Boris Johnson tischt der Öffentlichkeit eine neue Story auf
Boris Johnson versuchte, die auf schwachen Füßen stehende Anklage zu erneuern, um Russland vor einer Ermittlung des Anschlags auf Skripal zu beschuldigen, indem er eine grundlegend neue Version vorstellte, die das, was die Regierung zu wissen vorgibt, völlig verändert und radikal stärkt.
Dies ist die sensationelle neue Behauptung, die sich durch die ganze Propaganda zieht: Der Außenminister enthüllte heute Morgen (Sonntag, 18. März, A. d. Ü.), dass die Briten über Informationen verfügen, die darauf hinweisen, dass Russland in den letzten zehn Jahren Methoden zur Herstellung von Nervengiften erforscht habe, die wahrscheinlich für Morde eingesetzt werden können. Und ein Teil dieses Programms hat die Produktion und Bevorratung von Novichok beinhaltet. Hierbei handelt es sich um eine Verletzung der Chemiewaffenkonvention.
Dies ist eine erstaunliche Behauptung und erfordert eine eingehende Überprüfung. Falls diese Informationen vom MI5 (britischer Inlandsgeheimdienst, A. d. Ü.) oder MI6 (britischer Auslandsgeheimdienst, A. d. Ü.) stammen, dann muss einer Veröffentlichung ein Arbeitsprozess vorausgehen: die ressortübergreifende Freigabe, das sogenannte Action on. Dieses Prozedere ist selbst dann erforderlich, wenn ein Minister an die Öffentlichkeit geht.
Ich selbst habe einen derartigen Vorgang häufig miterlebt, als ich im Außenministerium die Abteilung des Embargo-Überwachungszentrums leitete, die die irakischen Waffenkäufe überwachte. Es handelt sich dabei nicht um ein Prozedere, das man für gewöhnlich an einem Samstagabend abwickelte, es sei denn, das Land befindet sich tatsächlich im Krieg. Dergleichen musste vor dem Wochenende erledigt sein.
Warum also wurde diese wichtige Information nicht am Freitag dem Parlament zugänglich gemacht, sondern an einem Sonntagmorgen auf Andrew Marr's (Moderator einer politischen Sendung „The Andrew Marr Show“, A. d. Ü.) Sofa an die Öffentlichkeit gebracht, bestätigt durch eine offizielle Erklärung?
Ein sehr ungewöhnlicher Vorgang. Zudem widerspricht er diametral den Informationen, die ich letzte Woche aus meinen Quellen im Außenministerium erhalten hatte – meine Informanten wussten davon nichts, und zumindest einer hätte im Bilde sein müssen, wenn diese neuen Erkenntnisse auf Berichten des MI6 oder GCHQ (britischer Nachrichtendienst, A. d. Ü.) beruhten.
Ich sehe nur zwei mögliche Erklärungen. Eine – und sie ist die wahrscheinlichste – lässt sich von einer extrem sorgfältigen Analyse dieser Erklärung ableiten. Die Erklärung lautet: „Wir haben Informationen, die darauf hinweisen, dass innerhalb der letzten zehn Jahre“. Das sagt nichts darüber aus, wie lange wir schon im Besitz dieser Informationen sind. „Innerhalb der letzten zehn Jahre“ kann alles heißen – seit einer Sekunde und seit zehn Jahren. Es ist höchst bezeichnend, dass die Formulierung lautet: „innerhalb der letzten zehn Jahre“ und eben nicht „seit zehn Jahren“.
„Innerhalb der letzten zehn Jahre“ bedient sich des gleichen semantischen Tricks wie: „Angebotspreis – bis zu 50 Prozent reduziert.“ Dies kann auch heißen: nur um 0,1 Prozent reduziert, und seine einzige Bedeutung ist eigentlich: „niemals günstiger als zum halben Preis“.
Die wahrscheinlichste Deutung dieses Satzes ist also, dass man im Außenministerium soeben erst in den Besitz dieser angeblichen Informationen gekommen ist – also nach Ablauf der letzten Woche, als man davon noch nichts wusste.
Und: Die Informationen stammen nicht von einem festen Verbündeten, mit denen wir eine Übereinkunft haben, Geheimdienstinformationen zu teilen. Die Informationen könnten also von einem anderen Staat stammen oder aus der privatwirtschaftlichen Quelle eines zwielichtigen Nachrichtendienstes – Orbis zum Beispiel.
Das Außenministerium verdreht also erneut Wörter, um den Eindruck zu erwecken, dass die angeblichen Erkenntnisse seit zehn Jahren bekannt sind, während die offizielle Erklärung dies tatsächlich gar nicht besagt.
Es gibt noch eine zweite mögliche Erklärung. MI6-Offiziere im Außeneinsatz erhalten Informationen von Agenten, die im Wesentlichen dafür Geld bekommen. Nach meiner Erfahrung mit Tausenden von MI6-Geheimdienstberichten ist ein Großteil dieser „HUMIT“ (human intelligence, Erkenntnisgewinnung aus menschlichen Quellen, A. d. Ü.) unzuverlässig. Graham Greene, ein früherer MI6-Offizier, hat ein lebensechtes Bild davon im großartigen „Unser Mann in Havanna“ gezeichnet, das ich jedem unbedingt ans Herz legen möchte.
Die Informationen kommen beim Auslandsgeheimdienst in Vauxhall Cross an und werden dort gefiltert. Ein Länderreferent bewertet die Informationen und beurteilt, ob es sich lohnt, sie in einem Bericht herauszugeben; es wird abgewogen, wie genau die Informationen sind, wie gut der Zugang zu der Quelle ist, für wie glaubwürdig man sie hält und ob der Inhalt mit bekannten Fakten übereinstimmt. Dieser Filter ist nicht besonders gut, weil er immer noch eine Menge Unbrauchbares durchlässt, zumindest aber sortiert er aus, was völlig wertlos ist.
Eine mögliche Quelle neuer Informationen, die plötzlich den Wissensstand der Regierung geändert hat, könnte darin liegen, dass das aussortierte Material nach Bestandteilen durchforstet wurde, die man zusammenschustern konnte. Wie ich in Murder in Samarkand darlegte: Es war just das bewusste Entfernen von Filtern, das die falsche Darstellung der Erkenntnisse über die irakischen Massenvernichtungswaffen bewirkt hat.
Kurzum, wir sollten extrem skeptisch sein in Bezug auf diese plötzliche neue Erkenntnis, die Boris Johnson aus dem Hut gezaubert hat.
Sollte Großbritannien im Besitz von Geheimdienstinformationen über ein geheimes russisches Chemiewaffenprogramm sein, dann war es rechtlich nicht dazu verpflichtet, Andrew Marr darüber in Kenntnis zu setzen. Vielmehr war Großbritannien rechtlich dazu verpflichtet, die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) zu informieren.
Nicht nur hat Großbritannien dies nicht getan, der britische Botschafter Sir Geoffrey Adams gratulierte der OPCW letztes Jahr gar überschwänglich zur Beendigung der Zerstörung der russischen Chemiewaffenbestände, ohne eine Andeutung oder einen Vorbehalt, dass Russland womöglich nicht deklarierte geheime Bestände vorhalten könnte.
In der Andrew-Marr-Sendung schien Boris Johnson zum ersten Mal zu äußern, dass das Nervengift in Salisbury tatsächlich in Russland hergestellt worden sei. Damit weicht er jedoch wesentlich von der Erklärung des Außenministeriums ab, das dies ganz deutlich so nicht äußert. Boris Johnson dürfte also in seine reflexhafte Lügerei zurückgefallen sein.
Tatsächlich ist die Erklärung des Außenministeriums ein deutlicher Hinweis darauf, dass man sich dort ganz und gar nicht sicher ist, dass die Substanz in Russland hergestellt wurde. Daher versucht man, den Verantwortungsbereich Russlands auszuweiten.
Man beachte diesen Absatz:
„Russland ist der offizielle Nachfolgestaat der UdSSR. Als solcher übernahm Russland rechtlich die Verantwortung sicherzustellen, dass die Chemiewaffenkonvention bei allen früheren sowjetischen Chemiewaffenbeständen und in allen Chemiewaffenlaboren Anwendung findet.“
Es versteht sich von selbst, dass das Außenministerium diesen Absatz nicht eingefügt hätte, wenn das Forschungszentrum Porton Down festgestellt hätte, dass das Nervengift in Russland hergestellt wurde. Offensichtlich können sie eben nicht sagen, dass es in Russland hergestellt wurde.
Das sowjetische Chemiewaffenprogramm hatte seinen Sitz in Nukus, in Usbekistan. Die Amerikaner haben es abgebaut, erforscht, die Anlage zerstört und die Ausstattung entfernt. Ich habe die Anlage als Botschafter von Usbekistan besucht, kurz nachdem sie damit fertig waren — in meiner Erinnerung war es verlassen, gekachelt und sehr kalt dort, eigentlich gab es dort nichts zu sehen.
Der oben genannte Absatz will die Russen für alles verantwortlich machen, was aus Nukus herauskam. Dabei waren es die Amerikaner, die sich dessen bemächtigt haben.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Boris Johnson Issues Completely New Story on “Russian Novichoks”". Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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