Weniger Wohlstand
Wohlfahrt und Wohlstand kann man messen — am einfachsten in Geldbeträgen, die sich zählen und statistisch erfassen lassen: Umsätze, Bilanzen, Wachstum … Unsere Wirtschaft lebt davon. Wehe, es ist kein Zuwachs zu verbuchen, dann bricht Panik aus. Und wir alle machen mit: Wir kaufen und sammeln, dass die Schränke platzen und die Regale überlaufen. Wir sammeln sogar Kontakte, um damit anzugeben. Und mit alledem übertünchen wir unsere Kleinheit — auch vor uns selbst. Wir verhalten uns wie Verlierer, die mit aller Kraft doch noch das Blatt wenden wollen, um doch noch ein paar Punkte nach Hause bringen zu können.
Viel zu haben oder zu besitzen ist an sich aber nicht schlimm. Schlimm ist die Diskrepanz zwischen dem, was wir haben, und dem, was wir sind. Wir haben mehr, als wir eigentlich sind. In der Welt des Habens sind wir großartig — nicht: einzigartig —, wer aber sind wir in der Welt des Seins? Sind wir ehrlich, und können andere uns vertrauen? Sind wir zuverlässig? Können unsere Nächsten und unsere Freunde auf uns zählen?
Geld verdirbt den Charakter, Wohlstand ebenso. In Zeiten des Wohlstandes lässt die Solidarität zwischen Menschen nach. Mit dem Wohlstand ist auch das soziale Elend gewachsen.
Was ist dabei schwierig für mich — und warum?
Mehr Wohlergehen
Wohlergehen bedeutet etwas ganz anderes als Wohlstand. Wohlergehen bezieht sich darauf, dass wir uns gesundheitlich, in unserer Arbeit und in unseren Beziehungen wohlfühlen. Dann ist das Leben rund. Geht‘s besser?
Wohlergehen heißt auch, in Harmonie zu leben — vor allem mit uns selbst. Harmonie im Außen kann nur entstehen, wenn es auch in uns Harmonie gibt. Harmonie bedeutet ein Leben in Übereinstimmung: Dass wir sagen, was wir denken, und tun, was wir sagen; dass wir mit unserem Gewissen in Frieden leben und seinen leichten Mahnungen nachgeben, wenn wir einmal zu ichbetont waren.
Es gibt aber auch schwierige Zeiten im Leben. Wenn es uns dabei dann trotzdem gut geht, verdanken wir das einem Zustand von innerer Akzeptanz. Bei älteren Menschen ist mit Wohlergehen auch gemeint, aus den Erfahrungen des Lebens die nötigen Lektionen zu lernen und daraus Weisheit und innere Zufriedenheit zu entwickeln — trotz der Probleme und der sozialen Einsamkeit, die es vielleicht an der Außenseite gibt. Dann sprechen wir von innerem Reichtum, der auf eine ganz subtile Weise die Seele sättigt und sie unglaublich zufrieden macht. Das strahlt sie auch aus — sie kann gar nicht anders.
Wer oder was kann mich dabei unterstützen?
Weniger müssen
Unser Alltag ist voll mit „müssen“: Aufgaben in der Familie, gesellschaftliche Verpflichtungen, die Arbeit — vielleicht auch die Karriere? Leider hat das Müssen immer mehr zugenommen. Dies scheint einer der Gründe zu sein, warum die Generation der heute 30- bis 40-Jährigen immer weniger Lust auf Verpflichtung und Bindung hat. Sie hat uns (Älteren?) dabei zugeschaut, wie wir nur noch fremdbestimmt funktionierten, während Lust und Lebensfreude auf nachrangige Plätze verbannt wurden.
Inzwischen sind wir selbst auch müde von dem vielen Müssen. Wir haben so viel bewältigt, Pflichten erledigt, Ziele erreicht, Weiterbildungen absolviert, vielleicht ein Haus gebaut — so viel, dass es kaum noch Raum für die Kinder und für die Eltern gab. Beide benötigen jedoch dringend mehr Aufmerksamkeit, damit es ihnen wohlergeht. Aber wir haben keine Zeit — weil wir so viel müssen. Auch wir selbst mit unserem Bedürfnis nach Gesundheit und Entspannung kommen zu kurz.
Auch wir selbst bekommen zu wenig Achtsamkeit. Denn das würde Zeit kosten, aber die ist bereits verplant. In diese Situation haben wir uns selbst gebracht, durch eine ausgefeilte Planung. Sobald etwas im Kalender steht, ist es ein Termin — und dann müssen wir. Da ist kein Raum mehr für spontane Begegnungen, keine Zeit mehr, anderen Menschen echte Aufmerksamkeit zu schenken. Wir hetzen durchs Leben, aber müssen wir das wirklich?
Was ist dabei schwierig für mich — und warum?
Mehr Muße
Das Gegenteil von „müssen“ ist „nicht müssen“. Nicht müssen bedeutet, Ruhe zu haben und Dinge in Muße zu tun, freie Zeit am Abend — ohne TV — und am Wochenende keine Pläne. Aber halten wir das aus? Wird uns dabei nicht ganz schummerig zumute? Wir bekommen Angst vor der großen Leere oder ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Leistungsteufelchen im Genick. Nicht drauf hören, es wird irgendwann schweigen!
Muße ist die Freiheit, kommen zu lassen, was sich gerade anbietet. Was sich gerade anbietet, ist das, was in uns selbst auftaucht, auf das wir Lust haben, worauf die Kinder Lust haben oder was die Eltern gerade benötigen. Alles dies kostet Zeit. Muße besteht also darin, sich die Zeit für die wirklich wichtigen Dinge zu nehmen, was immer das auch ist. Die wichtigen Dinge sind eigentlich Seelendinge, und die kommen bisher oft zu kurz.
Zeit haben und sich Zeit nehmen, Dinge in Ruhe und Muße tun — herrlich. Dann sind Abende gemütlich, Wochenenden lebendig und doch geruhsam. Dann ist ein Sommer unendlich lang. Es gibt so viel mehr zu genießen als immer nur das Hamsterrad des Müssens. Wir sollten aussteigen.
Aber was werden andere sagen, wenn es uns auf einmal so gut geht?
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Weniger Meinung
Unsere Gesellschaft lebt vom Wissen, das durch Bildung erworben wurde. Ach ja, Internet nicht zu vergessen! Wenn wir selbst Lücken haben, hilft Wikipedia uns aus — immer! Inzwischen ist die Mühe, die wir aufbringen müssen, um etwas zu wissen, geringer geworden. Dafür ist das Wissen oft genug nur noch Halbwissen. Mit Wissen ist hier gespeichertes Kopfwissen gemeint, nicht Lebenserfahrung — obwohl die auch halbiert ist.
Was aber enorm zugenommen hat, ist die Verpflichtung, eine Meinung zu haben. Die meisten Menschen halten sich selbst für normal und haben in Bezug auf den Rest der Welt — Menschen, Politik, Religion — eine Meinung. Eine Meinung zu haben ist heute ein politischer Faktor, der durch die Parteien und Medien intensiv umworben wird. Wir führen nicht einfach nur Krieg — wie zu allen Zeiten! —, sondern wir müssen ihn legitimieren — vor der demokratischen Öffentlichkeit.
Also wird die Gegenpartei vorher in den Medien als „das Böse“ aufgebaut. Immerhin sind wir gebildete Bürger, wir wollen informiert werden und mitentscheiden. Letzteres schaffen wir natürlich nicht, aber immerhin können wir doch eine Meinung dazu haben. Der Handel mit Informationen, Fake News und öffentlicher Meinung ist heute ein florierendes Geschäft. Und das vehemente Vertreten einer Meinung, eines Standpunktes ist heute ein Teil der persönlichen Identität, besser des Egos. Fast könnte man sagen: keine Ahnung, aber eine Meinung!
Was ist dabei schwierig für mich — und warum?
Mehr Einsicht
Vielleicht versuchen wir es einmal andersherum: keine Meinung, aber viele Fragen? Dann könnten wir auf dem Weg zum Verstehen viel lernen. Vor allem, wenn wir anderen zuhören und versuchen zu verstehen, worauf sich ihre Meinung stützt. Aus welchem Blickwinkel heraus argumentieren sie so? Welche vielleicht existenzielle Situation lässt sie zu dieser Einschätzung kommen? Wo liegt ihre tiefe Frustration? Wo kann ich von ihnen lernen?
Es geht darum nachzufragen — und Nachfragen führt zu Verstehen. Auf diesem Weg kommen wir dem Erfahrungswissen näher, das in wirklicher, tiefer Kenntnis einer Sache wurzelt. So forschend kümmert sich Kenntnis eigentlich um sich selbst — immer wieder neu und mit einer enormen Geduld. Denn wann wissen wir genug über eine Sache? Eigentlich erst, wenn unser Interesse nachlässt.
Immer wieder müssen wir — Ego! — dabei Rückschläge verkraften, erfahren, dass andere mehr wissen, und den Frust ertragen, niemals wirklich alles wissen zu können. Forschertypen sind so angelegt. Mit Meinung sind sie eher zurückhaltend, sie haben Vermutungen. So kommt langsam Erkenntnis zustande. Mit der Mühe, die wir dafür aufbringen müssen, wächst gleichzeitig auch unsere Seele — in die Höhe, wenn man so will. Zusammen mit dem Seelenwachstum stellen sich irgendwann tiefe Einsichten ein, in das Wesen des Lebens und in das Mysterium Gottes.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://kenfm.de/cyber-polygon-2021-von-ernst-wolff/, zuletzt aufgerufen am 29. April 2021
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