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240 Sekunden

240 Sekunden

Vier Minuten benötigen russische Atomraketen nach Deutschland. Damit sollten wir uns vertraut machen, nachdem der NATO-Gipfel uns als Hauptkriegsziel ausgewählt hat.

Wie lange starre ich schon auf das Display? Sekunden werden es gewesen sein. Sie fühlten sich wie Stunden an. Aber Stunden waren es ganz sicher nicht, sonst wäre ich nicht mehr hier. Auch mein Mobiltelefon nicht mehr. Oder das Sofa, auf dem ich noch immer sitze. Es steht nach wie vor auf dem Display: „Einschlag steht unmittelbar bevor!“ Sonst nichts. Keine Empfehlung, kein warmer Ratschlag. Und wo schlägt es ein? Was einschlägt, kann ich mir denken.

Viel habe ich in den letzten Monaten schon darüber geschrieben: über Krieg, Eskalation und Weltenbrände. Und auch darüber: Man dürfe nicht annehmen, dass die Russen ihre Atomraketen nicht nutzen würden — sie griffen nicht etwa darauf zurück, weil sie böse Menschen seien, sondern weil die Kriegslogik nun mal so wirke. Irgendwann kommt in jedem Krieg der Moment, da man schneller sein will als der Feind. Weil beide Seiten so denken, weil beiden Seiten eine solche Denkweise aufgezwungen wird, müsste man treffender formulieren: will jeder schneller sein als die Gegenseite. Das verspricht Vorteile — erfüllt aber die in Aussicht gestellten Vorteile nicht, weil beide ja gleichermaßen eskalieren. Mir war jedenfalls klar, dass dieser Moment kommen könnte.

Bitte, lass es nur Berlin sein!

Und nun ist der Augenblick gekommen. Ich starre ja immer noch auf mein Display: „Einschlag steht unmittelbar bevor!“ Dahinter deutet sich das Logo eines Landes ab, das es vielleicht bald nicht mehr gibt. Der Bundesadler verblasst — das Land gleich mit. Nun könnte ich ausrufen, dass ich es euch ja gesagt habe. Hättet ihr auf mich gehört! Diesen Sieg meiner vorausschauenden Qualitäten könnte ich nun auskosten. Jedenfalls so lange, wie wir noch Zeit haben.

Was heißt denn „Der Einschlag steht unmittelbar bevor“? Habe ich noch eine halbe Stunde? Irgendwo las ich mal, dass vier Minuten realistisch seien. Das ist weniger, viel weniger Zeit, als einer meiner Lieblingssongs dauert, „The End“ von den Doors.

Aber das ist überhaupt eine gute Idee: Ich stelle YouTube an. Geht sogar noch. Auf die Zivilisation war bis zum Ende Verlass — das wird man später vielleicht sagen. Doch wer berichtet darüber? Gut, vielleicht überlebe ich es ja! Ich suche „The End“, stelle es laut. Warum sollten sie Frankfurt nuklear verwüsten wollen? Berlin wäre das Ziel der Wahl. Hoffnung keimt auf, ich spüre es ganz deutlich. Frankfurt kommt mit einem blauen Auge davon! Bitte, lieber Gott, mach, dass es Berlin alleine ist — wo kam das denn her? Seit Jahren hadere ich mit dem, den sie Gott nennen. Jetzt ist er da. Fühlt sich gut an, seine Ansprache gen Himmel zu senden. Vielleicht ist da einer, der mich rettet.

Dann fällt mir ein, dass Frankfurt ein Knotenpunkt der Deutschen Bahn ist; das könnte auch für die hessische Metropole als Zielort sprechen. Wobei die Russen vielleicht nicht richtig bedacht haben, dass ein Deutschland mit Deutscher Bahn vermutlich viel handlungsunfähiger ist als eines, in dem es die Deutsche Bahn nicht mehr gibt. Außerdem ist Frankfurt auch ein Hauptknotenpunkt gewisser Datenautobahnen. Es hieß mal, die NSA habe Büros im Ostend. Oje, das sieht wohl doch nicht gut aus für uns.

Jim Morrison singt noch immer. Er wird wohl auch nicht mehr aufhören — vier Minuten nur, da singt er sich gerade ein. Ich war mal an seinem Grab in Paris. Warum mir das einfällt, weiß ich nicht so genau. Sehnsucht nach einem Ort, der in der Zeit weit weg von jetzt liegt? Ich erhebe mich vom Sofa, nun spüre ich erst, wie weich meine Knie sind. Torkele zum Schnapsschrank hinüber. Ich wollte doch immer nochmal den Gin von Le Tribute bestellen. Mit passendem Tonic. Letzteres bräuchte ich gerade nicht. Der Gin reichte mir. So greife ich zu einem orientalischen Gin, der seit Jahren hier steht und einfach nicht leer wird. Er schmeckte mir nur so halb. Ist zu würzig. Soll das der letzte Geschmack sein, den ich kosten darf?

Chaos vor dem Fenster

Gläser? Wozu braucht man Gläser? Ich setze die Flasche an und würge, eigentlich will ich gar keinen Alkohol trinken. Hoffe aber, dass er mich schnell beruhigt, vielleicht auch eiligst sediert. Während ich trinke, blicke ich aus dem Fenster meiner Wohnung im Hochparterre. Wie konnte mir dieses Treiben draußen entgehen? Hunderte Leute in meiner kleinen Straße. Alle versuchen sie auszuparken. Sie schreien sich an.

Ein Mann rammt einer jungen Frau die Faust ins Gesicht. Sie bleibt liegen, rührt sich nicht mehr. Keiner schenkt dem Beachtung. Und ich sehe es und fühle mich kein Stück weit berührt.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite tritt eine Frau aus dem Fenster ihrer Wohnung im vierten Stock. Altbau. Errichtet 1909, wie über dem Eingang steht. Sie klammert sich ans Fensterbrett, trägt keine Schuhe, keine Socken. Ich kann ihr Gesicht gut sehen. Sie hat Angst, man sieht es deutlich. Ich trinke noch einen großen Schluck. Unterhalb der Frau auf dem Fensterbrett tummeln sich weiterhin unzählige Menschen. Einer trägt einen Koffer. Hat er diesen Tag erwartet und schon mal gepackt? Eine ältere Frau trägt nur ein Hemdchen und einen Slip und irrt ziellos von links nach rechts und wieder zurück. Es kracht, Autos verkeilen sich ineinander. Ich erblicke links von der Frau auf dem Fensterbrett einen Mann, der wie ich aus dem geschlossenen Fenster schaut. Ich hebe die Hand, grüße ihn. Er erwidert. Ich halte die Flasche hoch. Und siehe da, zwei Todgeweihte, ein Gedanke: Auch er hat eine durchsichtige Flasche bei sich. Zum Wohl, Nachbar!

Just in dem Moment fällt die Frau hinab. Sie kommt mit dem Kopf voran auf dem Bürgersteig auf. Sie zuckt noch zwei, drei Sekunden lang. Einige Knochen ragen aus ihrem Torso. Dann erlischt das Leben. Eine Passantin verfehlte sie knapp; die bekam nur Blutspritzer ab, verursacht durch den Aufprall. Keiner kümmert sich um die Frau, die aus dem Fenster sprang. Warum kannte ich sie nicht?, schießt mir durch den Kopf. Wieso kenne ich den Kerl mit dem Schnaps von gegenüber nicht? Wie lange lebe ich jetzt hier? Es ist zum Schämen, dass erst das Ende uns für andere sichtbar macht.

Wie viel Zeit ist eigentlich vergangen? Ich habe nicht auf die Uhr geblickt. Das wollte ich auch nicht. Trick aus meiner Kindheit: Die Zeit vergeht nicht, wenn man nicht nach ihr fragt. Ich versuche meine Tochter zu erreichen. Aber das Netz ist zusammengebrochen, denn auch andere haben Töchter. Sie wohnt außerhalb. Hoffentlich flüchtet sie schnell. Damit sie dem Fallout entgeht. Wobei ich mir auch Sorgen um die Druckwelle mache. Erfasst sie sie noch? Ich nehme das Bild meiner Tochter vom Wohnzimmerschrank. Gott, war sie da noch klein. Sie trägt Engelsflügel. Wir hatten das Foto in einem Einkaufszentrum zur Weihnachtszeit knipsen lassen. Damals hatten wir, meine erste Frau und ich, so unsere Sorgen — das Geld war immer knapp, die Ehe litt auch darunter. Schlimmer könnte es nicht kommen, dachten wir einst. Tja, vielleicht haben wir uns ja getäuscht.

Alles ist weiß

Ein Polizist kreuzt plötzlich in meiner Straße auf. Ich wollte nicht weinen, daher stellte ich das Bild zurück und ging wieder ans Fenster. Der Beamte zieht seine Pistole und schießt wahllos einigen Passanten in den Kopf. Er grinst dabei — höhnisch? Oder irre? Ich bringe mich in Deckung, lache dann aber bitter auf: Wovor habe ich Angst? Dass ich sterben könnte? Ich höre noch einige Schüsse, dann verstummen sie. Als ich wieder nach draußen luge, liegt der Polizist tot auf dem Gehweg. Vermutlich hat er sich selbst gerichtet. Noch immer ist viel los auf der Straße. Aber weniger als vorher. Einige Autos haben es auf die Hauptstraße geschafft, die ich nur in Teilen von meinem Fenster aus sehen kann. Was ich sehe: alles verstopft.

Das Handy vibriert. Noch eine Nachricht mit verblasstem Bundesadler: „Bitte verhalten Sie sich ruhig!“ Mir muss man das nicht sagen. Der Gin wirkt, mir wird leicht schummrig. Der Mann auf der anderen Seite blickt zu mir herüber. Er winkt, prostet mir zu. Wir beide sind Verschworene. Würden wir es überleben, dann wären wir Freunde fürs Leben. Vielleicht überleben wir es ja!

Vielleicht trifft es nur Berlin. Ich habe Freunde in Berlin, erinnere ich mich. Es täte mir so leid um sie. Aber wenn ich einen Deal machen könnte, lieber Gott: Lass mich am Leben, und ich erinnere mich bis ans Ende meiner Tage an all jene, die heute sterben müssen!

Zwei Jugendliche kreuzen vor meinem Fenster auf, sie werfen Steine gegen die Scheibe und lachen idiotisch dabei. Ich trete zurück. Wanke etwas. Die Scheibe bekommt Sprünge, zerdeppert aber nicht. Ich sorge mich um die Schadensmeldung. Mein Küchenmesser! Ich sollte es holen; falls die Kerle hier per Räuberleiter reinwollen, lernen sie mich kennen. Dann werfe ich mich resigniert doch wieder auf mein Sofa; ganz egal was die beiden Grünschnäbel da draußen anstellen.

Der Krieg, jetzt ist er also hier, und ich bin bereit zum Töten. Was habt ihr Irren aus mir gemacht? Was habt ihr nur verbrochen, ihr Schweine!

Noch mal trete ich ans Fenster, die jugendlichen Steinewerfer sind weitergezogen, ich sehe sie gerade um die Ecke verschwinden. Ich starre vor mich hin, gleißendes Licht erfasst meine Augen — ich wende den Blick ab, will meinen Blick ins Zimmer hinein wenden, aber alles ist weiß. Es gibt nur noch weiß. Da, wo eben das Sofa stand, ist es weiß.

Mein Kind, meine Partnerin, meine Freunde, alle, die mir begegnet sind im Leben: Ich möchte sie alle umarmen. Sehne mich nach Geborgenheit. Nach Liebe. Habe ich gelebt, um so zu sterben? Da ist nur noch Angst, ich schreie und weiß nicht so recht, ob ich es noch bin oder schon nicht mehr. Das, was gleich über mich kommen wird, so ahne ich noch, wird ohne Worte auskommen müssen …


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