Warum haben wir Angst? Wir fürchten den Tod. Momentan besonders den Tod durch „ein Killervirus“. Doch warum? Denken wir nach und erkennen: Wir fürchten nicht den Tod an sich. Wir fürchten uns vielmehr vor der Erschütterung unserer Weltordnung.
In dieser haben wir uns gedanklich außerhalb der Kreisläufe von Leben und Tod platziert. Dies ist der „Gründungsmythos“ unserer westlichen Gesellschaft, so verdeutlicht es der zeitgenössische französische Philosoph Baptiste Morizot (1). Die westliche Menschheit definiere sich seit ihren Anfängen „als Ausnahme in der Gemeinschaft der Lebewesen“, „der Gemeinschaft der Biomasse“ enthoben. So war sie fähig, ein „Draußen“ zu kreieren, das sie mit der Bezeichnung „Natur“ versah. Zu Recht fragt Morizot, wie sich dieser Mythos halten konnte. Dafür sei die Etablierung eines Tabus nötig gewesen, das er wie folgt beschreibt:
„Zwar dürfen wir Menschen uns von der in den Lebewesen enthaltenen Sonnenenergie ernähren, aber die anderen Lebewesen haben nicht das Recht, sich von der in uns enthaltenen Sonnenenergie zu ernähren.“
Morizot nennt dies eine „diodische“ Beziehung, bei der Energie „nur in eine Richtung“ läuft: von den anderen Lebewesen zum Menschen, aber nicht vom Menschen zu den anderen Lebewesen. Andere Lebewesen dürfen sich nicht von uns nähren, so wie wir es von ihnen tun. Sonst würden wir „zu Fleisch erniedrigt“ werden. Geschieht dies doch, gilt es als Tabubruch und die westliche Weltordnung muss „wiederhergestellt“ werden.
Morizot zeigt, wie sich dieses Verständnis durch unsere Geschichte zieht: In der „jüdisch-christlichen Tradition“ etwa würden Raubtiere nicht umsonst mit dem Teufel, dem Bösen gleichgesetzt. Diese Analogie sei eine wichtige Voraussetzung für ihre Ausrottung gewesen. Die erbarmungslose Jagd auf Spitzenprädatoren wie Wolf, Bär und Luchs wurde zur Wahrung des Gründungsmythos betrieben — „gern unter dem Vorwand, das eigene Zuchtvieh schützen zu wollen“, so schreibt Morizot. Das Vieh sollte schließlich nur den Menschen als Energiequelle dienen.
In den Energiekreislauf
Nun mögen es heute nicht mehr die Raubtiere sein, die uns Angst bereiten — obwohl diese sicher in der Diskussion um die Rückkehr des Wolfes spürbar ist —, sondern wesentlich kleinere und schwerer greifbare Organismen. In unserer Angst vor SARS-CoV-2 zeigt sich: Wir halten an unserem Mythos fest. Wir glauben noch immer, wir stünden außerhalb der Energiekreisläufe des Lebendigen. Dabei bietet sich uns gerade jetzt die Chance, uns wieder in sie einzulassen. Das Virus kontrolliert unsere Population — wie es Viren nun einmal tun. Sie erfüllen eine wichtige Funktion in jedem Ökosystem.
So zu denken ist beileibe nicht einfach. Denn die Akzeptanz dieser Zusammenhänge bedeutet auch, sich damit zu beschäftigen, dass Menschen, die man liebt und die einem nahe stehen, an dem Virus sterben könnten. Man selbst könnte daran sterben. Doch man stelle sich einmal die Frage: Spielt es wirklich eine Rolle, ob ich an diesem Virus sterbe oder an etwas anderem? Manche mögen jetzt argumentieren, dass das Sterben an SARS-CoV-2 qualvoll sein kann, dass man schmerzhaft ersticke. Hierin schwingt die Idee eines „würdevollen Sterbens“ mit.
Doch was bedeutet das?
Es ist in den Kreisläufen des Lebendigen kein Recht darauf angelegt, dass man ohne Leid und Schmerzen stirbt.
Viele Lebewesen kommen auf — zumindest in unseren menschlichen Augen — unfassbar grausame Weise zu Tode: Krokodile und Haie reißen ihre Beute buchstäblich in Stücke, Larven und Pilze brechen aus den Körpern ihrer Insektenwirte hervor, Kohlmeisen zerhacken Nestkonkurrenten den Schädel. Und nicht zu vergessen: Tagtäglich werden in den Schlachthäusern der Menschen zahlreiche Lebewesen ohne einen Hauch von Würde oder Respekt umgebracht. Warum also sollten wir uns dem entziehen können?
Ich möchte anders denken: Würdevoll ist es, wenn man sich in den Energiekreislauf hineinbegibt und den Tod so annimmt, wie er kommt. Damit ist nicht gesagt, man dürfe sein Sterben nicht gestalten. Es ist zum Beispiel sinnvoll, eine Patientenverfügung zu verfassen, um im Zweifelsfall nicht künstlich „am Leben gehalten“ zu werden, was ich als äußerst würdelos erachte. Ich setze mich gerade damit auseinander — ja, mit 27 Jahren. Es gibt hier kein „zu früh“.
Nahrung für andere
Ich möchte auch bestimmen können, was mit meinem Körper nach meinem Tod geschieht. Ich möchte, dass sich so viele Lebewesen wie möglich von meiner organischen Materie nähren können, sie in den Energiekreislauf einfließen lassen, neues Leben daraus schaffen. Dazu würde ich am liebsten nackt in die Erde gebettet werden, ohne einen versiegelten Sarg oder Kleidung aus Kunstfaser, die diese Prozesse behindern würden. Pedantische Kritiker mögen sagen, dabei könnten Giftstoffe in „die Umwelt“ gelangen, die sich in meinem Körper angesammelt haben. Hygienevorschriften. Angesichts all der Giftstoffe, die wir auf anderem Wege in die uns durchwebenden Ökosysteme pumpen — Pestizide, Weichmacher, radioaktives Material —, ist dieses Argument jedoch eine Farce.
Auch in der westlichen Art der Bestattung zeigt sich unsere „Leugnung der Tatsache, dass wir Nahrung für andere sind“, so zitiert Morizot die australische Philosophin Val Plumwood (2). In anderen Kulturen begreifen sich die Menschen ganz selbstverständlich und unbefangen als Teil des Energiekreislaufes. In Sibirien geben Menschen ihr Fleisch an den Wald zurück, in den sie sich zum Sterben zurückziehen. In Tibet wird die „Himmelsbestattung“ praktiziert, bei der der Körper den Geiern und wilden Hunden geschenkt wird. Diese Vorstellung mag viele Menschen in unserer Gesellschaft mit Horror erfüllen. Mir jedoch gefällt sie gut. Und sie zeigt, so Morizot:
„Der Schrecken, den man im Westen mit dem Verzehrtwerden verbindet, ist also keineswegs universell: Das ist der entscheidende Hinweis darauf, dass wir in jenem Schrecken ein mit dem Gründungsmythos verbundenes Tabu vor uns haben.“
Hierin besteht unsere Chance: Brechen wir das Tabu. Weisen wir den westlichen Gründungsmythos zurück. Lassen wir uns von anderen, gerne von schamanistischen und animistischen Kulturen inspirieren. Werden wir wieder zu Fleisch, zu Biomasse. Dann müssen wir keine Angst mehr vor dem Tod haben.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Morizot, Baptiste: „Philosophie der Wildnis — oder — Die Kunst, vom Weg abzukommen“. 2018, Ditzingen: Reclam, 2020. Übersetzt aus dem Französischen von Ulrich Bossier. Originaltitel: Sur la Piste Animale. Zitate entnommen von den Seiten 53 bis 55.
(2) Plumwood, Val: „Human Vulnerability and the Experience of Being Prey”, Quadrant 39 (1995), Heft 314, Seiten 29 bis 34. Zitiert nach Morizot, Seite 53.
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