Vielleicht sollte ich der Transparenz und Ehrlichkeit halber meinem Blog zukünftig einen Disclaimer voranstellen: „Nicht alles, was sie schreibt, lebt sie auch.“ Warum? Vor mittlerweile ein paar Monaten bin ich seit Langem mal wieder einige meiner bereits veröffentlichten Texte durchgegangen. Dabei habe ich mit einem Schmunzeln, aber auch mit einem Schlucken feststellen dürfen, dass ich vieles von dem, was ich schreibe, schlussendlich selber nicht befolge.
Beziehungsweise: Ich bin stets bemüht, meine Gedanken auch umzusetzen. Immer dann, wenn ich an sie denke. Insofern sie mir jedoch noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen, sprich, noch kein fester Bestandteil meines Bewusstseins geworden sind, bewege ich mich den Rest meiner Zeit in einem seltsamen Konglomerat aus Getriebensein und Unbeständigkeit.
Das Leben passiert schneller, als ich gucken kann, sodass ich mich in der Retrospektive meist mehr als Zuschauerin, denn als Schöpferin meiner eigenen Lebensumstände erfahre.
Sie gestalten mich, anstatt ich sie. Und das ist, bei allem Vorsatz, mein Leben weniger kontrollieren zu wollen und stattdessen mit mir in eine Weichheit und in ein Vertrauen dahingehend zu kommen, dass die Dinge im Nachhinein schon ihren Sinn ergeben werden — was sie auch tun —, auf Dauer sehr ermüdend.
Solange ich denken kann, habe ich mein Leben vorwiegend auf eben diese Weise verbracht: denkend. Ich habe meinen Verstand so weit hochgezüchtet, dass ich in ihm beinahe alles entstehen und vergehen lassen kann, was ich „will“, als auch durchaus dazu in der Lage bin, die von mir und meinem Unterbewusstsein provozierten Situationen relativ zeitnah zu reflektieren.
Es gibt eigentlich nichts, was ich nicht „erklären“ kann. Mir selbst und anderen. Doch mit dieser Art der Bewältigung stoße ich zusehends an Grenzen. Innere wie äußere.
Ich merke, dass ich rein rational um die Dinge „weiß“, dass mir scheinbar jedoch eine gewisse Ebene fehlt, um sie auch in ihrer Tiefe zu durchdringen, geschweige denn sie auf dieser schlussendlich auch auflösen zu können. So bin ich derzeit an einem Punkt, den ich — mit meinem Verstand — lange vor mir hergeschoben habe. Und dieser Punkt heißt „Bewusstwerdung“. Denn was würde es bedeuten, sich der Dinge wahrhaft bewusst zu werden? Es bedeutet Integration. Und diese Integration beinhaltet nicht nur meinen Verstand. Nein. Wenn es darum geht, mir etwas bewusst zu werden, beinhaltet dieses Bewusstwerden mein gesamtes Sein. Und damit nun einmal auch mein Gefühl.
Mittlerweile würde ich sogar so weit gehen, zu behaupten, es sei sogar mehr unser Gefühl, dessen unser Bewusstsein bedarf als unser Verstand. Denn wer oder was ist es, das unser Handeln lenkt? Am Ende ist es unser Gefühl. Und nicht unser Verstand. Unser Verstand greift dann ein, wenn wir mit unserem Gefühl bereits einen gewissen Imprint abgegeben, eine bestimmte Richtung vorgegeben haben. Und zwar dahingehend, was wir vielleicht lieber nicht fühlen, was wir lieber nicht wahrhaben möchten. Und damit ist es eben unser Gefühl, dass uns aufgrund — Jung würde sagen unserer „Schatten“ — dahingehend Grenzen setzt, was wir wahrnehmen und was nicht. Wir können uns zwar alles vorstellen, dieses Vorstellungsvermögen jedoch unterliegt dem, was wir mit unserem Gefühl in der Lage sind zu fühlen. Oder anders gesagt: Unser Verstand kann alles, was wir wollen. Aber das, was wir wollen, wird von dem bestimmt, was wir nicht fühlen.
Denn wem oder was unterliegt wiederum unser Gefühl? Unser Gefühl unterliegt unserem Bewusstsein. Oder genauer gesagt: unserem Unter-bewusstsein und damit allen Ängsten, Zweifeln und Glaubenssätzen, derer wir uns nun einmal noch nicht bewusst geworden sind und die uns entsprechend steuern, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Das wiederum bedeutet, dass ich dann, wenn ich mir über etwas bewusst geworden bin, auch darüber entscheiden kann, ob ich es ändern oder auflösen möchte.
Über die Dinge, derer ich mir aber noch nicht bewusst geworden bin, kann ich nicht frei entscheiden. Ich weiß ja nicht einmal, dass sie existieren und dass ich sie in mir trage. Schlicht und einfach, weil ich mir ihrer nicht bewusst bin.
Doch wie werden wir uns der Dinge bewusst? Wie kommen wir in eine Veränderung dahingehend, der- oder diejenige zu werden, der oder die wir sein wollen? Das ist die große Frage, die auch ich mir aktuell stelle. Denn egal um welches Thema es geht: Selbstwert, Grenzen setzen oder Bedürfnisse artikulieren, aber auch der gesamte Kosmos rund um freie Bildung und Liebe, Ideologien, Umweltschutz oder Ernährung — am Ende sind dies alles Dinge, die wir uns zwar vornehmen können, die wir aber solange nicht authentisch leben können, wie wir noch Anteile und Muster in uns tragen, derer wir uns nicht bewusst sind und die uns aus diesem ungewissen Unbewussten heraus daran hindern, die von uns erstrebten Werte und Verhaltensweisen wahrhaft umzusetzen.
Und dadurch bleiben all’ unsere Wünsche immer nur eins: Vorsätze, Regeln, Gesetze, Normen, die wir uns rational zwar aufzuerlegen vermögen, die wir aber nicht vollends verkörpern. Eben weil wir sie nicht fühlen. Weil sie nicht aus unserem Innersten kommen, sondern unserem Verstand entspringen, der zwar meint zu glauben, was gut für uns ist, der es aber, — anders als unser Gefühl — schlussendlich nicht weiß. Wahrhaft „wissen“ tun wir die Dinge erst, wenn wir sie vollends integriert haben. Wenn auch unsere inneren Strukturen zugänglich sind für die Vorhaben, die wir uns mit unserem Verstand gesetzt haben.
Darin besteht — zumindest für mich — der ewige Balanceakt: Mit meinem Verstand kann ich mir alles Erdenkliche vornehmen; mir alles ausmalen, was ich meine, das ich brauche. Doch wenn ich keinen emotionalen Raum für diese Veränderung habe, wenn meine inneren Strukturen zu eng sind, zu gefestigt und in dem Sinne in sich zu verschüchtert und instabil sind, als dass sie Veränderung angstfrei gegenüber stünden, wird jede meiner verstandeslastig erstrebten Veränderungen immer ein Kampf gegen nicht gefühlte Widerstände bleiben. Dabei ist es meine Aufgabe, die Widerstände in mir abzubauen, die mich in Zusammenhang mit jenen tiefer liegenden Urängsten daran hindern, diejenige zu werden, die ich sein will und die ich meinem Wesen nach immer schon war.
Anders aber — werde ich mir dieser Ängste nicht bewusst — bleibe ich auf immer diejenige, die ich bin, oder immer schon war, — gefangen in den Ängsten und Glaubenssätzen, derer mir mein Verstand weismachen will, dass ich sie bin, anstatt dass ich sie habe, oder eher gesagt, dass sie mich haben.
Damit ist es die Frage: Wie befreie ich mich? Wie befreien wir uns aus diesem inneren Gefängnis? Wie entkommen wir — insofern wir dies überhaupt wollen — diesen inneren Gefühlszwängen, die unser Denken bedrängen? Wie lösen wir die Verstrickung zwischen Denken und Fühlen dahingehend auf, fortan nicht mehr von unserer Angst geleitet und von unserem Verstand besessen zu werden, sondern vielmehr unseren Verstand zu haben und unser Gefühl zu sein? Wie lernen wir, dem ersten Impuls wieder zu folgen, anstatt ihn beiseite zu legen; ihn in dem Sinne zu verraten, als dass wir ihn solange durch Gedanken zerdenken, bis er uns nicht nur nicht mehr als etwas Vertrauenswürdiges und Erbauliches erscheint, sondern letzten Endes nichts weiter von ihm übrig bleibt, als eine wage Ahnung, die wir in ihrer Rationalität nicht mehr imstande sind, als das zu identifizieren, was sie einst war: ein Gefühl.
„Man kann vieles unbewusst wissen, indem man es nur fühlt, aber nicht weiß.“
— Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Werden, wer wir sind“ bei Treffpunkt im Unendlichen, dem Substack von Lilly Gebert.
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