„Das Mißverhältnis zwischen der
Einbildung und dem Sachverhalt ertragen.
‚Ich leide.‘ Das ist besser als:
‚Diese Landschaft ist häßlich‘.“
— Simone Weil
Projektion und Scham liegen oft nahe beieinander. Es ist immer einfacher, die „Schuld“ bei anderen zu suchen. Selten jedoch ehrlich. Denn wären wir dies — allem voran mit uns selbst —, wüssten wir auch, dass nichts, was uns in dieser Welt begegnet, nicht auch etwas mit uns zu tun hat. Also auch eine Welt, die uns gegenüber zu verstummen scheint. Ohne diese Ehrlichkeit und Einheit in Kommunikation und Wahrnehmung kommen wir nicht zur Wahrheit, sondern zur Zweiheit. Denn wären wir ehrlich mit uns, könnten wir uns auch eingestehen, dass es eine solche Einseitigkeit gar nicht gibt. Es ist nicht die Welt, die uns nichts mehr zu sagen hat. Wir haben nur aufgehört, ihre Sprache zu sprechen.
Entsprechend mündet unser Leiden auch nicht bei der Welt als solcher, sondern bei unserer Unfähigkeit, wahrhaft mit ihr in Kontakt zu treten. All unsere Fremdheit, unsere Einsamkeit, unser Gefühl, nicht geliebt zu werden, hat seinen Ursprung in unserem Unvermögen, ehrlich und offen mit dieser Welt in Beziehung zu sein. Und das weil? Weil wir in ihr nie das sehen, was sie ist. Wir sehen uns; spiegeln uns in allem, was wir sehen und anfassen. Wir „suchen“, kompensieren, simulieren, und vergessen dabei ganz: Solange wir mit uns selbst nicht im Reinen sind, machen wir die Welt zur Leinwand jener eigenen Defizite, derer wir selbst nicht habhaft werden können und derer gegenüber wir uns nicht bewusst genug sind, um zu erkennen, dass ihre Lösung niemals im Außen, sondern ausschließlich in uns selbst liegt.ㅤ
Mehr Erde, weniger Welt
Diese Welt mag sich aufdrängen. Sie blinkt, sie lärmt, sie strahlt. Damit ist sie uns oft „zu viel“, und gleichzeitig „zu wenig“. Die Erde jedoch, eben weil sie in ihrer eigenen Energie ruht und keine Werbetafeln braucht, um auf sich aufmerksam zu machen, verübt keine solche Übergriffigkeit. Und das, so meine Vermutung, sind wir nicht gewohnt. Wir kennen diese Form von Subtilität, dieses reine Verweilen im eigenen Sein gar nicht mehr. Doch wie ich bereits in meinem Text „Die Welt dazwischen“ schrieb, fehlt uns nicht nur das Gespür für jenes „Dazwischen“ — wir haben auch verlernt, zwischen dieser „Welt“ und „der Erde“ zu unterscheiden. Insofern aber unsere Einsamkeit aus der Abspaltung von der Erde und der Natur herrührt, wir aber verlernt haben, uns ihnen gegenüber zu öffnen, geschweige denn, sie überhaupt als lebendiges Gegenüber wahrzunehmen, sind wir wie blind und ohnmächtig zugleich, den Quell unserer vermeintlichen Verlassenheit überhaupt zu lokalisieren.
Warum vermeintlich? Weil diese Erde immer „da“ ist. Immer war und auch immer sein wird. Sie ist es nicht, die geht. Wir waren und sind es, die sie aus unserer Wahrnehmung, und damit auch aus unserem Gefühl, verbannt haben. Die Natur mag uns vielleicht nicht immer „meinen“, „Abspaltung“ jedoch ist ihr ferner als alles andere. Anders als wir ist sie immer ganz.
Und apropos Abspaltung: Wir für unseren Teil merken meist gar nicht mehr, dass uns etwas fehlt — geschweige denn Was. Stattdessen sind wir dazu übergegangen, unsere eigene Sinnlosigkeit durch die Lebensferne unserer Zivilisation zu deckeln. Wir sind abgetaucht in einen Strudel aus Kompensationsmechanismen, deren Mittel nichts mehr mit ihrem eigentlichen Zweck gemein haben. Die Rede ist von Nähe, von Bindung, von Geborgenheit. Bilden sie — gleich dem heiligen Trio von Sinnhaftigkeit, Handhabbarkeit und Verstehbarkeit innerhalb der Salutogenese — den Grundstock jeder gesunden Psyche und jeder menschlichen Stabilität, sind sie für große Teile unserer Zivilisation derart in Vergessenheit geraten, dass wir sie nicht einmal mehr benennen könnten, sollten wir ihre Lücke doch einmal bemerken.
An dieser Stelle frage ich mich: Woher rührt die Abspaltung? Was hindert uns daran, wahrhaft mit uns, Welt und Erde in Beziehung zu treten? Wie kommen wir aus dieser Selbstmanipulation heraus, immer annehmen zu müssen, hinter allem, was uns begegnet, verberge sich eine zweite Ebene? Wie verlassen wir diesen abgesicherten Modus? Und was braucht es, um uns einzugestehen, nur deshalb nichts und niemandem vertrauen zu können, weil wir selbst abgespaltene Ebenen in uns tragen? Wie kommen wir raus aus der Suggestion und rein in die Verwahrheitung unseres Selbst? Oder anders gefragt: Wie kommen wir zurück in ein Spüren dahingehend, zu erkennen, dass es nicht unser Verstand ist, dem etwas fehlt, sondern unser Herz?
Rufe aus und ins Leben
Was mich betrifft: Lange Zeit konnten mir Menschen gegenübersitzen, mich umarmen, in den Arm nehmen, küssen, von mir aus auch lieben. Und doch konnte es vorkommen, dass ich mich mit ihnen nicht verbunden fühlte; dass die Nähe, die in solchen Situationen eigentlich „angebracht“ wäre, einfach nicht in mir aufzukeimen vermochte. Ich bemühte mich, diese Bindungslosigkeit mit meinem Verstand zu überspielen: Ich versank in Bücherstapeln und überkompensierte alle Distanz im Zwischenmenschlichen mit meinem Intellekt. Doch die Einsamkeit wuchs. Und ich verstand … nicht mehr. Da war kein Gegenüber mehr, mit dem ich sprechen konnte. Auch die Bücher warfen nur noch mehr Fragen auf, als dass sie mir Antworten versprachen. Es entstand der Eindruck absoluter Resonanzlosigkeit.
Nachdem diese mir jedes Gefühl für Zeit und Raum hat abhandenkommen lassen und ich mir obendrein bereits eingeredet hatte, dass „ich eben so bin“, gab es zu einem bestimmten Zeitpunkt in meinem Leben eine (Wieder-)Begegnung mit der Natur, die mich erstmals hat fragen lassen: „Muss ich so sein?“. Meine Antwort war Nein.
Dieses Nein war — rückblickend betrachtet — der Anfang von einem großen Ja. Wenngleich die letzten vier Jahre sehr schmerzhaft begannen — sie wandten sich zu der schönsten Zeit meines Lebens, aus dem ich keinen Moment mehr eintauschen wollen würde. Allem voran: mich auch nicht mehr. Doch wieso? Ich würde es mittlerweile darauf zurückführen, dass ich angefangen habe, besser hinzuspüren, was das Leben von mir — oder besser: für mich — möchte. Ich lernte, meinem Bauchgefühl hinsichtlich seiner „Zeichen“ zu vertrauen, anstatt mich unaufhörlich zu hinterfragen oder meine Intuition mittels meines Verstandes fortlaufend zu untergraben.
Auch wenn es heute noch einem ewigen Balanceakt ähnelt, mein Denken und Fühlen dahingehend auszutarieren, mich weder vor mir selbst noch der Welt zu verschließen, „weiß“ ich mittlerweile, dass nichts im Leben grundlos passiert. Es ist unser Verstand, der sich nach Gründen, nach Logik, Kausalität oder Zweckmäßigkeit sehnt. Und der immer lauter zu werden droht, je weniger diese zu finden sind. Bleiben wir jedoch im Gefühl, finden wir auch Halt in der Haltlosigkeit. Und haben wir diese Angst unseres Verstandes, in Anbetracht dieser neuen Heimat womöglich nicht mehr — oder zumindest weniger — gebraucht zu werden, erst einmal überwunden, können wir damit anfangen, aufzuhören, alles immerzu „verstehen“ zu wollen, und beginnen stattdessen, darauf zu vertrauen, dass alles schon seinen „Sinn“ haben wird. Auch wenn wir diesen — wenn überhaupt — erst im Nachhinein zu verstehen vermögen: Hätte ich zum Beispiel nicht in jungen Jahren so viele Bücher gelesen, würden Sie jetzt vermutlich nicht nur nicht diesen Text hier von mir lesen, sondern gar keinen.
Ich für meinen Teil glaube mittlerweile, dass diese Erde lauter zu uns spricht, als dass wir es je für möglich halten können. Die alles entscheidende Frage ist nur, ob wir ihr auch zuhören wollen? Oder gar — antworten? Inwieweit sind wir dazu bereit, in unserer Wahrnehmung offen zu werden für das, was sie (uns) zu sagen hat? Und was hindert uns daran, unsere Augen und Ohren in Richtung ihrer Energien zu öffnen und — allem voran — unser Herz nicht länger vor ihnen zu verschließen? … Ich verrate Ihnen etwas: Die Erde ist es nicht.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Welt-los“ bei Treffpunkt im Unendlichen, dem Substack von Lilly Gebert.
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