Ich gebe zu: Ich liebe diesen Sport. Immer noch. Für große Spiele lasse ich alles stehen und liegen. Leipzig gegen Heidenheim. Oder gegen Werder. Meinetwegen auch Bayern gegen Real. Schon als Kind hatte ich die Europapokaltermine im Kopf und die Turniere sowieso. November 1977: Carl Zeiss Jena gegen Standard Lüttich, ein Mittwoch um 17 Uhr. Erst lange Vorfreude, dann zwei Stunden Glück und irgendwann Enttäuschung. Das DDR-Fernsehen hörte mit den Übertragungen auf, wenn die eigenen Mannschaften ausschieden. Gegen Lüttich hat es für Jena noch gereicht, gegen Bastia dann aber nicht mehr. Für den kleinen Michael hieß das: wieder ein halbes Jahr warten bis zum nächsten großen Spiel.
Heute habe ich alle Abos. Sky, Dazn, Amazon Prime, Magenta TV. Fast hätte ich sogar RTL+ gebucht, als RB ein Jahr in der Europa League war und die K.o.-Spiele nur dort zu sehen waren. Noch einmal fünf Euro im Monat. Das Geld war nicht der Punkt. Der Punkt war: Der Fußball fing an, mich zu nerven. Selbst die Bundesligasamstage sind nicht mehr das, was sie einst waren.
Oft setze ich mich zwar immer noch um 14 Uhr in den Sessel und bleibe dort bis kurz vor neun, wenn die Interviews nach dem letzten Spiel vorbei sind, ertappe mich aber mehr und mehr dabei, am liebsten vorspulen zu wollen. Manchmal mache ich das sogar. Übertragung anhalten, eine Stunde raus und dann überspringen, was den Fußball zerstört.
Sky sei stolz, heute klimaneutral zu übertragen, sagte Sebastian Hellmann kurz vor dem Anstoß zum letzten Pokalfinale. Ein Katalog mit 22 Kriterien, offenbar komplett erfüllt. Das Catering vegetarisch, dazu die Anreise und so weiter. Ich weiß nicht, ob Lothar Matthäus, der wie immer neben Hellmann stand, mit dem Rad ins Stadion gekommen war. Sein Gesicht sagte dazu nichts. Aus dem Mund kam aber ein Satz zur EM. Die Journalisten, so Lothar sinngemäß, machen diesmal hoffentlich ihren Job. Fußball. Das sei ja jüngst nicht immer so gewesen.
Dieser Sport, das muss ich den Jüngeren erklären und den Nicht-Fans sowieso, dieser Sport war auch vor zehn Jahren schon etwas völlig anderes als das, was ich als Kind genossen habe. Das Kommerzfernsehen hat den Fußball umgekrempelt (1).
Das Kommerzfernsehen hat aus dem Fußball den Stoff gemacht, aus dem Rekordquoten sind. Tempo, Spannung, schöne Menschen — in Stadien, die wie riesige TV-Studios aussehen und selbst dann strahlende Gesichter garantieren, wenn das eigene Team verliert.
Der Fußball hat sich ab den späten 1900ern an das Kommerzfernsehen verkauft und sich dafür neu erfunden (2). Elf gegen elf, okay. Das ist geblieben, fast jedenfalls. Früher, bevor ich geboren wurde, hatte man einfach Pech, wenn sich jemand das Bein brach. Inzwischen dürfen die Trainer fünf Spieler tauschen. Das heißt: mehr Geschichten, mehr Schnitte, mehr Drama. Ist der Stürmer sauer? Schaut er den Coach an? Warum hockt der Superstar immer noch auf der Bank? Also: Auch elf gegen elf ist nur noch eine Illusion. Das Spiel dauert 90 Minuten? Nun ja. Mal sehen, was gleich auf der Tafel steht. Die Wahrheit liegt auf dem Platz? Wohl kaum, sagt der Videoschiedsrichter. Fußball ist, wenn man in der Halbzeit für ein Würstchen Schlange stehen muss? Siehe oben.
Fußball war einmal auch das Spiel, bei dem 22 Männer 90 Minuten lang einem Ball nachjagen — „und am Ende gewinnen immer die Deutschen“, so Gary Lineker. Heute gewinnt der, der die beste Geschichte erzählen kann.
Xabi Alonso: ein Weltstar, noch halbwegs jung, schlank und hübsch, verirrt sich als Trainer in die deutsche Provinz, nach Leverkusen, zum Vorletzten, und lässt sich weder von den reichen Bayern locken noch vom wundervollen Liverpool, als seine Truppe plötzlich von Sieg zu Sieg eilt. Das war viel besser als das, was die Konkurrenz aus München zu erzählen hatte, wo der erste Trainer, sogar etwas jünger, aber nicht ganz so schlank, nicht ganz so hübsch, seinen Spielern die Bild-Reporterin wegnahm, sich auch sonst selbst für die größte aller Geschichten hielt und dann einen Nachfolger bekam, der permanent mit dem Kader haderte und damit, dass er nicht mehr in England ist.
Diese Story hat am Ende nicht einmal für Platz zwei gereicht, weil in Stuttgart ein Hoeneß auf der Bank sitzt, Neffe des großen Uli, Sohn des nicht ganz so großen Dieter, jemand aus der Bayern-Dynastie also, ein deutscher Xabi Alonso, der zwar nicht das Flair der weiten Welt ins Schwabenland brachte, aber immerhin ein Basecap.
Sorry für diesen Absatz. Vermutlich war das nur für Junkies wie mich zu entschlüsseln. Die deutsche Fußballmeisterschaft in Rätseln, die so auch nicht mehr ganz stimmen. Die WM 2022 in Katar war ein Geschichtenfestival, das schon. Darüber habe ich auf diesem Portal berichtet.
Die Deutschen haben gewonnen, obwohl sie nach der Vorrunde nach Hause gefahren sind. Die Deutschen hatten die Moral auf ihrer Seite und fast sogar die Graugänse.
Wenn auch das ein Rätsel sein sollte oder schon vergessen ist: eine Regenbogenbinde, die am Ende nur am Arm einer Frau zu sehen war, die in meinem Lieblingspodcast Fancy Naeser heißt, dazu ein Flugzeug mit dem Slogan „Diversity wins“ und den entsprechenden Bildern am Rumpf sowie ein Mannschaftsfoto, das um die Welt ging.
In einer Amazon-Doku kann man sehen, wie all das die Truppe lähmte und was Hansi Flick, der Trainer, dagegensetzte. Dass er die Spieler dabei mit einem Schwarm aus dem Tierreich verglich, hat seine Karriere fast zum Absturz gebracht. Jenseits solcher Stammtischdebatten: Nachdem das Fernsehen den Fußball gekapert hatte und aus ihm ein Hochglanzprodukt werden ließ, hat er sich jetzt der Politik unterworfen und Narrativen, die die Logik der Digitalplattformen bedienen. Eins und null. Dafür oder dagegen und nichts dazwischen. Manuel Neuer in den Farben unserer Wahl oder gar nicht. Diversity wins. Wenn wir das nicht sagen dürfen, halten wir uns einfach den Mund zu, verlieren gegen Japan und spielen nicht mehr mit. Ätsch. Auf dem Feld der Haltungsnoten kann uns sowieso niemand schlagen.
Damit das nachvollziehbar wird, wiederhole ich, was ich hier vor anderthalb Jahren über meine Medialisierungstheorie geschrieben habe. Diese Theorie sagt: Medien wirken über einen Umweg (3). Schritt eins: Menschen gehen davon aus, dass Surfen, Fernsehen, Zeitunglesen, Radiohören etwas mit den anderen machen — mit ihrem Wissen, ihren Einstellungen, ihren Gefühlen, ihrem Verhalten. In Kurzform: Wir glauben, dass Medienangebote wirken. Daraus folgt Schritt zwei: Wir tun alles, damit wir dort gut wegkommen — wir selbst oder die Organisation, die uns bezahlt, die Idee, an die wir glauben, der Sport, den wir lieben. Als der Fußball in die Primetime wollte und damit auch in die Köpfe seiner Gegner, hat er sich Regeln gegeben, die Boxkämpfe auf dem Rasen ausschließen und stattdessen lange Ballstafetten garantieren. Blutende Köpfe machen sich in UHD schlechter als das, was Toni Kroos, ein Fußballgott, zu bieten hat.
Fernsehen war gestern. Das heißt: Der Fußball läuft natürlich immer noch im Fernsehen und kassiert dafür einen Haufen Geld, der viel größer ist als alles, was Tickets, Sponsoren oder Bandenwerbung je einbringen könnten. Der Fußball muss heute aber auch auf den Plattformen funktionieren. Eins und null. Dafür oder dagegen und nichts dazwischen. Und er muss mit der Politik heulen. Das hat er spätestens im Frühjahr 2020 gelernt, als das Volk Spiele brauchte und die Stadien wenigstens für Profis und Kamerateams geöffnet wurden, auf Order von ganz oben und mit dem Segen der Bild-Zeitung. Auch dazu gibt es eine Doku. Da die Gehälter nur im Ausnahmefall gekürzt wurden und die Ablösesummen eher weiter stiegen, darf man vermuten, dass auch Steuergelder geflossen sind. Anders ist kaum zu erklären, dass der Betrieb fortgeführt werden konnte, obwohl die Kunden zu Hause bleiben mussten und auch da viel weniger Lust auf das Kunstprodukt hatten, das ihnen da verkauft werden sollte. Geister nimmt der wahre Fan lieber aus der Flasche.
Mit Sky habe ich spät angefangen. 2013, vielleicht auch erst 2014. Die Kinder waren aus dem Haus, und ich brauchte etwas, was mich beim Arbeiten bremste. Ein paar Stunden, in denen ich ganz sicher nicht schreiben, lesen oder über einen Text nachdenken würde. Fußball, wie früher. Sky war damals Fußball pur. Die Kameras entweder am Ball oder bei Experten, die etwas beizutragen hatten, weil sie sich auskannten und nicht einfach das nachplapperten, was die PR-Maschinen der Vereine liefern. Thomas Berthold zum Beispiel, schon damals ein unabhängiger Geist.
Der Wandel kam wie so oft schleichend. Wer jede Übertragung sieht, merkt nicht, wie sich die Dinge verschieben. In meiner Erinnerung fing es mit Fangesichtern an, die ich nicht brauche, mit Plakaten, die eher auf Demos gehören, mit Aktionen, die nichts mit dem Spiel zu tun haben, sich aber in die Bilder mogeln. Der Endpunkt ist vermutlich noch lange nicht erreicht. Klima, Ernährung, Inklusion.
Manchmal sogar schon ein Stolperstern. Fast schon normal sind Trainer, die auf Pressekonferenzen vor der AfD warnen, und ein Ehrenpräsident, der das sogar bei einer großen Trauerfeier tut, nachdem er vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Fernsehfußball ist heute nicht viel anders als die Tagesschau. Da schreibe ich dann doch lieber ein Buch.
Bei der letzten EM vor drei Jahren hat Deutschland über Engländer mit freiem Oberkörper diskutiert, über den Freedom Day, der dort plötzlich ausgerufen wurde, obwohl sich hierzulande manche noch nicht einmal mit FFP2 ins Stadion trauten, und über die Frage, ob die Allianz-Arena in München in Regenbogenfarben leuchten darf, wenn wir dort gegen Viktor Orbáns Kicker spielen. Es gab eine Bekenntnisorgie, ein Unentschieden — gegen Ungarn wohlgemerkt, einen Fußballzwerg — und dann ein frühes Aus. Und diesmal? Schwer zu sagen. Ich schreibe diesen Text zwei Wochen vor dem ersten Pfiff. Es kann also sein, dass ich falsch liege.
Trotzdem: Ich glaube, dass die Moral diesmal Pause hat, und zwar nicht nur, weil Lothar Matthäus das fordert. Der Verband hat Rudi Völler zurückgeholt, einen Kämpen aus der Weißbier- und Kumpel-Ära, der gleich zum Amtsantritt ungefragt die rote Karte rausholte — für Gender- und Klimakämpfer. Ich komme aus Hanau, sagte dieser Rudi, den es nur einmal gibt, der Stadt der Gebrüder Grimm. Da mache man nicht jeden Trend mit. Außerdem sei er ein „halber Römer“ und könne sich ungefähr ausmalen, was den Klebern im Süden von Europa blühen würde.
Völler-Adlatus Nagelsmann, der Trainer mit der Bild-Schönheit an seiner Seite, hat außerdem nicht nur den Influencer Mats Hummels zu Hause gelassen, sondern auch Leon Goretzka, in Katar einer der Mund-zu-Aktivisten und wie Hummels sportlich für jedes Team eine Verstärkung. Die Ampel braucht Euphorie und am besten den Pokal. Dafür dürfen die Kämpfe gegen rechts, gegen Hitzetod und Putintrolle, gegen all die Verschwörungstheoretiker, die auch Manova nutzen, ruhig für ein paar Wochen ruhen. Schaun mer mal, pflegte Kaiser Franz zu sagen. So oder so: Das Spiel neben dem Platz ist mindestens so interessant wie das, was auf dem Rasen passiert. Wenn Rudis Jungs dort ganz ohne Bekenntnisse den Titel holen, dann könnte das wie schon oft in der deutschen Geschichte für eine Zeitenwende stehen.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Vgl. Ronald Reng: Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga, Piper, München 2013
(2) Vgl. mit vielen Details Michael Meyen: Medialisierung des deutschen Spitzenfußballs. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 62. Jg. (2014), S. 377-394
(3) Vergleiche Michael Meyen: Theorie der Medialisierung. Ebenda, S. 645-655