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Salzstangen und Cola

Salzstangen und Cola

In seinem Buch „Abschied von den Boomern“ rechnet der regierungsnahe Autor Heinz Bude mit der vermeintlich wehleidigen Jugend ab und enthüllt die blinden Flecken seiner eigenen Generation.

Thalia ist einer der größten Medientresen im Land. Die Kette prägt seit Jahren die deutschen Innenstädte und verdrängt kleine Buchläden. Empfangen wird man dort mit einem Regenbogen-Fahnenmeer, und aus den Schaufenstern starrt die immer gleiche Regierungsliteratur: Klima- und Identitätspolitik. Inklusiver Totalitarismus, der so bunt ist, dass man zwischen Alice Hasters, Luisa Neubauer und Sophie Passmann die Qual der Wahl hat.

Warum man Bude nicht lesen sollte

Eine Neuerscheinung hat dennoch meine Aufmerksamkeit erregt: „Abschied von den Boomern“ von Heinz Bude, Soziologe und Berater des Innenministeriums während der Schreckensherrschaft der Coronajahre. Bude ist eine der Personen, die man canceln sollte. Obwohl die Cancel Culture von oppositionsmedialer Seite zurecht als Denk- und Sprechverbot im woken Gewand angeprangert wird, lassen sich bei Bude Argumente dafür finden, warum er als öffentliche Person nie wieder etwas zu sagen haben dürfte. Am 7. Dezember 2021 sagte er im Podcast von The Pioneer:

„Impfgegner müssen fühlbar Nachteile haben. (...) Die kann man nicht nach Madagaskar verfrachten, was soll man machen?!“

Der Madagaskarplan war eine von den Nazis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges kurzzeitig verfolgte Erwägung, vier Millionen europäische Juden auf die vor der Ostküste Afrikas gelegene Insel zu deportieren.

Heinz Bude hat bei der Frage nach dem Umgang mit Bürgern, die vor gerade einmal drei Jahren mutig ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit einforderten, also assoziativ die „Endlösung der Ungeimpftenfrage“ in den Raum gestellt.

Ich ging davon aus, dass „Abschied von den Boomern“ sich einwandfrei in die zeitgenössische Literatur der Regierungsagenda einreihen wird. Ich erwartete eine moralische Verurteilung der 55- bis 70-Jährigen mit den üblichen Anklagepunkten: Fleisch, Diesel, Kreuzfahrtschiffe. Gähn. Doch das Buch ist interessant, weil es das Denken der Boomer offenbart.

Die Babyboomer

Bude stellt sich der Frage nach den Widersprüchen seiner Generation, den zwischen 1955 und 1970 Geborenen. Charmant, präzise und anekdotenreich beschreibt er ihre Lebenswirklichkeit. Eine Generation ist „die Gleichartigkeit von sozialen, politischen und kulturellen Erfahrungen in Jahren starker Aufnahmebereitschaft bei Menschen gleichen Alters“, lerne ich. Die Boomer, zu denen auch Bude zählt, sind geprägt von der Erfahrung, dass es „zu viele“ von ihnen gab: „Leider reicht es nicht für alle.“ 1964 wurden in Deutschland über 1,3 Millionen Kinder geboren, 2023 nur noch 693.000. Die Boomer machen heute 30 Prozent der Bevölkerung aus.

Interessant ist Budes Beobachtung, das Boomer-Weltbild sei stark von medialen Einflüssen in Form gebracht worden. In Zeiten, wo der Fernseher noch das nationale Lagerfeuer war, hatten Filme und Serien erheblichen Einfluss auf die Bildung von kollektiven Werten und Normen. In den späten 1970ern und den frühen 1980ern kam es zu einer Reihe von Produktionen rund um das Thema Nationalsozialismus und die systematische Ermordung von Juden im Dritten Reich: Holocaust (1979), Die Blechtrommel (1979), Hitler, ein Film aus Deutschland (1977), Lili Marleen (1981), Der Nachtportier (1974), Die 120 Tage von Sodom (1975).

Diese „traumabasierte Gedankenkontrolle“ prägte die Generation, die heute an den Schalthebeln der Macht sitzt. Die Dauerbeschallung hinterließ Spuren und zeigt sich, hier beziehe ich mich auf Raymond Unger, in einer moralischen Überkompensation. Aus Vergangenheitsbewältigung wurde eine Instrumentalisierung gesellschaftspolitischer Diskurse, die oft selbst faschistoide Züge annimmt, wie Budes Madagaskar-Zitat zeigt.

Der Aufstieg

In den „Roaring 90s“ etablierten sich die Boomer familiär und beruflich, kauften die erste Wohnung und profitierten von Wohlstand und sozialem Aufstieg. Sie sind heute wahnsinnig privilegiert: Der durchschnittliche Boomer hat ein Nettovermögen von 170.000 Euro im Westen und 100.000 Euro im Osten, ist relativ gesund („Turnschuh-Rentner“) und lebt im schuldenfreien Eigentum. Zudem können sie mit satten Erbschaften rechnen. Bude verweist einmal auf das Rentensystem:

„Das heutige gesetzliche Rentenniveau von 48 Prozent bleibt bis 2025 erhalten. (...) Wie die jetzt Vierzigjährigen das dann sehen, bleibt abzuwarten …“

… und wenn du krank bist, mein Kind, dann nimm Salzstangen und Cola, denke ich mir in Anlehnung an die mitunter unsäglichen Gesundheitstipps und Kühlschrankinhalte meiner Boomer-Eltern.

In Budes „bleibt abzuwarten“ steckt so viel drin: Es steht für mich symbolisch für die absolute Ignoranz und Überheblichkeit der Boomer-Generation ihren Nachkommen gegenüber.

Die „Rente“ ist für mich und meine Altersgenossen ein Weihnachtsmann, an den die meisten mit der Einschulung schon nicht mehr geglaubt haben. Ein Schneeballsystem, das für die Boomer noch hinhaute, den nachfolgenden Generationen aber auf die Füße fallen wird. Entspannt in den Lebensabend, während für junge Menschen kein Aufstieg mehr möglich ist.

Auch in Boomer-Kreisen ist manche gesellschaftspolitische Verwerfung angekommen: Inflation, Verschuldung, die mitunter höchsten Steuern und Energiepreise der Welt, das Deutschland der Insolvenzen und des Brain-Drains. Also wünscht man sich die alte BRD oder die „Bonner Republik“ zurück, in der jedoch die Ursachen für die heutige Krise bereits angelegt und bekannt waren. Die Geldschöpfung aus dem Nichts hat auch zu Kohls und Schmidts Zeiten schon so stattgefunden.

Und die neu aufgewachten Telegram-Boomer, die seit 2020 ins Grübeln kamen über Finanzsystem, Zuwanderung oder EU, scheuen sich ebenfalls vor Tiefenanalysen. Sie haben es sich erneut auf warmen Redaktionssesseln gemütlich gemacht und tätscheln sich mit pseudokritischem Empörungs- und Weltbildbestätigungsjournalismus das Ego.

Gendern, Baerbock, Klimakleber. Und etwas weißer könnte die Nationalmannschaft schon sein, sagt man bei Kontrafunk, Tichy oder Reichelt manchmal, wenn das Mikro aus ist und manchmal auch „on air“.

Ein Finger auf andere, drei auf sich selbst

Zurück zu Bude: Rund acht Prozent aller Boomer hatten eine Zuwanderungsgeschichte, schreibt er. Da muss ich beim Lesen laut auflachen. Das sind homogen-biodeutsche Verhältnisse. Heute sind es diese offensichtlich in Käseglocken aufgewachsenen Anetta Kahanes, Grönemeyers und Campinos (Baujahre 1954, 1956, 1962), die die unter 40-Jährigen, die in der Grundschule schon mit 50 Prozent Ausländern unterrichtet wurden, über ihre internen Rassismen belehren. Das stinkt nach Projektion.

Weiter jammert Bude, viele Boomer-Biografien seien von „Umwegen, Unterbrechungen, Auszeiten, Abwegen und Sackgassen“ gekennzeichnet gewesen. Ok, Boomer! Ich habe während der Coronakrise den Sprung ins kalte Wasser gewagt und mit mehr als vorzeigbarem Masterstudium einen Job gesucht. Auf 100 Bewerbungen erhielt ich drei Einladungen zu einem Vorstellungsgespräch.

Ich kenne keinen 30-Jährigen, der nicht schon in mehreren Städten für unbezahlte Praktika gearbeitet hat und heute als Single in Vollzeitanstellung gerade so über die Runden kommt, wenn er auf ein Auto verzichtet und quasi nie auswärts isst. Millennials haben in ihren 30ern keine erste eigene Wohnung, sie planen ein Leben zur Miete und glauben nicht mehr, dass harte Arbeit belohnt wird. BRD-Märchen. Desillusionierte Generationen, die auf Bitcoin oder ein zweites Nvidia im Aktienmarkt hoffen. Das war bereits die ganze Altersvorsorge.

Ok, Boomer

„Abschied von den Boomern“ ist ein Werk über eine Generation, die nicht zur Selbstreflexion imstande ist. Insofern sind Budes Betrachtungen aus dem Elfenbeinturm unfreiwillig gelungen und vielsagend. Die Boomer haben ein System aufgebaut, das für die Nachfolger nicht mehr funktioniert. Das Gefühl der Desillusionierung zieht sich durch die jüngeren Generationen, die ein Leben in der Dauerkrise mit psychischen Störungen und Entfremdung vererbt bekommen. Da helfen auch keine Cola und keine Salzstangen.

„Wir“ sind nicht krank — wir sind hoffnungslos.

In Anlehnung an den Dramatiker Heiner Müller: Man kann hier nicht einmal mehr „Guten Tag“ sagen, ohne dass es sich wie eine Lüge anhört.


Hier können Sie das Buch bestellen: thalia.de


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst auf der Website der Freien Akademie für Medien & Journalismus.


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