Man kann ein Problem als einen negativen Gleichgewichtszustand betrachten, in dem der Mensch zwischen zwei unerwünschten Fortsetzungen der Gegenwart hin- und herpendelt. Er will weder das Eine, noch das Andere. Oder er will beides. Und, was wichtig ist: Er will beides gleich stark oder lehnt beides im selben Ausmaß ab. Er ist gefangen zwischen zwei Kräften und unbewusst darauf bedacht, beide Kräfte gleich stark zu halten. Der Clown hält uns dazu einen deutlichen Spiegel vor Augen: Er scheint immer gleich viel Angst wie Mut zu haben. Und wir schmunzeln über den tollpatschigen Widerstreit zwischen seinen beiden Ichs, damit wir nicht über uns selber lachen müssen.
Warum wir diese Kräfte im Gleichgewicht halten, ist ein Rätsel. Es gibt keine Forschung dazu. Man weiß auf zwei Stellen hinter dem Komma, welche Probleme die Einen mehr und die Andern weniger beschäftigen, wie sie im Leben wirken, wie viele Minuten Schlaf sie uns rauben, wie wir sie besser oder schlechter überwinden. Aber wir wissen nicht, warum wir sie offenbar so gerne behalten, dass wir in einem chronischen Gleichgewichtsakt durchs Leben balancieren. Für alle diese Probleme sind „lass los“ und „bleib dran“ die beiden universellen Lösungen.
Damit, was so einfach klingt, auch einfach umzusetzen ist, hier die ultimative Simplifizierung: Finde heraus, welche Kräfte im Spiel sind, und entscheide, welche die stärkere Kraft ist. Die Antwort wird mit loslassen und dranbleiben zu tun haben.
Tiefer liegende Probleme lassen sich mit dieser Straßenweisheit allerdings kaum lösen. Das liegt nicht daran, dass bei grundlegenden Konflikten nicht ebenfalls entgegensetzte Kräfte im Spiel wären, sondern dass der Mensch diese Kräfte nicht erkennt, vermutlich weniger aus Blindheit, als vielmehr aus Angst. Nicht weil sie unsichtbar wären, sehen wir die Dinge nicht, sondern weil wir nicht hinzuschauen wagen.
Nehmen wir als Beispiel ein verbreitetes chronisches Problem: die grassierende Unzufriedenheit am Arbeitsplatz. Natürlich drücken mangelnde Anerkennung, zu niedrige Löhne, große Belastung oder ein konfliktreiches Arbeitsklima auf die Motivation, die nach einer aktuellen Umfrage des Gallup-Instituts 67 Prozent der Deutschen fehlt. Aber das ist nur die Oberfläche. Darunter lauert die Sinnfrage. Warum soll ich die Arbeit überhaupt tun? Wegen des Geldes? Für den Status? Oder weil sie mich begeistert, weil ich einen Beitrag zu etwas Größerem leisten kann?
Der Wiener Psychiater Viktor Frankl (1905 bis 1997), der große Brückenbauer zwischen der Philosophie und der Psychologie, hat die überragende Bedeutung des Sinns für unser Leben erkannt und daraus die Logotherapie entwickelt (von griech. lógos „Sinn, Gehalt“ und therapeúein „pflegen, sorgen“).
Wenn wir einen Sinn im Leben erkennen, sind wir wesentlich leistungs- und auch leidensfähiger. Wir erfahren Freude und Befriedigung in der Arbeit, selbst wenn die Umstände schwierig sind — und widriger als in Auschwitz, die Frankl erlebt und überlebt hat, können sie nicht sein.
Frankl leitet die Bedeutung des Sinns aus der Tatsache ab, dass die menschliche Existenz kein faktisches, sondern ein fakultatives Sein ist. Das Leben ist nicht ein „Nun-einmal-so-und-nicht-anders-sein-Müssen“, sondern vielmehr ein „Immer-auch-anders-werden-Können“ (1).
Dass sein Leben immer auch anders sein könnte, verpflichtet den Menschen gewissermaßen dazu, ihm einen Sinn zu geben. Freiheit bedingt Verantwortung.
Was sinnvoll leben heißt, fassen die Frankl-Schüler G. Khienast und M. Fischer in „Existenzanalyse und Logotherapie“ (2) zusammen:
„die Aufgabe, die gerade ansteht, für die ich gerade not-wendig bin, zu erfüllen, den bestmöglichen Wert einer Situation zu verwirklichen; das zu tun, was ich eigentlich tun sollte. Sinn ist Tun des Gemeinten, des Bestmöglichen, des Gesollten, des Gottgewollten, des einen, das ‚nottut‘.“
Sinn könne allerdings „nicht gegeben, nicht verordnet, nicht gemacht und nicht erfunden werden; Sinn liegt vor, er muss wahrgenommen und gefunden werden“.
Die Arbeitswelt
Mit der Erkenntnis der Pflicht zur Wahrnehmung eines Sinns kehren wir nun in die Arbeitswelt und zu ihrem eklatanten Mangel an Sinnhaftigkeit zurück. Wenn wir die verbreitete Unlust, den Stress und den Mangel an Menschlichkeit im Job überwinden wollen, kommen wir nicht umhin, Sinn in der Arbeit zu finden. Und das macht so viel Angst, dass wir lieber gar nicht hinschauen — aus verständlichen Gründen.
Die Arbeit ist uns nicht nur weitgehend entfremdet, weil wir keine Teilhabe an den Produktionsmitteln haben, sondern auch, weil die Wirtschaft als Ganzes nicht nach menschlichen Bedürfnissen produziert, sondern nach den Gesetzen einer zu ewigem Wachstum verdammten Kapitalwirtschaft. Dazu kommt: Geld, für viele die Hauptmotivation zu arbeiten, ist im Wesentlichen ein illusionärer, wenn auch von allen anerkannter Wert. Und schließlich produzieren und arbeiten wir ungefähr dreimal mehr, als in einem nachhaltigen, fairen Geld- und Wirtschaftssystem für den gegenwärtigen Lebensstandard nötig wäre. Es ist, das Wort ist angebracht, eine Art Wahn-Sinn.
Wer unter diesen Verhältnissen Sinn finden will, muss zuerst eine Menge kollektiver und individueller Irrtümer und Illusionen loslassen. Da gibt es flächendeckende Fremdbestimmung durch gesellschaftliche Normen und zahllose fragwürdige Selbstbilder, die wir aus schwierigen Kindheiten ins Erwachsenenleben mitgenommen haben. Wenn wir die loswerden, stehen wir ziemlich nackt und allein da. Das kann niemand ernsthaft wollen, da muss man schon durch eine Krise dazu gezwungen werden. Lieber hofft man darauf, solange es geht, dass der Kapitalismus sein Versprechen — jeder kann es schaffen — doch noch hält. Das ist allerdings das leere Versprechen jeder Lotterie: Zwar kann jeder gewinnen, aber nicht alle. Der Unterschied ist fundamental.
Der Sinn ist also das kardinale Kriterium der großen Frage, wovon wir lassen und woran wir festhalten sollten. Alles Sinnlose sollten wir loslassen — oder ändern! —, was uns mit Sinn erfüllt, mit Kraft verfolgen.
Wie aber kann der Mensch in einer Welt, die er als weitgehend konstruiert, naturfremd und sinnlos empfindet, Sinn finden? Sind es Ziele? Obwohl wir immer wieder erfahren, dass Ziele viele Kräfte mobilisieren können, ist Skepsis angebracht. Ein größeres Auto, ein Haus, eine höhere Position in der Firma?
„Gründe allein sind zu wenig, um uns zu motivieren“, schreibt Gerhard J. Vater, Trainer und Berater in Wien und Autor des Buches „Wie aus Arbeit Freude wird“ (3). „Denken Sie besser über Zwecke nach, indem Sie ‚wozu‘ fragen. Gründe machen leidensfähig, Zwecke begeistern.“ Ähnlich sieht es der deutsche Journalist Ulrich Schnabel (4). In der Wochenzeitung „Zeit“ schreibt er:
„Nicht auf die Ziel-Erreichung kommt es an, sondern eher auf das Darauf-zu-Streben. Der Begriff Sinn (von althochdeutsch sinnan: reisen, streben, trachten) hat vor allem mit einer Bewegungsrichtung zu tun, nicht mit dem Ankommen. Paradoxerweise kann das Ankommen einen vorher erfahrenen Sinn sogar geradezu zerstören — weshalb sehr Reiche, die nur materiellen Wohlstand erstreben, am Ende als rundum Gesättigte ihren Reichtum oft als sinnentleert empfinden.“
Es ist der „große Zusammenhang“, der uns Sinn gibt, sagt Tatjana Schnell, Sinnforscherin und Professorin für Psychologie an der Universität Innsbruck. Nach ihren Erkenntnissen ist ein gutes Drittel der Menschen „existenziell indifferent“, sieht keinen Sinn im Leben und vermisst ihn auch nicht. Ein Drittel — bei Jüngeren deutlich mehr — taumelt mehr oder weniger richtungslos durchs Leben, von einem Job zum andern, von einer Beziehung zur nächsten. Ein bisschen Dranbleiben hier, halbwegs loslassen dort — das hat auch eine politische Dimension.
„Existenziell entwurzelte und verunsicherte Menschen sind politisch verführbarer“, meint Alexander Batthyány, Leiter des Wiener Viktor-Frankl-Instituts. Sein Lehrer Viktor Frankl formulierte noch deutlicher: Im existenziellen Vakuum tut man entweder, was die anderen tun — Konformismus — oder man tut, was die anderen von einem wollen — Totalitarismus.
Sinnstiftung ist nach dem fast vollständigen Niedergang der Kirchen also auch eine Aufgabe für die Politik oder zumindest für die Bildung. Dies hat unter anderem auch der ehemalige Heidelberger Schulleiter Ernst Fritz-Schubert erkannt, der sich ausdrücklich auf Frankl bezieht und 2007 das Schulfach „Glück“ erfunden und dazu 2009 ein Institut gegründet hat (5). Dutzende von Schulen lehren mittlerweile, wie und wo Menschen Sinn finden können.
Wirkung der Gemeinschaft
Was Umfragen, Studien und historische Erfahrungen einhellig bestätigen, ist die sinnstiftende Wirkung der Gemeinschaft. Kinder, Familie, Freundschaften und das Gefühl, in einem größeren Ganzen nützlich zu sein, geben dem Leben Sinn. Schon 1782 stellte der französische Amerika-Siedler Hector de Crèvecoeur fest, dass tausende Europäer mit den Indianern lebten, wogegen es kein einziges Beispiel gebe, dass ein Ureinwohner freiwillig Europäer geworden sei.
Und Sebastian Junger, der als Journalist monatelang mit US-Soldaten unter schwersten Bedingungen in Afghanistan lebte, schreibt in seinem Buch „Tribe“, dass 50 Prozent der Heimkehrer einen Antrag auf permanente Arbeitsunfähigkeit stellten, obwohl nur 10 Prozent an den Kämpfen teilgenommen hätten. Ohne Gemeinschaft konnten sie sich in der individualisierten Wettbewerbsgesellschaft nicht mehr orientieren. Diese habe, schreibt Junger, „die Kunst perfektioniert, den Menschen das Gefühl der Nutzlosigkeit zu geben“.
Sinn hat also, bei aller Bedeutung der Selbstverwirklichung, mehr mit den Anderen und der Welt als Ganzes zu tun. Oder, wie Notker Wolf, Rockmusikfan und als Abtprimas 2000 bis 2016 Chef von 800 Benediktinerklöstern, sich ausdrückt:
„Sinnsuchenden rate ich, sich nicht zu ernst zu nehmen. Sonst verstellen sie sich den Blick auf die Menschen und auf Gott.“
Haben wir die Spreu vom Weizen getrennt und Sinn gefunden, kommt schon die nächste Hürde: das Dranbleiben. Zwar gibt uns die Begeisterung Kräfte, über die wir sonst nicht verfügen, aber ein Spaziergang dürfte der Weg durchs Leben für die meisten trotzdem nicht werden.
Der amerikanische Aikido-Meister, Philosoph und Autor George Leonard (1923 bis 2010) machte dazu eine höchst interessante Beobachtung. In seinem Buch „Der längere Atem — die Meisterung des Alltäglichen“ (6) beschreibt er die „Kurve der Meisterschaft“ als „relativ kurze Phasen des Fortschritts, die jeweils von einem leichten Abfallen auf ein Plateau gefolgt werden, das etwas höher ist, als das vorherige“.
Was den Meister vom Dilettanten, Fanatiker oder Phlegmatiker unterscheidet, ist der Umgang mit diesen unvermeidlichen Phasen des stockenden Fortschritts. Während der Mensch auf dem Weg zur Meisterschaft das Plateau liebt und mit Disziplin dranbleibt, wirft sich der Dilettant mit Begeisterung ins Zeug, gibt aber nach dem ersten kleinen Rückschlag bereits wieder auf.
Fanatiker machen anfangs große Fortschritte. «Doch wenn sie zurückfallen — was unvermeidlich ist — und sich auf einem Plateau wiederfinden, weigern sie sich, das zu akzeptieren. Sie verdoppeln ihre Anstrengungen und treiben sich unbarmherzig an» — bis zum endgültigen Absturz.
Die Phlegmatiker schließlich geben sich mit ein bisschen Fortschritt zufrieden und richten sich dann gemütlich auf einem Plateau ein.
Wer also dranbleiben (und nicht einfach verharren) will, muss lernen, das Plateau zu lieben. Dann kann etwas beginnen, das kein Ende hat.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie, 1959
(2) Existenzanalyse und Logotherapie, Linz 1999. S. 88f.
(3) sinnvollesbewirken.at
(4) unter anderem Autor von „Zuversicht — die Kraft der inneren Freiheit und warum sie heute wichtiger denn je ist“ und „Was kostet ein Lächeln?“
(5) in der Schweiz: www.remaking.ch
(6) „Der längere Atem — die Meisterung des Alltäglichen“, Integral-Verlag, 1994
Mehr zum Thema in der Schwerpunktausgabe des Zeitpunkt „loslassen | dranbleiben“
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