Die zwei Arten von Fragestellungen sind aber grundsätzlich verschieden, wir sollten sie also einfach nicht miteinander vermischen und politisch nur noch behandeln, was sich politisch beantworten lässt: die Fragen der Gleichheit vor dem Recht. Die heute so genannten sozialen Fragen, wie zum Beispiel die Altersversorgung, werden damit nicht ins völlig Private verwiesen, wie es die Liberalisten gern sehen würden. Sondern sie liegen ganz offensichtlich im Feld der gegenseitigen realen Abhängigkeit, dem Feld der integrativen Entscheidungsfindung.
Die Kunst des Perspektivenwechsels
Im Ganzen könnten wir also auch sagen: Es geht darum, einen differenzierten Blick auszubilden. Dieser macht es uns möglich, die Prozesse der Gesellschaftsbildung deutlich gegliedert zu sehen, was unter der ständigen methodischen Verengung des Abstimmungsprinzips unmöglich ist.
Das Prinzip der Abstimmung, das Prinzip der Einsicht, das Prinzip des integrativen Urteils ist die volle methodische Bandbreite, die uns zur Verfügung steht — wir müssen sie nur nutzen!
Wir können es mit der Tiefenschärfeeinstellung der Kamera vergleichen: Je nachdem, worauf wir scharf stellen, sehen wir Bestimmtes klar und deutlich. Und anderes zur gleichen Zeit nur verschwommen und unscharf. Uns darüber klar zu sein, wann es darauf ankommt, was klar zu sehen sein soll, ist entscheidend. Und auch, uns darüber klar zu sein, dass Fragen aus anderen Einstellungen in der Betrachtung eines Feldes destruktiv wirken müssen. Diese Erlebnisfelder zu unterscheiden und einen klaren Blick dafür zu entwickeln, welche gesellschaftliche Einrichtung welchem Feld angehört, ist wesentlich. Wir individuellen Menschen leben natürlich in allen Feldern, gehören ihnen allen an. Nicht aber unsere Einrichtungen, wenn wir wollen, dass sie möglichst konstruktiv wirken. Zusammengefasst also: Es geht um die Fähigkeit des Perspektivenwechsels.
Haben wir einmal den Ansatz dazu gefunden, können wir unsere Gesellschaft dementsprechend differenziert gestalten, da wir jetzt eine entsprechend differenzierte Rahmenerzählung haben. Wir können also unsere Einrichtungen in einem der Bereiche verorten und so die verschiedenen Wege der Entscheidungsfindung differenziert anwenden — und dort nicht anwenden, wo sie notwendig destruktiv wirken müssen.
Wir haben uns mit dieser Betrachtung der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus als wissenschaftlichem Ansatz genähert. Der auf Rudolf Steiner zurückgehende Vorschlag ist mittlerweile über 100 Jahre alt. Steiner hat ihn zuerst in den Kernpunkten der sozialen Frage (3) schriftlich ausgeführt.

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Quellen und Anmerkungen:
(1) Ingolfur Blühdorn: Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Suhrkamp (2013).
(2) Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage, Studienausgabe des Instituts für soziale Dreigliederung (2019). Erscheinungsjahr der Erstausgabe war 1919.
(3) Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage, Studienausgabe des Instituts für soziale Dreigliederung (2019). Erscheinungsjahr der Erstausgabe war 1919.