Alle Bürger dieses Landes sind durch die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung unmittelbar betroffen, ob es sich um alltägliche Maßnahmen wie das Abstandhalten und das Maskentragen handelt — oder ob der Lockdown die eigene Existenzgrundlage bedroht. Und man darf sich nicht täuschen: Die Menschen, deren Einkommen durch den Lockdown gefährdet ist, stellen eine Mehrheit in Deutschland dar. Sie sind der Mittelstand, sie sind diejenigen, die unsere Innenstädte attraktiv machen: die Gastronomen, die Betreiber von Geschäften, von Bäckereien, von Fitnessstudios, von Kinos, Theatern und und und. An diesen Orten findet Begegnung statt, diese Orte prägen den öffentlichen Raum. Ihre Betreiber leisten somit auch einen Dienst an der Gesellschaft.
Und sie alle ächzten schon im Frühjahr angesichts des ersten Lockdowns. Sie alle mussten, obwohl sie in den vergangenen Wochen herbe Verluste zu verbuchen hatten, für den Sommer investieren: in Desinfektionsmittel, in Plexiglastrennwände, in die Umgestaltung der Ladenfläche, denn es mussten schließlich Abstände gewahrt werden. Das alles war nicht billig; für viele bedeutete es, an die privaten Ersparnisse zu gehen. Finanzielle Hilfen durch den Staat, die verlässlich gewesen wären und nicht hätten zurückgezahlt werden müssen, waren die Ausnahme in all diesen Branchen.
Viele der Menschen, deren Lebenswerk in dieser Form durch den Lockdown bedroht war, kenne ich persönlich. Sie alle waren überzeugt:
„Nein, einen zweiten Lockdown wird es nicht geben. Dann wäre ich, wären wir alle ruiniert — und das weiß die Regierung. Das können sie nicht machen.“
Aber der zweite Lockdown kam dennoch. Obwohl es zuvor immer wieder vonseiten der Regierung, der Ministerpräsidenten und der Kommunen hieß, er müsse mit allen Mitteln verhindert werden. Obwohl beteuert wurde, man hätte aus dem ersten Lockdown gelernt. Und obwohl uns allen bewusst war, dass diese Maßnahme das Aus für viele Unternehmer, Selbstständige, Freischaffende und Künstler bedeuten würde. Während der Mittelstand pleitegeht und aus den Innenstädten verschwindet, profitieren global agierende Konzerne wie Amazon enorm während eines Lockdowns. Das hat sich bereits im Frühjahr gezeigt, und das wird sich nunmehr wiederholen.
Eine Branche, die besonders von diesem Lockdown betroffen ist, sind Künstler und Kulturschaffende. Die meisten von ihnen leben ohnehin prekär, quasi von der Hand in den Mund — auch ohne Lockdown. Doch jetzt, wo die Theater geschlossen, Veranstaltungen verboten, Termine abgesagt sind, jetzt, wo man nicht mal eben einen Nebenjob in der Gastronomie ergattern kann, der es genauso geht, da sind viele dieser Menschen nicht von Armut, sondern vom Ruin bedroht.
Aber sie geben nicht kampflos auf.
Mehr als 50 freischaffende Künstler haben sich zusammengeschlossen und unter dem Motto „ALARMSTUFEROT“ einen Brandbrief an diejenigen verfasst, die für den Lockdown verantwortlich sind.
„Sehr geehrte Frau Monika Grütters, sehr geehrter Herr Hubertus Heil, sehr geehrter Herr Peter Altmaier, sehr geehrter Herr Olaf Scholz, sehr geehrter Herr Jens Spahn“, beginnt der Brief. Und weiter:
„kaum eine Branche hat seit Beginn der Pandemie härter dafür gearbeitet, ihren KundInnen beziehungsweise ZuschauerInnen wieder ein sicheres Erlebnis bieten zu können, als die Kulturbranche. Es wurden Hygienekonzepte erarbeitet, Lüftungsanlagen erneuert, Ein- und Auslassregeln erdacht, Nachverfolgungslisten geführt und vieles mehr — immer in enger Zusammenarbeit mit den Behörden.
Warum das alles? Weil man das Virus ernst nimmt, weil man sich der Verantwortung in der Pandemie bewusst ist und weil man sein Publikum keiner Gefahr aussetzen möchte. Damit war der Kulturbetrieb ein konstruktiver Teil der Lösung und nicht des Problems. Der politische Dank für diese Arbeit bleibt — mit Ausnahme folgenloser Lippenbekenntnisse — weitgehend aus.“
Die Forderung des Briefes an die Regierung ist, „endlich für die coronabedingten Schäden, beispielsweise durch die Stilllegung beziehungsweise die drastischen Einschränkungen des Live-Betriebs, aufzukommen.“
Hieran zeigt sich auch, wie viele Künstler im vergangenen Lockdown keine Hilfe erhalten haben, obwohl sie sie gebraucht hätten. Doch nicht nur die Kulturbranche hat all diese Vorarbeit geleistet. Nicht nur sie hat sich den Maßnahmen gebeugt, sie sich zu eigen gemacht und brav umgesetzt. Auch die anderen Branchen, die oben genannt wurden, haben in dieser Form den Regierungsvorgaben Folge geleistet. Sie haben persönlich gedarbt, beruflich investiert, Einbußen und Stress auf sich genommen. Geleitet hat sie die Zuversicht, dass kein weiterer Lockdown kommen werde. Aber dieses Vertrauen wurde jetzt enttäuscht.
Die Kulturbranche ist kein „Infektionsherd“
Florian Schroeder gehört zu den Mitunterzeichnern dieses Brandbriefes. Auch er hatte sich nicht vorstellen können, dass die Regierung einen weiteren Lockdown forciert, wie er in einem Interview erklärt:
„Ich war immer davon ausgegangen, dass es nur lokale Lockdowns geben wird — so, wie das auch immer gesagt wurde. Es war klar, dass sich eine zweite Welle anbahnt und wir nicht ohne Einschränkungen durch den Herbst kommen. Dass diese nun so flächendeckend ausfallen, hatte ich allerdings nicht erwartet. (…) Ebenso hätte ich nicht damit gerechnet, dass tatsächlich auch alle Theater nochmals geschlossen werden. Diese Maßnahme finde ich falsch.“
Schroeder hatte erwartet, dass politisch gewürdigt und berücksichtigt wird, wenn „Theater und Veranstalter sich seit Monaten Gedanken über ausgefeilte Hygienekonzepte machen.“ Denn weder Gastronomiebetriebe, noch Kulturstätten, noch Fitnessstudios sind als Infektionsherde aufgefallen, wie auch eine Grafik des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigt:
Der Mammutanteil dieser Ansteckungen erfolgt, wie zu sehen ist, in privaten Haushalten und beschämenderweise noch immer in Wohn- oder Altersheimen. Die Anteile „Freizeit“, „Speisestätten“, oder „Übernachtung“ (Hotelbetrieb) fallen verschwindend gering aus.
Diese Einrichtungen zu schließen und den Kontakt somit ins Private zu verlagern, hat womöglich eher nachteilige Effekte für das Infektionsgeschehen!
Dass hierauf überhaupt mit einem Brandbrief geantwortet werden muss, ist an sich bereits ein kleiner Skandal. Schroeder stellt im Interview klar:
„Ich finde schon, dass genug Druck gemacht wurde. Es gab viele Kolleginnen und Kollegen — mich miteingeschlossen —, die immer wieder gesagt haben: ‚Es geht hier eine Branche vor die Hunde. Wir müssen etwas tun und brauchen dringend Unterstützung.‘ Im Vordergrund stehen hier vor allem die kleinen Veranstalter und Künstler, die kein großes Publikum haben. Das haben wir immer wieder betont. Ich wüsste nicht, was wir hätten noch mehr tun sollen.“
„Die Politik scheint nicht verstanden zu haben, wie diese Branche funktioniert. Und das ist von Weltfremdheit und fast schon von einem bösartigen Willen zur Ignoranz geprägt“, so Schroeder.
Fast schon ungläubig fragt die Interviewerin zurück, ob es denn wirklich Kreative gebe, die vom Sozialstaat völlig alleine gelassen werden. Schroeder bejaht das vehement. Diese Frage mutet naiv an für alle, die durch den Lockdown in ihrer Lebensgrundlage bedroht sind, und auch für alle, die solche Menschen kennen.
Doch Fragen wie diese zeigen zugleich, dass sich immer mehr Menschen der Missstände bewusst werden, die der Lockdown hervorruft. Und Personen wie Florian Schroeder stehen dafür ein, dass diese Missstände bekannt gemacht und angegangen werden.
Machen wir unseren Unmut hörbar!
Nur eines verstehe ich persönlich an Schroeders Haltung nicht. Gegen Ende des Gesprächs wird ihm die Frage gestellt, wer wohl leichter zu „bekehren“ sei: Die Bundesregierung — oder die „Rechten und Corona-Leugner“, vor denen Schroeder im August aufgetreten sei.
Dankenswerterweise stellt Schroeder klar, dass nicht alle, die zu diesen Demonstrationen gehen, gleich rechts oder „Corona-Leugner“ seien. Auch in anderen Interviews betonte er, dass die Menschen, die durch die Maßnahmen verunsichert sind, auf diesen Demonstrationen die Mehrheit ausmachen und weit davon entfernt sind, die Existenz des Virus zu leugnen.
Aber er traue „der Bundesregierung doch eine größere Lernfähigkeit zu“.
Ich tue das nicht. Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr hätte völlig klar sein müssen, dass ein zweiter, flächendeckender Lockdown mehr Schaden verursacht, als er Unheil abhält. Der Herbst hätte nun die Gelegenheit geboten, zu zeigen, dass aus dieser Erfahrung gelernt wurde. Das Gegenteil wurde umgesetzt, deutschlandweit. Lernfähigkeit wurde hier nicht demonstriert.
Dabei ist der Preis so hoch. Der abstrakten und recht unwahrscheinlichen Gefahr einer Ansteckung in den genannten Branchen steht der Zusammenbruch der gesamten Volkswirtschaft gegenüber, die diesen Namen verdient: Es sind die Menschen, die vor Ort unser Umfeld gestalten, die die Wirtschaft lokal am Laufen halten, die ihre Steuern zahlen, die unsere Innenstädte prägen, die uns unterhalten, die zu unserem Bekannten- und unserem Freundeskreis gehören — diese Menschen sind es, die von einem Lockdown existenziell bedroht sind. Sie haben in den vergangenen Monaten deutlich gemacht, was ihre Bedürfnisse, ihre Hoffnungen und Erwartungen sind. Doch die Regierung nahm das nicht ernst genug.
Für diese Menschen müssen wir deshalb alle einstehen. Florian Schroeder geht dabei voran und zeigt Gesicht. Tun wir es ihm gleich.
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