Die Kriegslust wird im digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache als „rasche Bereitschaft zu einer kriegerischen Auseinandersetzung“ definiert (1). Ich halte „Kriegslust“ für ein Symptom einer psychosozialen Erkrankung, der ich für die individuelle Psychopathologie den Namen „Belliphilie“ (von lateinisch bellum — der Krieg — und griechisch philia — Liebe, Neigung) gegeben habe, um die persönliche Kriegslust eines Menschen von einer politischen Haltung, die den Einsatz militärischer Mittel zur Durchsetzung von Zielen befürwortet, zu unterscheiden. Für Letztere ist die Bezeichnung „Bellizismus“ geläufig (siehe unten das Kapitel „Bellizistische Regierungspolitik“). Die Kriegslust-Erkrankung entwickelt sich aus einer komplexen Psychodynamik:
I. Zugrunde liegen immer die psychosozialen Entfremdungen der Frühtraumatisierung durch die beschriebenen mütterlichen und väterlichen Beziehungsstörungen. Der damit verbundene Gefühlsstau, wenn Zorn, Wut und Hass durch die erlittene Bedrohung, Ablehnung, Abwertung, Kränkung in der traumatisierenden oder defizitären Frühbetreuung nicht zum Ausdruck gebracht werden können oder dürfen, bedeutet ein permanentes energetisches Stress- und Druckpotenzial, das entladen werden möchte und soziale Wege der Entladung sucht. Ich erinnere daran: Gefühlsstau macht krank oder/und böse!
II. Im sozialen Bereich befördert ein Gefühlsstau Interesse an beruflicher Tätigkeit, die in sublimierter Form eine aggressive Abfuhr gestattet oder sogar verlangt: Die Optionen reichen hier vom Boxer bis zum Zahnarzt. Allerdings muss es keineswegs stets eine körperliche Abfuhr sein. Man kann fast in jedem Beruf Möglichkeiten aggressiver Entladung finden: der Kritiker, der jemandes Werk schlechtmacht, der Journalist, der Personen herabwürdigt, der Politiker, der den politischen Gegner bekämpft, der Handwerker, der betrügt, die Erzieherin, die ein Kind schlecht behandelt, der Psychotherapeut, der Verhaltensweisen des Patienten bewertet, und andere mehr.
Ganze Partnerschaften, Freundschaften, Arbeitsbeziehungen leben vom Gefühlsstau: Man kann am anderen permanent leiden, sich über ihn ärgern, aufregen und Streit inszenieren. Das soziale Ausagieren eines Gefühlsstaus funktioniert so lange gut, solange die frühe Aggressivität sublimiert abreagiert werden kann und dies erfolgreich durch Geld, Anerkennung, Karriere bestätigt wird.
So können verbissene Leistung, harter Konkurrenzkampf, ideologisch gefeierte Kritik, politisch gewollte Diffamierung, die Siege im sportlichen Wettkampf, die gefährlichsten operativen Eingriffe, politische Macht gegen die Interessen der Mehrheit einer Bevölkerung und anderes mehr von den Energien eines Gefühlsstaus getragen und von normopathischen Werten der Gesellschaft bestätigt werden.
Diese kultivierte Verschleierung einer Gefühlsstörung droht ihr Ende zu finden, wenn der bisherige Erfolg der Anpassungsbemühungen durch Krankheit, Berentung, Arbeitslosigkeit, politische Veränderungen, moralische Umwertungen verloren geht. Dann fällt der Schleier, dann ist „Not am Mann“, natürlich auch „an der Frau“, und um nicht zu erkranken — was aber mit vielen in einer solchen veränderten Situation doch geschieht —, muss eine neue Möglichkeit gefunden werden, um sich wieder irgendwie aggressiv abreagieren zu können. So wächst das Interesse, um nicht zu sagen die Notwendigkeit, ein Feindbild zu finden. Das kann dann vom Partner bis zu Wladimir Putin reichen, am besten, wenn man Angriffsflächen findet — real, aufgebauscht oder auch nur behauptet. Der Gefühlsstau macht auch jede Irrationalität möglich.
III. Die politische Struktur einer Gesellschaft — Demokratie oder Diktatur —, die soziale Situation der Bevölkerung, zum Beispiel Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, Inflation, Armut, und der Gruppendruck des sozialen Umfeldes — Mitläufer, Anpassungsdruck, Denunzierung, Verfolgung von Abweichung — nehmen entscheidenden Einfluss, ob Entfremdung mit Gefühlsstau in eine kollektive Anstrengung zur konstruktiven Gesellschaftsentwicklung geführt wird oder in den Bellizismus, also in eine Einstellung, mit militärischer Gewalt die Gesellschaftspathologie retten zu wollen. Bellizismus ist in einer schweren Gesellschaftskrise die Regel, da zur konstruktiven Gesellschaftsveränderung zu wenig Menschen mit Friedens- beziehungsweise Liebesfähigkeit zur Verfügung stehen.
Und Menschen an der Macht sind in aller Regel mit narzisstischer Störung belastet, deren Gefühlsstau fast zwangsläufig die Gewalt bevorzugt, um die eigene Entfremdung und Fehlentwicklung nicht schmerzlich-bitter erkennen zu müssen.
Solange Narzissten mit Finanzmacht Einfluss haben oder Menschen gewählt werden, die ihr Größenselbst ausagieren, wird es immer Krieg geben. Mit Geld kann aus fast jedem Menschen ein „Söldner“ gemacht werden, und ein Gesellschaftssystem mit Wachstumszwang und Konkurrenzdruck wird immer narzisstisch gestörte Menschen an die Macht bringen, die am Ende ihres Erfolges den Krieg brauchen — auch in einer Demokratie. Das Demokratiespiel einer nur äußerlichen Demokratie verschleiert geschickter die Persönlichkeitsstörungen der Machteliten als eine Diktatur.
Der psychodynamische Komplex einer kollektiven Kriegslust besteht aus: massenhafter Frühtraumatisierung — Kompensation in einer Normopathie-Krise der Gesellschaft — aktiviertem Gefühlsstau — Krieg.
Normopathische Gesellschaften wie eben auch unsere gegenwärtige narzisstische, finanzkapitalistische Gesellschaft müssen früher oder später in eine bedrohliche Krise kommen, weil sie „falsches Leben“ sind — hier im Besonderen durch Wachstumswahn, Konsumsucht und Zerstörung menschlicher Beziehungen im Konkurrenzkampf, wie es zum Größenwahn und zu Empathielosigkeit narzisstischer Störungen gehört.
Ich habe mich immer gefragt, wie es sein kann, dass eine große Zahl, vielleicht sogar die Mehrheit einer Bevölkerung ohne größere Probleme, in voreiligem Fatalismus — „es muss sein“ — oder sogar freiwillig und gern bereit ist, in den Krieg zu ziehen. Natürlich haben auch häufig eine reale Not und Bedrohung, leider sehr oft auch erfundene oder propagandistisch aufgeblähte Bedrohungsszenarien eine auslösende Funktion, die aber ohne ein tiefes seelisches Gefühlsstau-Potenzial mit Abreaktionsdruck in den einzelnen Menschen allein keine Kriegslust bewirken könnte.
Es gibt für einen gesunden, liebes- und lustfähigen Menschen keinen Grund, sich an einem Krieg freiwillig zu beteiligen.
Menschen müssen Opfer einer sehr schweren psychosozialen Fehlentwicklung sein, dass sie bereit sind, zu töten und zu zerstören und sich selbst töten oder an Körper und Seele schweren Schaden zufügen zu lassen.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text ist ein Auszug aus: Hans-Joachim Maaz: Friedensfähigkeit und Kriegslust. Berlin. Frank und Timme 2023, Seiten 144 bis 144.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Eintrag „Kriegslust“, in: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, online: https://dwds.de/wb/kriegslust