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Sackgasse Klassenzimmer

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Die vormalige Bildungsnation Deutschland wird von immer mehr aufstrebenden Ländern überholt — statt das Problem im Kern zu lösen, wird nur Geld zugeschossen.

Bernhard Krötz ist Mathematikprofessor in Paderborn. In den letzten Wochen und Monaten kam er zu einer kleinen Berühmtheit, weil er die deutsche Bildungspolitik — ganz speziell sein Fach — scharf kritisiert: Studenten, die zu ihm kämen, würden den mathematischen Ansprüchen schon lange nicht mehr genügen. In Indien seien Prüfungen viel diffiziler angelegt als hierzulande: Der Bildungsstandort Deutschland verliere den Anschluss. Mathematikbücher, so behauptet er — und wird von nicht wenigen Fachkollegen unterstützt —, seien fehleranfällig. Seine Empfehlung: Die Verwendung von Mathebüchern aus der ehemaligen DDR. Sie genügten einem wissenschaftlichen Anspruch.

An den Professor musste ich neulich denken, als ich las, dass der Bundeskanzler die Schulmisere in Deutschland als alternativlos darstellte. Wir würden, so Olaf Scholz in einem Bürgergespräch in Potsdam, der Spiegel berichtete, damit noch Jahre auskommen müssen. „Überall fehlen Lehrerinnen und Lehrer“, erklärte er. Und: „… das wird uns die nächsten zehn Jahre umtreiben“. Es stimmt schon, was Professor Krötz sagt: Mit dem Rechnen tun wir uns schwer. Selbst die Richtlinienkompetenz aus dem Kanzleramt hat da ihre Problemchen.

Lehrermangel? Stimmt nicht!

Der Kanzler ist natürlich — mal wieder — schlecht informiert. Ein Blick in die Zahlen des Statistischen Bundesamtes könnte Abhilfe schaffen. Für das Schuljahr 2021/22 erfasst das Amt nämlich 799.314 Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen. 2014/15 waren es hingegen nur 752.358 Lehrerinnen und Lehrer bundesweit. Dennoch klagen auch Schulen und Lehrer untereinander über den Personal- sprich Lehrermangel. Woran liegt das?

Das Statistische Bundesamt schlüsselt in einer anderen Statistik auf, dass 2020/21 um die 279.000 Lehrkräfte in Teilzeit arbeiteten. Das seien etwa 40 Prozent des gesamten Berufsstandes. Kultusminister verschiedener Bundesländer haben sich neulich erst dieser Problematik angenommen. Ihr Lösungsvorschlag: Den Zugang zu Teilzeitarbeit erschweren. Es scheint das Problem gefunden zu sein: Der Berufsstand des Lehrers leidet an fehlendem Arbeitseifer. Man müsse dieser Bequemlichkeit jetzt nur mit Härte begegnen, dann geht es voran. Dieser „Lösungsansatz“ ist wohl die deutscheste aller Antworten.

Hinter stundenreduzierenden Lehrkräften steckt ein Krankheitsbild, wie man es beispielsweise auch in den Pflegeberufen häufig findet: Burnout.

Und auch in der Pflege fehlt es an sich nicht an Köpfen: Auch dort werden Arbeitszeiten „freiwillig“ reduziert. Das ist natürlich eine vermeintliche Freiwilligkeit: Es ist viel eher Selbstfürsorge.

19 Prozent aller Lehrer werden frühpensioniert — Hauptursache: Burnout-Erkrankungen. Eine Studie der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg erklärte vor zwei Jahren, dass etwa ein Viertel aller Junglehrer ausgebrannt aufgebe. Bevor jemand endgültig die Flinte ins Korn wirft, versucht er oder sie es mit einem reduzierten Stundenkontigent.

Im Regelfall sieht jeder nur die Schulstunden, die Lehrkräfte leisten. Die Arbeit drumherum, die Vorbereitung und die Nachbereitung geschehen ja in Abwesenheit der Öffentlichkeit. Immer wieder weisen Lehrer und Professoren darauf hin, dass das Schulstundenkontigent massiv steige — und kaum noch sorgfältig gearbeitet werden könne. 20 Schulstunden in der Woche gelten bereits als hohe Belastung — insbesondere an höheren Schulen —, weil man mindestens nochmal 20 Stunden an flankierender Zeit rechnen muss. An Grundschulen kommen sogar Stundenkontingente von 28 Stunden vor.

Mehr Geld reinpumpen alleine reicht auch nicht

Das Deutsche Schulportal der Robert Bosch Stiftung nennt als durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche: 46 Stunden und 38 Minuten. Je nach Schulart geben mindestens je die Hälfte der befragten Lehrer an, dass sie diese Durchschnittszeit sogar überschreiten. In einem Gespräch mit einer Grundschullehrerin, das ich vor einiger Zeit für das Overton Magazin führte, nannte sie noch andere Gründe, weshalb der Stressfaktor des Lehrberufes so hoch liege: Die Bürokratie raubt Zeit, die Erwartungshaltung von Eltern und Öffentlichkeit generell ist immens. Eine gewisse Klientel ist geradezu unbelehrbar — sprachliche Barrieren erschweren Zugänge. Das alles führt zum Rückzug derer, die noch im Beruf bleiben. Die Teilzeit ist also eine Fluchtstrategie, eine Maßnahme zum Erhalt der eigenen Resilienz: Und nicht etwa die Faulheit eines Berufstandes, der man öffentlich eine Absage erteile, wenn dreiste Politiker so tun, als müsse man die Teilzeitmodelle nur unzugänglicher machen.

Gemeinhin gilt unter Kultus- und Bildungspolitikern, dass man so manches mit dem Scheckbuch beheben kann. Natürlich ist die Bausubstanz vieler Schulen, gelinde gesagt, eher suboptimal. Was die Infrastruktur und Hardware betrifft, gäbe es viele Spielräume für eine finanzielle Aufrüstung. Ob mehr ins System reingepumptes Geld bei der Wissensvermittlung hilft, ist dagegen eher fragwürdig. Der oben genannte Mathematikprofessor Bernhard Krötz sieht etwaige Lösungsvorschläge, die mit einer höheren Finanzierung punkten wollen, eher kritisch.

Das sei gar nicht das wirkliche Problem. Geld könne auch nicht die Lehrpläne verbessern. Die seien aber gezielt runtergeschraubt worden, um erfolgreiche Abschlüsse zu gewährleisten — dass außerdem jeder ein Studium absolvieren sollte, einhergehend mit einer Absenkung der Bildungsansprüche, hält Krötz für ein zentrales Problem deutscher Bildungspolitik. Die Kultusministerien würden sich fortwährend in ihren Leistungsabschlüssen unterbieten – die Bertelsmann Stiftung mische zudem mit und habe die unternehmerische Ausrichtung von Hochschulen vorangetrieben.

Krötz kritisiert — wie schon angemerkt — zeitgenössische deutsche Mathematikbücher, wie sie im Schulalltag benutzt werden. Sie seien voller „gruseliger Fehler“, man finde „unsaubere Begriffsbildungen“ und sie litten zudem an „Versprachlichung mit sperrigen Textgebilden“, wiesen „kein roter Faden“ auf und glänzten schließlich durch „das Auslassen von Beweisen“. Wie man Abhilfe schaffen kann? Durch die Nutzung von Mathematikliteratur aus der DDR. Dort finde man etwas, was in heutigen Büchern gar nicht stattfinde: Einen wissenschaftlichen Ansatz! Die Hersteller zeitgenössischer Mathematikschundliteratur müssten jedoch die Auflagen der Ministerien zur Zertifizierung erfüllen. Zu viel wissenschaftlicher Anspruch könnte diese Zertifizierung gefährden.

Weniger Ausbildung, dafür mehr Bildung

Sich an dieser Stelle hinzustellen und von einer großzügigeren Finanzierung zu sprechen, führt ins Nirgendwo. Vermutlich würden nur weitere Steuermilliarden verbrannt und in ein System gesteckt, das nicht mal einfach nur fehleranfällig ist, sondern viel schlimmer: Den Fehler selbst darstellt. Wahrscheinlich würde man Zertifizierungen ausbauen, die zu schlechten Schulbüchern führen — und ob so ein beruflicher Alltag für Lehrerinnen und Lehrer entstünde, der sie wieder befähigt, auch in Vollzeit auszuhalten: Das wäre mehr als fraglich. Mehr Geld suggeriert ja, man würde damit mehr Köpfe einstellen: Aber woher nehmen in Zeiten, da überall Arbeitskräfte fehlen und es eben an diesen Köpfen fehlt?

Materielle Fragen sind das eine: Dazu gehört auch die Frage zum vermeintlich fehlenden Personal. Aber was der Bildungssektor hierzulande wirklich benötigt ist eine geistig-moralische Wende. Eine Zeitenwende, um mit dem Vokabular der Stunde zu sprechen.

Bildung ist nämlich ein Wert an sich, sie lässt Menschen umsichtiger durch die Welt gehen. Wer aber Bildung lediglich als Vorstufe des Berufslebens und damit also nur als Ausbildungsvorschule begreift, reduziert sie beträchtlich. In so einem Modus wird sie unter Aspekten von Kennziffern betrieben — und in letzter Instanz bringen Lehrer und Professoren den Kindern und Jugendlichen fokussiert nur noch das bei, was im späteren Berufsleben benötigt wird.

Selbst wenn wir die Köpfe der Lehrerschaft vermehren, ja selbst wenn man sie gar — mal hypothetisch angenommen — verdoppeln würde: Am eigentlichen Dilemma rührt man nicht. Nämlich, dass die Bildung der Nutzung der Ressource späterer Arbeitskraft untergeordnet wird. Das führt zu einem bürokratisierten Bildungsprozess, zu einem aufgeblähten Kennziffernerfassungsapparat und verlagert die Bildung junger Menschen auf die Institution der Schule alleine, obgleich dazu immer auch ein Elternhaus oder Freundeskreis gehört, der sich für die Welt interessiert.

Wir haben kein Lehrerproblem, wie der Bundeskanzler suggeriert: Wir haben ein Leere-Problem. In den Lehrplänen nämlich. Und diese Leere ist gezielt etabliert worden. Die einzigen, die wirklich ein Lehrerproblem haben, sind die Lehrer selbst, die sich einschränken müssen, um gesundheitlich über die Runden zu kommen. Sie sind Mit-Opfer einer fehlgeleiteten Bildungspolitik, die sich seit Jahren nur noch in Symbolik und Wir-schaffen-das-Attitüden übt. Olaf Scholz meinte ja, wir seien noch zehn Jahre mit dem Lehrermangel beschäftigt: Er untertreibt — wir werden aus dieser Problematik nie herausfinden, solange Politik eine solche Unbildung forciert. Die Situation wird sich verschärfen. Und am Horizont steht schon der Lehrer aus Platinen und Lötstellen parat, Studienrat ChatGPT und andere Künstliche Intelligenzbestien: Besser wird es dann ziemlich sicher nicht.


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