Kaum einem Tier in der westlichen Zivilisation wird mit solcher Abneigung begegnet wie der Schlange. Schlangen gelten als abstoßend, listig, verschlagen, gefährlich. In der christlichen Kultur ist die Schlange das Symbol der Falschheit und des Bösen schlechthin. Sie verführte Eva dazu, von der verbotenen Frucht zu essen. Zur Strafe verfluchte Gott Frau und Mann und zwang die Schlange dazu, auf dem Bauch zu kriechen und Staub zu fressen. Seitdem liegt das Paradies weit hinter uns, der natürliche Urzustand, in dem wir genug von allem hatten und in Einheit und Frieden zusammenlebten.
Die Missionare des Christentums sorgten dafür, dass die Schlange, und mit ihr die Frau, ihren schlechten Ruf beibehielten. Über die ganze Welt verteilte sich der Glaube an die Erbsünde, die zur Vertreibung aus dem Paradies geführt hatte. Somit war die Tür geöffnet für die Hölle auf Erden. Erlösung gibt es nur im Jenseits — und auch nur dann, wenn wir die Gnade eines alleinherrschenden und eifersüchtigen Patriarchen erhaschten.
In den monotheistischen Religionen hat das Weibliche, die Mutter Erde, kaum noch eine Bedeutung. Das Wilde und Unberechenbare wird unterdrückt, damit nicht noch einmal eine Lilith, eine Eva oder eine Pandora auf die Idee kommen, neugierig zu werden.
Wie vor ihr die Religion, rehabilitierte die Wissenschaft das Ansehen der Schlange nicht und degradierte sie wie alles Lebendige zu einem Forschungsobjekt und schließlich zur Ressource.
So ging uns im Laufe der Jahrtausende die ursprüngliche Drachenkraft verloren. Anstatt mit den vier Elementen Luft, Wasser, Erde und Feuer in Verbindung zu bleiben, verschwand die Schlange im Dickicht des kollektiven Unterbewusstseins. In der Traumdeutung steht sie heute für Veränderung, Weisheit, Regeneration, Gefahr und Sexualität. Sinnlich schlängelt sie sich durch unsere Träume und erinnert uns daran, welche Kraft in ihr steckt. Als Kundalini rollt sie sich im untersten Chakra zusammen und wartet darauf, erweckt zu werden.
Lebenszeichen
Anders als in den Ländern der sogenannten ersten Welt, in denen wir nach einem zufälligen Knall in ein kaltes, sinnloses Universum geworfen wurden, verkörpert die Schlange im Hinduismus und im Buddhismus das kosmische Bewusstsein. Die östlichen Erzählungen sind voll von Beschützergestalten, deren Aufgabe es ist, über die kosmischen Gesetze zu wachen. Hier schrumpft das Lebendige nicht in Nichtigkeit und Bedeutungslosigkeit immer weiter zusammen, sondern entfaltet sich entsprechend seiner ursprünglichen Kraft.
In ihrer körperlichen Gestalt stellt die Schlange in ihrer ausgestreckten Form das Männliche und in ihrer zum Kreis geschlossenen Form das Weibliche dar. Seit dem alten Ägypten ist der Ouroboros, die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein Symbol für das Zyklische in der Welt, die Unendlichkeit, die Ewigkeit. Im Großen wie im Kleinen versinnbildlicht sie das Lösen von Altem, das Entbinden von Ersehntem, das Winden aus einer alten Haut.
In der indischen Philosophie schlummert der Hindu-Gott Vishnu auf dem Lager einer zusammengerollten siebenköpfigen Schlange, auf dem er sich über die Gewässer eines kosmischen Weltenozeanes bewegt. Im heutigen Indien werden Schlangen als Nagas verehrt, Mischwesen aus Schlange und Mensch, die mit den Göttern zusammengearbeitet haben.
In ihrer gewellten Form finden wir die Schlange am Stab des Hermes, des Vermittlers zwischen Menschen und Göttern, am Kopfschmuck des Pharaos oder in Form einer Doppelhelix am Stab des Aesculap, der bis heute als ein Symbol der Heilkunst gilt. Tief ist das Mysterium der Schlange, ihre Verbindung mit dem Reich des Unbewussten und ihrer Ähnlichkeit mit den Strängen unserer DNA, unserem genetischen Code, in die Geschichte unserer Zivilisation eingewebt.
Das Netz des Lebens
Wie die Schlange genießt auch die Spinne in den westlichen Industrienationen wenig Ansehen. Tief ist die Angst vor Spinnen in der Menschheitsgeschichte verwurzelt, obwohl die Tiere nicht wirklich eine Gefahr darstellen. Mücken, Hunde und Menschen sind weit gefährlicher.
In vielen Kulturen wird die Spinne als Schicksalsgöttin angesehen, die den Faden des Lebens in den Händen hält. Sie webt das Netz, das Raum und Zeit zusammenhält und das mit seinen Fäden den Lebensteppich eines jeden Lebewesens symbolisiert.
Bei unseren germanischen Ahnen kommt der Spinne die Rolle der Schicksalsweberin zu. Sie steht mit den Nornen in Verbindung, den drei Schicksalsfrauen, die über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmen. Der Spinne wird nachgesagt, Einfluss auf unser Schicksal zu haben und das Leben verschiedener Personen verknüpfen zu können.
Bei den Hopi-Indianern ist das Krafttier Spinne die Urgroßmutter aller Wesen, die in der Schöpfungsgeschichte eine bedeutende Rolle einnimmt. Sie weist auf die Verbundenheit allen Lebens hin und hilft, einen Sinn in den Ereignissen zu finden. In der Erkenntnis, dass wir alle Teile eines Ganzen sind, werden wir uns über die Zusammenhänge und die Verbindung zu allen Wesen bewusst. Mit weiblicher Schöpferkraft webt die Spinne auch unter widrigsten Umständen immer neue Netze.
Besser als ihr Ruf
Wie Spinnen und Schlangen ist auch die Ratte mit Vorurteilen belastet und zu einem Feindbild des Menschen geworden. Ratten transportierten die Pestflöhe, die eigentlichen Verantwortlichen für die Pest, der im Spätmittelalter etwa 25 Millionen Menschen zum Opfer fielen — ein Drittel der damals auf dem Kontinent lebenden Bevölkerung.
Für viele Menschen haben Ratten etwas Unheimliches, Beängstigendes, Huschendes. Doch eigentlich sind Ratten sehr soziale und intelligente Tiere. Sie gelten als wahre Überlebenskünstler und finden immer einen Weg. Die kleinsten Veränderungen in ihrer Umwelt nehmen sie wahr und stehen in dem Ruf, Katastrophen vorausspüren zu können. Mit ihrer Sensibilität finden sie sich auch an den dunkelsten Orten zurecht und zeigen, dass man vor der Dunkelheit keine Angst haben muss.
In vielen Kulturen ist die Ratte ein Glückssymbol. Sie ist das erste Tier im chinesischen Sternkreiszeichen. Ratten haben einen scharfen Verstand und eine gute Auffassungs- und Anpassungsgabe. In der hinduistischen Mythologie ist die Ratte das Reittier Ganeshas, des Gottes mit dem Elefantenkopf, der Sohn Shivas und seiner Gemahlin Devi, und steht für Klugheit, Glück und Reichtum. In Indien werden Ratten als heilig verehrt. Sie sollen die Seelen verstorbener Menschen in sich tragen.
Zurück zu den Wurzeln
Ist es ein Zufall, dass die ursprünglichen Krafttiere mit einem Fluch belegt wurden?
Ist es Zufall, dass auf den ursprünglichen Kraftorten der Erde Kirchen gebaut wurden, dass aus „heidnischen“ christliche Feste wurden und dass die Lehre der Nächstenliebe zu einer Religion der Dominanz wurde? Ist es Zufall, dass aus einstigen Glückssymbolen Schandmale wurden und dass die weibliche Schöpferkraft so weit reduziert wurde, dass es heute keine Mütter mehr braucht?
Ich jedenfalls habe beschlossen, meiner Angst vor Schlangen, Spinnen und Ratten in die Augen zu sehen und mich nicht mehr von ihr überwältigen zu lassen. Auch wenn ich sie in meinem Lebensraum nicht gern haben möchte, will ich mich an ihnen inspirieren und ihnen die Ehre zukommen lassen, die ihnen und allen anderen Lebewesen gebührt. In der Verbindung mit den ursprünglichen Krafttieren kann die Stärke zu uns zurückkommen, die wir brauchen, um den Schritt in die nächste Entwicklungsstufe zu tun.
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