Das Auto ist des Deutschen Heiligtum
Stolz steht das Auto in der Garageneinfahrt und präsentiert stumm den vorbeigehenden Fußgängern das Prestige seines Besitzers oder dessen Rang in der Hierarchie der Firma, in der er arbeitet. Etwas ältere Exemplare waren vermutlich schon auf dem Hochzeitsfoto dabei, haben mit ihrem Gesicht aus Scheinwerfer und Kühlerhaube mit in die Linse gelächelt und auf der Motorhaube einen Blumenstrauß getragen.
Es ist treu, es ist da, in guten wie in schlechten Zeiten. Als blutjunger SUV, der seinem Besitzer hilft, die schweren Einkäufe aus dem Biomarkt ins traute Heim zu bringen, oder als alter, treuer Oldtimer-Freund, der in der Garage durch das Schnaufen seiner Motorventile dem Besitzer noch das Verständnis zeigt, welches er von seiner Ehegattin schon lange nicht mehr bekommt. Wenn die Eheringe schon längst verstaubt in der Ecke liegen, blitzen auf der Kühler- oder der Motorhaube noch vier Ringe oder der letzte Stern, den der Besitzer in dunkler Nacht noch sieht, oder auch ein Hengst, dessen Potenz er, der Besitzer, niemals besaß.
Jüngere Käufer legen ihr Gefährt meist tiefer und gleichzeitig hebt das seinen Besitzer ab. Von den anderen. Es faucht und brüllt, wenn der Besitzer nur fiepsen kann. Für den Besitzer war es schon des Öfteren der Wing-man, der Flügel für die Freiheit und das fahrende Wohnzimmer auf vier Rädern, wenn die Kumpels auf der Rückbank und die Böhsen Onkelz auf der Heckscheibe mitfuhren.
Eine nie endende Liebesgeschichte: Der Deutsche und sein Auto.
Bedauerlicherweise handelt es sich hierbei um eine streng monogame Beziehung. Trifft der Besitzer mit seinem Auto auf der Straße auf andere Paare, ist es mit der Zärtlichkeit ganz schnell vorbei. Hier wird dann gedrängelt, gehupt, beschleunigt, Tempolimits missachtet, rechts – oder noch schlimmer – in der Kurve überholt und damit der Tod oder zumindest das zu Tode Erschrecken des entgegenkommenden Fahrers billigend in Kauf genommen.
Auf den Straßen herrscht Anarchie statt Empathie!
Und nach meiner persönlichen Wahrnehmung verschlimmerte sich dieses Verhalten in den letzten Jahren. 2011 habe ich mit 18 meinen Führerschein gemacht und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass es vor sieben Jahren noch nicht so rücksichtslos auf den Straßen zuging. Mittlerweile vermeide ich das Autofahren nahezu komplett und beobachte den Wahnsinn vom Beifahrersitz oder aus den Fenstern von Flixbussen.
Highway of Hell
„Highway to hell“, sangen AC/DC. „Der Weg ist das Ziel“, sagte Konfuzius. Im Bezug auf deutsche Autobahnen, beziehungsweise Highways, könnte man als Synthese formulieren: Die deutschen Highways sind die Hölle. Highway of Hell. Und unter Wechselstrom (ac/dc) stehen ich und viele andere (passive) Verkehrsteilnehmer, die diesen Wahnsinn regelmäßig beobachten beziehungsweise mittendrin sind.
Auf dreispurigen Autobahnen kann man sich zumindest noch auf die mittlere, moderate Spur flüchtigen. So muss man weder auf der linken Todesraser-Zone mit den Need-for-Speed-Fanatikern durchheizen, noch in der LKW-Schnecken-Kolonne mitgurken, stets mit dem Risiko verbunden, im Falle eines Auffahrunfalls oder bei Unachtsamkeit des hinteren LKW-Fahrers zum Ketchup eines Metall-Sandwiches zu werden. Bei zweispurigen Autobahnen hat man die Wahl zwischen beiden Extremen.
Hat Hitler damals die deutschen Autobahnen bauen lassen, damit die Panzer zum Krieg rollen konnten, herrscht nun der Krieg auf den Autobahnen selber! Von daher kann es sich die EU eigentlich sparen, für horrende Summen die Straßen wieder panzertauglich zu machen.
Im Folgenden möchte ich auf einige Aspekte eingehen, die die Empathielosigkeit zwischen den Verkehrseilnehmern besonders deutlich machen.
Sicherheitsabstand
Der Richtwert für den korrekten Abstand lautet: Halber Tacho in Metern. Wenn ich also 120 km/h fahre, muss ich zu meinem Vordermann einen Abstand von 60 Metern einhalten. Also ein Abstand, in dem circa 12 Autos Platz hätten. Von diesem Abstand sind die meisten Autobahnnutzer meilenweit entfernt! Insbesondere die Fahrer auf der linken Spur sind, so habe ich das Gefühl, gewillt, beinahe den Kofferraum des Vordermanns zu küssen. Die Autofahrer fahren fast so nah hintereinander, dass sie jedes einzelne Staubkörnchen auf dem „Hipp – Baby fährt mit“-Aufkleber des Vordermanns sehen können. Das Wissen aus dem Theorie-Unterricht der Fahrschule scheint wie ausgelöscht. Daher hier noch einmal die Bremsformel:
(Geschwindigkeit/10) mal (Geschwindigkeit/10) = Bremsweg in Metern.
Bei Bremsungen in einer gefährlichen Situation muss dieser Wert durch zwei geteilt werden.
Wenn mein Vordermann eine Gefahrenbremsung vollführt und ich direkt an seinem Heck klebe, dann sitze ich im nächsten Moment in seinem Kofferraum und die Fahrgäste auf dessen Rückbank werden danach nicht mehr sonderlich gesund sein, um es mal vorsichtig auszudrücken. Aufgrund zu geringer Sicherheitsabstände kamen 2017 50.000 Menschen zu Schaden.
Autobahneinfahrt
Autobahneinfahrten sind der Härtetest für die Empathie der anderen Verkehrsteilnehmer. Das gilt insbesondere dann, wenn die Einfahrtspur besonders kurz ist. Hier muss ich mich als Befahrer der Autobahn in den anderen Autofahrer hineinversetzen, seinen Stress erkennen, den er nun hat, da er durch die Kurven bedingt aus einer Geschwindigkeit von gerade einmal 40 km/h heraus binnen weniger Sekunden auf 80 bis 100 km/h beschleunigen muss. Denn diese Geschwindigkeit benötigt er, damit er sich problemlos in den fließenden Verkehr einreihen kann.
Und wenn die Einfahrt nicht einfach in den Standstreifen übergeht, sondern die gebogene Leitplanke kalt und unbarmherzig das Ende der Einfahrt markiert, dann hat der Autofahrer, sollte er es nicht von der Einfahrt auf die rechte Spur schaffen, mal ganz sportlich gesagt „die Arschkarte gezogen“. Er muss ja dann abbremsen, um nicht auf die Leitplanke zu donnern, und anschließend aus dem Stand heraus beschleunigen. Das ist schlicht ein Himmelfahrtskommando!
Empathische Autofahrer wechseln also bereits dann, wenn sich am Horizont eine Aus- beziehungsweise Einfahrt auftut, auf die mittlere oder linke Spur – vorausschauend fahren, wie es mir meine Fahrlehrerin immerzu eintrichterte –, damit die angehenden Autobahn-Teilnehmer unbeschwert auf die rechte Spur wechseln können. Und selbst wenn ich das verschlafe, dann sollte ich kurz vor der Einfahrt deutlich abbremsen und den Einfahrenden mit Lichthupe, was nach Marschall McLuhans „extensions of man“-Theorie als Augenzwinkern verstanden werden kann, das Signal geben, dass er auf meine Spur wechseln kann, ohne dass ich ihm ins Heck krache.
Aber auch nach der Autobahnausfahrt ist es um die Empathie auf der Straße nicht besser bestellt! Im Gegenteil: Auf den Landstraßen sind die Verhältnisse teilweise sogar noch um ein Vielfaches schlimmer.
Hier sind die beiden Fahrspuren nicht durch Leitplanken getrennt, sodass die Verkehrsteilnehmer mit hohen Geschwindigkeiten – nur wenige Zentimeter voneinander getrennt – aneinander vorbeirauschen. Der Frontalzusammenstoß und der damit verbundene todsichere Tod ist auf den meisten Landstraßen nur eine kurze Lenkradbewegung entfernt.
LKWs und Traktoren provozieren durch ihr Dahinkriechen waghalsige Überholmanöver völlig empathieloser Autofahrer, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Die Bundesstraße 12 in Bayern ist hierfür ein trauriges, prominentes Beispiel. Der Streckenabschnitt zwischen Forstinning und Pocking gilt als Deutschlands tödlichste Strecke, an deren Fahrbahnrändern sich mehr Kreuze befinden als in bayerischen Behörden!
Hier gelingt es mir nicht – wie oben beschrieben – mich in die rücksichtslos rasenden Autofahrer hineinzuversetzen. Ich kann mir nicht vorstellen, was in deren Köpfen vor sich geht. Erst recht nicht, wenn diese Menschen in Kurven überholen. In Kurven! Das muss einem doch der gesunde Menschenverstand oder der Überlebenstrieb sagen, dass ich mich bei einem Überholmanöver innerhalb einer Kurve in eine für mich und andere hochgradig tödliche Situation begebe.
Ich kann doch gar nicht sehen, ob mir in dieser Kurve ein anderer Autofahrer entgegenkommt. Und was mache ich dann, wenn dem so ist? Binnen einer Sekunde? Nach rechts ausweichen? Dort befindet sich allerdings derjenige, den ich soeben überholen wollte. Nach links ausweichen? Dort stehen vielleicht massive Bäume, die meinen sicheren Tod bedeuten würden. Von vorne rast mir der entgegenfahrende Verkehrsteilnehmer mit knapp 100 km/h entgegen. Abbremsen? Ich verweise noch einmal auf die Bremsweg-Formel oben!
Und selbst wenn es mir mit gottesgleichen Reflexen gelingt, mich aus dieser brenzligen Situation zu befreien, habe ich meinem entgegenkommenden Verkehrsteilnehmer für ein bis zwei Sekunden eine höllische Todesangst eingejagt! Bei älteren Verkehrsteilnehmern könnte dies zu einem Herzinfarkt führen. Möglicherweise lenkt er instinktiv sein Fahrzeug von mir weg und prallt dann selbst gegen einen Baum. 2017 kamen durch Überholmanöver 13.000 Menschen zu Schaden.
Können diese Autofahrer nicht so weit denken? Sind sie so sehr von der ihnen durch die PS-Zahl verliehenen Macht benebelt und von ihrem Geschwindigkeitsrausch besessen?
Tempolimit als Sakrileg
Im internationalen Staatensystem existiert ein unsichtbares Bündnis zwischen Deutschland, Nordkorea, Somalia, dem Libanon, Afghanistan, Nepal, Myanmar und Bhutan. Abgefahren, oder? Mit „abgefahren“ meine ich nicht zwangsweise die Tiefe der Reifenprofile, nachdem man mit diesen bei 250 km/h über die Autobahn gedonnert ist, sondern die Aneinanderreihung der oben aufgelisteten Länder in einem Zusammenhang. Was hat Deutschland mit Nordkorea oder Somalia mit Nepal gemeinsam?
Nun: In diesen Ländern gibt es auf den Autobahnen – oder auf Abschnitten davon – kein Tempolimit!
Und diese Autobahnabschnitte sind wirklich heilige Kühe, die von nichts und niemanden angetastet werden dürfen. Sie dachten vielleicht, man bekäme in Deutschland große Probleme, wenn man sich erdreistet, Israel zu kritisieren. Na dann versuchen sie mal, in einem deutschen Motorsport-Forum oder unter einem ADAC-Facebookpost freundlich, sachlich und faktenbasiert für ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen zu argumentieren. Freunde der Nacht! Dann bekommt ihr es aber mit einer Sintflut gehässiger und menschenverachtender Kommentare zu tun, wie man es eigentlich nicht für möglich gehalten hätte. Klickt man auf die Profile der Verfasser, ergibt sich stets ein einheitliches Bild. Das Profilbild besteht entweder nur aus dem Auto des Besitzers oder desselbigen im Beisein seiner Karosse. Hier tritt die im ersten Abschnitt beschriebene Liebe des Deutschen zu seinem Auto noch einmal ganz deutlich zutage.
Aber mit einer solchen Forderung machen Sie sich nicht nur den kleinen Mann mit seinem Automobil zum Feind. Schließlich gibt es eine sehr starke Lobby für PS-starke Automobile. Und wenn der einzige Urlaubsort für Raser in Europa plötzlich rote Schilder aufstellen würde, gäbe es ja keinen Platz mehr, wo man die Pferdestärken mal zur Geltung bringen könnte, was in letzter Konsequenz bedeuten würde, dass Sportwagen obsolet werden würden. Dies wiederum würde den Bleifuß-Pöbel – der durchaus auch gut bei Kasse sein kann – auf die Barrikaden bringen.
Das Ganze wird natürlich noch medial unterstützt. So schrieb Welt-Redakteur Ulf Poschardt 2013:
„(…) so finden sich unter den Freunden des Tempolimits Bahnfreunde, Entschleunigte und jener Teil des Moralestablishments, der mit seinen armseligen Kisten schon heute auf der Überholspur auf Einhaltung der Richtgeschwindigkeit dringt, auch um ungeduldigere Menschen auf das eigene, mittelmäßige Tempo einzubremsen.“
Man muss also nicht nur auf den Abschnitten ohne Tempolimit um sein Leben fürchten, sondern auch dann, wenn man sich außerhalb des Autos für Geschwindigkeitsbegrenzungen einsetzt. So musste sich der ehemalige Titanic-Chefredakteur Thomas Gsella, nachdem seine Schwester und ihre Tochter von einem Raser getötet wurden, anhören, seine beiden verstorbenen Verwandten hätten doch lieber mit der Bahn fahren sollen, anstatt eine deutsche Autobahn zu blockieren.
Was für eine Verrohung! Um abstoßende Menschenverachtung kennenzulernen, muss man gar keine Pegida-Veranstaltung besuchen. Es genügt der Blick in die Herzen eines manchen deutschen Auto-Vernarrten.
Aber selbst wenn es gelingen sollte, ein deutschlandweites Tempolimit einzuführen, wäre es damit immer noch nicht getan, da bereits bestehende Tempolimits einfach achtlos übergangen werden. Und das gar nicht mal – wie zu erwarten – ausschließlich von Rasern, sondern von ganz „normalen“ Autofahrern. Dass man einfach mal 30 km/h schneller fährt, weil die Straße frei ist, ist inzwischen „selbstverständlich“! Und das ermutigt natürlich die Need-for-Speed-Fanatiker, erst recht einen Dreck auf die roten Schilder zu geben. So machte mir einmal auf einer Landstraße, auf der zu Recht Tempolimit 50 galt, bei Tempo 59 km/h – also das, was gerade noch erlaubt ist – ein hinter mir fahrender BMW mit Ton- und Lichthupe Stress, um mich zum Schnellerfahren zu bewegen. Und das, obwohl ich ohnehin schon zu schnell fuhr!
Auch hier sinkt die Empathie, je weiter sich die Tachonadel nach rechts neigt. Auch hier wird der Tod oder die Verletzung anderer Verkehrsteilnehmer, respektive Menschen, billigend in Kauf genommen. 2017 kamen durch das Überschreiten von Geschwindigkeitsbegrenzungen 45.000 Menschen zu Schaden.
Handy am Steuer
Haben Sie Angst vor Terroristen? Vor Terrorismus? Ich nicht! Eine millionenfach höhere Gefahr beobachte ich täglich an deutschen Ampeln: Autofahrer, die beides in Händen halten – Steuer und Smartphone.
Das Skandalöse ist nicht das Nutzen des Handys, während man an der Ampel wartet und dann eventuell das grüne Licht verschläft, absolut lebensverachtend ist der Blick auf das Smartphone während der Fahrt. Wer sich bei Tempo 50 eine Sekunde vom Smartphone ablenken lässt, legt 14 Meter blind zurück. Bei drei Sekunden sind das beinahe 50 Meter, auf denen man ein tonnenschweres Gefährt wie mit geschlossenen Augen lenkt, ohne zu sehen, ob nun ein Kind oder ein Tier auf die Fahrbahn rennt oder der Vordermann eine Notbremsung macht.
Wer während des Autofahrens das Handy nutzt, gefährdet sich, aber vor allem andere Verkehrsteilnehmer. Viele wissen es nicht, manche wissen es, ignorieren es aber, da ihnen Kurznachrichten, Selfies, Snaps und Insta-Stories wichtiger sind als das Leben anderer. Menschenverachtung am Steuer!
Die Strafen für dieses Fehlverhalten sind noch viel zu gering. Lag vor kurzem das Bußgeld bei 60 Euro, wurde es nun auf läppische 100 Euro plus einen Punkt in Flensburg erhöht. Das ist also ein gefährdetes Menschenleben wert! Hier bräuchte es wesentlich härtere Strafen – nicht nur rein monetäre, sondern vielleicht die Konfrontation von autofahrenden Handynutzern mit Unfallopfern durch Handynutzung am Steuer. Bedauerlicherweise werden die Personen, die durch Handynutzung am Steuer zu Schaden gekommen sind, in der Unfallstatistik nicht aufgezählt, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass dies schwer zu ermitteln ist, nachdem es gescheppert hat.
Leider beschränkt sich die Handy-Sünde nicht allein auf das Autofahren. An Unfallstellen wird das Handy in diesen Tagen massiv zweckentfremdet. Anstatt die Rettungsdienste zu informieren, erfreut sich so mancher per Handykamera am Traummotiv für seinen persönlichen Katastrophen-Voyeurismus.
Verhalten bei Unfällen
Autounfälle geschehen unvorhergesehen, aus heiterem Himmel. Ein lauter Knall, eine unbändige Kraft drückt einen für einen kurzen Augenblick in den Sitz, ein weißes Kissen schnellt hervor. Es folgen Stillstand und der Geruch von Sprengkörpern, gepaart mit einem metallenen Geschmack im Mund. Wenn man durch die gesprungene Windschutzscheibe auf die zerbeulte, rauchende Motorhaube blickt, ist der erste Gedanke, ob man unbeschadet geblieben ist und ob man falsch reagiert hat.
In den heutigen Tagen werden sich viele zusätzlich noch Gedanken machen, ob sie nach dem Unfall auch noch gut aussehen, ob die Frisur noch sitzt – überprüft mit einem Blick in den Schminkspiegel des Sonnenschutzes. Denn man muss fest damit rechnen, dass man, sobald man sich aus dem Wrack seines Autos herauskämpft, von einer Menschenhorde empfangen wird, die allesamt ihr Handy gezückt halten. Nicht etwa um den Notarzt zu rufen, sondern um das Geschehen auf Video festzuhalten. Man muss davon ausgehen, an diesem unglückseligen Tag unfreiwillig und blutüberströmt im Netz berühmt zu werden. Das Blut bildet den roten Teppich.
Das beschriebene Szenario ist leider keine Satire und auch kein Einzelfall, sondern mehr und mehr trauriger Alltag von Rettungskräften. Tendenz steigend. Unfallstellen werden zu Gladiatoren-Arenen, in denen Unfallopfer mit dem Tod ringen. Spielverderbern – Polizei und Notarzt – wird der Zugang erschwert, teilweise sogar gewaltsam. Wenn dann einem Feuerwehrmann mal wirklich die Hutschnur reist und dieser das Gaffer-Publikum mit Wasser bespritzt, klagen die Nassgespritzten am Ende noch über den schlechten Service bei diesem Katastrophen-Event.
Auch der Weg zu den Unglücksstellen ist mit unmenschlichem Verhalten gepflastert. Sehr häufig sind die hinter der Unfallstelle im Stau steckenden Autofahrer unwillig, eine vernünftige Rettungsgasse zu bilden. Durch intensive Aufklärung mit Plakaten an Brücken und Heckaufklebern hat sich das in den vergangenen Jahren verbessert. Doch auch diesem Umstand zum Trotz ziehen manche Autofahrer aus der Verbesserung einen scheußlichen, egoistischen Nutzen. Sie fahren durch die freigewordene Rettungsgasse und lassen die ganzen anständigen Trottel, die mitdenken, in einer Staubwolke hinter sich. Dass sie irgendwann die Rettungsgasse blockieren, da ähnlich Gesinnte auf dieselbe Idee kommen und damit den Rettungsdiensten kostbare Minuten rauben, die über Leben und Tod der Unfallopfer entscheiden können, scheint den Fahrern der Marke „Die ganze Welt dreht sich um mich, ich bin nur ein Egoist“ gänzlich egal zu sein.
Nach einer langen Litanei, wie egoistisch, unempathisch und teilweise leben- und menschenverachtend das Fahrverhalten vieler Autofahrer ist, betrachten wir das ganze einmal aus einer philosophischen Warte.
Man sieht nur noch Kisten.
Nach der bereits erwähnten „Extension of man“-Theorie von Marshall McLuhan stellen Medien Ausweitungen des menschlichen Körpers dar. So ist der Fernseher die Erweiterung der Augen, das Radio die der Ohren, Räder die der Füße und ein Computer die Erweiterung des menschlichen Gehirns.
Und so sind natürlich auch Autos Medien und das nicht erst, seit neue Modelle über Multimedia-Systeme mit Navigation, Musik, Radio und über Rückfahrkameras verfügen. Das Konstrukt Auto an sich ist mit oder ohne den ganzen Firlefanz von heute ein Medium, über das ich als Fahrer kommunizieren, meinen Willen ausdrücken oder meine Körpersprache zeigen kann.
Mit den Blinkern kann ich mitteilen, wohin ich fahren möchte. Mit der Lichthupe kann ich jemanden zuzwinkern und ihm die Vorfahrt geben – oder eine Warnung aussprechen. Mit der Hupe kann ich jemanden grüßen oder anschreien, mit den Scheibenwischern mir „die Augen reiben“. Mit dem aufheulenden Motor und quietschenden Reifen kann man als Mann – wenn auch unbewusst – die eigenen Potenzprobleme zum Ausdruck bringen.
Die Empathielosigkeit zwischen den Autofahrern lässt sich unter anderem damit erklären, dass bei den Menschen im Straßenverkehr das Medium „Auto“ dazwischengeschaltet ist und den einzelnen Menschen anonymisiert. Und auch das Medium „Auto“ ist je nach Marke mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen aufgeladen. Die Anordnung von Scheinwerfern, den Augen, und Kühlerhaube, dem Mund, sorgt dafür, dass wir in Autos Gesichter erkennen und diesen Wesenszüge zuschreiben. In BMWs sehen wir häufig eine drängelnde Raubkatze, durch die schnabelförmige Motorhaube sehen ältere Porsche-Modelle für uns aus wie Enten und ein Fiat Multibla erinnert uns an…? Ach, bilden Sie sich darüber ein eigenes Urteil.
Beim Autofahren erleben wir nach außen wie nach innen eine Entfremdung. Von außen sehen wir nur Kisten, die mit gewissen Eigenschaften verbunden werden und einen genaueren Blick auf die Insassen verbergen. Aber auch im Inneren – Dirk C. Fleck beschrieb das in seinem Roman „GO! Die Ökodiktatur“ sehr anschaulich – befindet sich ein Mensch im Auto, ob nun als Fahrer oder Beifahrer, in einer sehr unnatürlichen Haltung, die der Mensch in der vorindustriellen Zeit niemals einnahm. Er sitzt auf einem Polster, Arme und Beine voneinander abgewinkelt und betätigt mit Händen und Füßen eine Maschine, die ihn von A nach B bringt.
Anders verhält sich dies beim Motorradfahren. Hier ist der Entfremdungseffekt wesentlich geringer und der Zusammenhalt innerhalb der Biker-Szene – wenn man die Rivalitäten zwischen unterschiedlichen Motorradclubs mal beiseitelässt – deutlich ausgeprägter. Biker treffen sich entweder in kleinen Gruppen oder in ganzen Banden, um gemeinsam eine Strecke zurückzulegen. Man achtet aufeinander, unter Motorradfahrern wurden Codes entwickelt, mit denen die Fahrer kommunizieren. Zum Beispiel signalisiert das Wippen mit dem linken Fuß dem entgegenkommenden Motorradfahrer auf der Landstraße, dass sich im kommenden Straßenabschnitt ein Blitzer befindet und der andere nun besser langsamer fahren sollte.
Dass sich Motorradfahrer untereinander empathischer verhalten als Autofahrer, hat nicht nur mit der verbundenen Leidenschaft zum Motorradfahren zu tun, sondern auch damit, dass das Medium „Motorrad“ – auch wenn es über die gleichen Kommunikationsfunktionen verfügt – im Vergleich zum Auto eine geringere beziehungsweise gar keine „Knautschzone“ hat. Auch wenn der Motorradfahrer von Helm und Overall verhüllt ist, ist er im Gegensatz zu Autofahrern als Mensch auf der Maschine für jeden zu sehen. Die menschliche Identifikation fällt leichter. Und auch für den Motorradfahrer selbst ist die Entfremdung geringer als beim Auto, da die Haltung, mit der er sich auf seiner Maschine befindet, historisch gesehen natürlicher ist als die Haltung beim Autofahren. So wie der Motorradfahrer seinen Lenker hält, so hielten Reiter früher die Zügel ihrer Pferde.
Dreckschleudern
Der Auspuff der Autos ist auch eine Form der Kommunikation des Mediums „Auto“. Während die meisten Menschen ihre Blähungen kontrollieren können, stoßen alle Benzin- oder Dieselautos unablässig Abgase in die Luft. Und selbst Elektroautos haben ökologisch keine weiße Weste, da die Produktion der Batterien ebenfalls sehr umweltschädigend ist.
Die Thematik, wie sich die Empathielosigkeit beim Autofahren auf die Umwelt auswirkt, könnte einen weiteren Artikel füllen. Man könnte erneut das VW-Skandal-Thema breittreten, ellenlang darüber schreiben, dass man die von den Automobilkonzernen versprochenen Höchstabgaswerte nur unter unrealistischen Labor-Bedingungen erreicht und die Kisten somit um Welten klimaschädlicher sind als angepriesen. Man könnte sich lange darüber auslassen, dass es absurd ist, dass SUVs eine grüne Plakette bekommen, weil die PS-Zahl im Verhältnis zum Hubraum genommen wird, um die Umweltverträglichkeit eines Autos zu bestimmen.
Man könnte über die Empathielosigkeit der Automobilkonzerne schreiben, die die Höchstwerte einfach nach oben korrigieren, über die Empathielosigkeit des Staates, der SUVs als Firmenautos subventioniert und erneut über die Empathielosigkeit der Autofahrer, die schlicht einen Dreck – im wahrsten Sinne des Wortes – darauf geben, was sie mit ihrem Fahrverhalten der Umwelt antun. Durch Kurzstrecken für Erledigungen, die sie genauso gut mit dem Fahrrad machen könnten. Durch den Kauf immer größerer Autos, um sich vermeintlich sicherer zu fühlen. Durch das lange Anlassen des Motors beim Parken und so weiter.
Gänzlich unerwähnt bleibt die irrsinnige Menge an Öl, die wir täglich verbrauchen. Während Sie diesen Artikel lesen, verbraucht die Welt knapp 200 Millionen Liter Öl! Und mit dem Öl sind auch zahlreiche Kriege und Umweltzerstörungen verbunden wie im Golf von Mexiko oder durch Fracking – nicht umsonst gleicht wohl der Zapfhahn an der Tankstelle einer Pistole.
Und selbst wenn die Treibstofffrage geklärt werden sollte und alle Autos sich mit zu 100 Prozent ökologischer Energie bewegen sollten – was immer das für eine Energie auch sein mag – bleibt immer noch ein riesiger Klimaschädlings-Posten offen: Der Reifenabrieb.
Um diesem entgegenzutreten, müsste man einen gänzlich anderen, pflanzlichen Asphalt verwenden, wie ihn Dirk C. Fleck im Ökothriller „Das Tahiti-Projekt“ beschreibt. Aber das gesamte deutsche Straßennetz neu asphaltieren? Sie können sich selbst ausmalen, wie realistisch eine solche Forderung ist!
Und am Ende der Straße...
... steht kein Haus am See, sondern eine traurige Bilanz dessen, was wir uns und der uns fremd gewordenen Natur mit unserem Fahrverhalten und dem Autofahren an sich antun!
Vermutlich trete ich mit diesem Artikel dem einen oder anderen mächtig auf die Füße, aber das ist beabsichtigt, denn diese Füße können auf den Pedalen – ganz besonders auf dem rechten – massiven Schaden anrichten.
Die grundlegende Funktion des Autofahrens, Personen und Güter in einer kürzeren Zeit über weitere Distanzen von A nach B zu bringen, hat im Laufe der letzten hundert Jahre massive Nebenwirkungen sozialer wie ökologischer Natur mit sich gebracht. Zwar wird das Automobil vielfach zweckentfremdet, zum Rasen um des Geschwindigkeitsrausches willen. Doch auch ohne diesen Aspekt hat seine Grundfunktion des Transports und der Reisen zahlreiche Nebenwirkungen, die oben ausführlich dargelegt wurden. Und auch die romantisierende Sichtweise, dass das Automobil Distanzen überwinde und weit voneinander entfernt lebende Menschen näher zusammenbringe, wird von der Tatsache überschattet, wie viele unserer Liebsten uns bereits durch Autounfälle entrissen wurden.
Wir benötigen daher neue Konzepte und Modelle der Mobilität. So ist die Entwicklung weg vom privaten Automobil hin zum gemeinschaftlichen Nutzen der PKWs – Stichwort Car-Sharing – sehr begrüßenswert. Sollte es uns in naher Zukunft gelingen, das Privatauto von der Straße zu verbannen, sodass nur noch Car-Sharing-Autos unterwegs sind, würde sich auf unseren Straßen die Anzahl der Autos drastisch reduzieren. Damit würden zugleich Staus und Unfälle zurückgehen.
Wir wissen, dass mit steigender Geschwindigkeit der Raum kleiner wird und dieser kleine Raum ist mit privaten Autos heillos überfüllt. Mit wenigeren Autos würde das Klima – meteorologisch wie sozial – wesentlich angenehmer werden. Auch würde man feststellen können, dass Verkehrsteilnehmer in Orten ohne Straßenschilder wesentlich rücksichtsvoller miteinander umgehen, da jeder darauf angewiesen ist, auf den anderen Rücksicht zu nehmen.
Unverzichtbar ist die Ausweitung und Verbesserung des Öffentlichen Nahverkehrs! Hier sind wir nicht länger aktive Verkehrsteilnehmer, die um Vorfahrten, Parkplätze und das Erreichen von Grünen Wellen kämpfen, sondern Gäste – Fahrgäste, die sich mit Bus und Bahn in einem gemeinsamen Raum treffen – als Menschen.
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