von Marcus Schwarzbach
Die neue Technik verändert unter den Schlagworten „Big Data“ und „Digitalisierung“ die Arbeitswelt. Die Belegschaften werden massiv unter Druck gesetzt, wie der „DGB-Index Gute Arbeit“ zeigt. Befragt wurden 6.689 zufällig ausgewählte abhängig Beschäftigte. So gaben 40 Prozent der Befragten an, dass durch die Digitalisierung ihre Arbeitsbelastung zugenommen hat. Zudem fühlen sich ArbeitnehmerInnen immer mehr der Technik ausgeliefert. 44 Prozent der Beschäftigten meinen, „gar keinen“ und 34 Prozent nur „in geringem Maß“ Einfluss darauf nehmen zu können.
Ein wichtiger Faktor, um Druck auf die Belegschaften auszuüben, ist die Arbeitssteuerung per Algorithmen. Wer hier Hoffnungen auf Gesetze und Rechtsprechung setzt, wird schnell eines Besseren belehrt, wie eine Entscheidung aus Niedersachsen zeigt: Das Verwaltungsgericht Hannover lässt die „ununterbrochene Erhebung“ von Leistungsdaten der Arbeiter zu, so das Urteil vom 9. Februar 2023 (AZ: 10 A 6199/20). Ein Auslieferlager eines amerikanischen Online-Unternehmens setzt Handscanner ein, die ununterbrochen die Wege der Beschäftigten verfolgen, und begründet dies mit der Steuerung der Logistikprozesse. Die Datenschutzbehörde hielt den Einsatz für datenschutzwidrig und untersagte die minutengenaue Überwachung. Gegen den Bescheid klagte das Unternehmen — und bekam vom Gericht Recht.
Angesichts der Datenmengen, die heute Kontrolle pur ermöglichen, ist dieses Urteil ein Skandal, der in den Medien kaum eine Rolle spielt. Die Arbeit mit mobilen Endgeräten führt zu einer enormen Verschärfung des Arbeitsdrucks. Jeder Schritt kann überwacht werden, Arbeiter sind stets lokalisierbar und beobachtbar. Dies alles erfolgt vor dem Hintergrund zunehmender Kontrolle der Beschäftigten. Wenn die Produktion der Industrie 4.0 als großes Netzwerk organisiert wird, wirkt das direkt auf die Beschäftigten. Die Vernetzung der IT-Systeme ermöglicht den Unternehmen eine dauernde Überwachung der Arbeitsleistung und des Verhaltens der Beschäftigten.
Dass diese Dauerüberwachung der Belegschaft ein Geschäftsmodell ist, zeigt sich gerade beim Internethandel, der von Amazon dominiert wird. Amazon ist klassischer Versandhandel, wie Klingel und Otto, und weigert sich, nach Versandhandelstarif zu bezahlen. Der Internetgigant ist der Lohndrücker der Branche. Trotz mehrfacher Streiks an den deutschen Standorten verweigert das Unternehmen Verhandlungen. „Wir haben nicht vor, einen Tarifvertrag abzuschließen. Er stünde nicht im Einklang mit unserem Ansatz, Mitarbeiter am Erfolg von Amazon zu beteiligen“, schrieb Armin Cossmann als Vertreter der deutschen Versandzentren. Statt verbindlicher Erhöhungen und Entgeltgruppen setzt das amerikanische Unternehmen eher auf Einmalzahlungen.
Aber nicht nur niedrige Löhne sind wesentlicher Bestandteil der Unternehmensstrategie. Die Arbeitsbedingungen des amerikanischen Handelsriesen wurden inzwischen wissenschaftlich untersucht. Oliver Nachtwey von der Goethe-Universität Frankfurt und Philipp Staab vom Hamburger Institut für Sozialforschung haben die gravierenden Auswirkungen der neuen Technik auf die Beschäftigten gerade am Beispiel Amazon analysiert.
Die Strategien des Versandhandelsriesen verdeutlichen, „dass digitale Technologien zunehmend Potenzial für die Ausübung betrieblicher Herrschaft in bisher ungeahntem Ausmaß“ habe und zu radikaleren Rationalisierungsmodellen führe (APuZ — Aus Politik und Zeitgeschichte, Ausgabe 18–19/2016, Seite 26). Dies zeige die Arbeitsorganisation im Lagerbereich: „Picker, also jene Beschäftigten, die zu Fuß in den riesigen Lagerhallen die einzelnen Produkte einsammeln und zu den Packstationen bringen“, werden mit Handscannern ausgestattet. „Smartphones nicht unähnlich, verfügen die Handscanner über Kameras und aufnahmefähige Mikrofone und liefern detaillierte Bewegungsdaten der Beschäftigten. Das Unternehmen kann durch das Nutzen dieser Daten individualisierte Leistungsprofile erstellen und die Performanz unterschiedlicher Beschäftigter im Detail vergleichen. Jede außerplanmäßige Verschnaufpause wird so für das Management offensichtlich“, verdeutlicht Oliver Nachtwey (ebenda, Seite 28).
Der Technikeinsatz bei Amazon stehe für ein „bisher kaum erreichtes Ausmaß technischer Prozesskontrolle“. Die Arbeitsgeräte „geben ihren Trägern jeden noch so kleinen Arbeitsschritt unmittelbar vor, weisen ihnen beispielsweise detailgenau den effizientesten Weg zwischen zwei anzusteuernden Stationen in den Großlagern“. Die Arbeitsweise sei „mit mobilen Fließbändern zu vergleichen“ und mache die Beschäftigten zu Maschinenanhängseln. Das Gerät sagt ihnen, wo sie hingehen müssen, welcher Handgriff als Nächstes ansteht. Oft sind die Tätigkeiten sehr monoton, Zeit für kurzes Verschnaufen oder ein Gespräch mit den Kollegen bleibt nicht. Das ist körperlich und mental anstrengend. „Die Beschäftigten werden getaktet wie eine Maschine. Abweichungen sind nicht vorgesehen.“ Und: Per Scanner kann die Unternehmensleitung jederzeit die Tätigkeit jedes einzelnen Beschäftigten überprüfen.
„Das macht etwas mit den Menschen“, betont Thomas Voß, der bei ver.di den Bereich Versand- und Online-Handel koordiniert. Viele Beschäftigte fühlen sich entwertet. Aber nicht nur psychisch ist die Arbeit bei Amazon anstrengend, auch die körperlichen Belastungen dürfen nicht unterschätzt werden. Die Beschäftigten müssen täglich bis zu 25 Kilometer auf harten Betonböden laufen und teils große Gewichte heben.
Dass Richter den „gläsernen Mitarbeitern“ und der Ausrichtung der Arbeiter als „Assistenzsystem“ neuer Technik nicht mit der Rechtsprechung gegensteuern, kann kaum überraschen, wer sich die Vordenker heutiger Gesetzesauslegung vor Augen führt. Gerade das Streikrecht wird durch Gerichtsentscheidungen radikal eingeschränkt; Streiks ohne langwierige Verhandlungen mit Unternehmen im Vorfeld werden als unrechtmäßig bemängelt.
Nach einer uralten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus den 1950er-Jahren rechtfertigt die Teilnahme an einem sogenannten wilden Streik den Ausspruch einer fristlosen Kündigung. Geprägt wurde die Rechtsprechung durch den BAG-Vorsitzenden Hans Carl Nipperdey, der im faschistischen Deutschland den auflagenstärksten Kommentar zum „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ (AOG) verfasste — dessen „Volksgemeinschafts“-Geist viele Kritiker im heutigen Streikrecht und aktueller Rechtsprechung wiedererkennen.
Marcus Schwarzbach ist Mitautor von wirtschaftsinfo 62 des ISW München; dieses umfasst Fakten und Argumente zur wirtschaftlichen Situation in der Krise.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Richter im Kapitalinteresse – Dauerüberwachung von Arbeitern erlaubt“ beim Gewerkschaftsforum.
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