Spricht man über den Kaiserschnitt, so basieren die Eindrücke auf unterschiedlichen Erfahrungen und Quellen. Oft ist ein positiver Eindruck eher dann vorhanden, wenn man selbst keine Berührungspunkte damit hat oder hatte. Wurden bereits Erfahrungen gesammelt, so wandelt sich die Haltung oft zu einem eher kritischen Bild.
Ein Kaiserschnitt hat seine Berechtigung, die Kritik an ihm ebenfalls.
Die rationale Sicht auf den Kaiserschnitt
Um ein allgemeines Bild wiederzugeben und einen gemeinsamen Ausgangspunkt zu schaffen, möchte ich vorab die wichtigsten Fakten zum Kaiserschnitt aufzeigen.
Der Kaiserschnitt kann in drei Kategorien aufgeteilt werden:
- Der Wunschkaiserschnitt
- Primärer/geplanter Kaiserschnitt
- Sekundärer Kaiserschnitt/Notkaiserschnitt
Bei einem Wunschkaiserschnitt entscheidet sich die Frau ohne körperliche Indikationen gegen die natürliche Geburt. Häufig vorliegende Gründe, sich für einen Wunschkaiserschnitt zu entscheiden, sind: Sorgen vor möglichen Komplikationen, die sich bis zur Todesangst steigern können, Angst vor Schmerzen, schlechte Beratung, fehlende Eigenrecherche und Druck von außen.
Bei der primären und sekundären Sectio spricht man von absoluten und relativen Indikationen.
Absolute Indikationen sind:
- Das Baby ist zu groß beziehungsweise das Becken zu klein
- (drohender) Riss der Gebärmutter
- Querlage des Kindes (1)
- Vorzeitige Ablösung der Plazenta
- Placenta praevia — eine Plazenta, die vor dem Muttermund liegt
- Eklampsie — Krampfanfälle resultierend aus einer „Schwangerschaftsvergiftung“
- HELLP-Syndrom — eine weitere Form der Schwangerschaftsvergiftung
- Fetale Azidose — übersäuerte Stoffwechsellage des Kindes
- Bakterielle Infektion der Fruchtblase
- Drehung des Kindes in eine ungünstige Lage im Verlauf der Geburt
- Nabelschnurvorfall
- Mangelnde Sauerstoffversorgung des Babys
- Verlangsamung der Herztöne des Kindes unter der Geburt
Relative Indikationen:
- Von der Norm abweichendes Gewicht des Kindes
- Verdacht auf ein Missverhältnis von Becken und Kindsgröße
- Vorangegangener Kaiserschnitt
- Mehrlingsschwangerschaft
- Verzögerte Geburt und Geburtsstillstand
- Auffällige Kindsherztöne
- Das Kind wird „übertragen“ — 7 bis maximal 14 Tage nach errechnetem Termin (ET)
- Beckenendlage (BEL) (2)
- Risikoschwangerschaft, darunter zählt unter anderem jede Frau ab 35 Jahren
Der Ablauf
Nun, wie läuft ein Kaiserschnitt ab? Zu Beginn wird unterschieden zwischen einem primären Wunsch- beziehungsweise geplanten Kaiserschnitt und einem sekundären beziehungsweise Notkaiserschnitt. Der Verlauf ist, abgesehen von der Anästhesie, nahezu derselbe. Er ist mittlerweile standardisiert und wird flächendeckend identisch durchgeführt. Es gibt nur wenige Abweichungen, auf die ich hier nicht näher eingehen werde, um den Rahmen nicht zu sprengen.
Zunächst bedarf es immer einer Aufklärung und einer schriftlichen Einwilligung der Patientin. Diese fällt im Falle einer Notsectio nachvollziehbarerweise recht kurz aus.
Die Patientin wird entkleidet und nackt auf den Rücken mit leicht gespreizten Beinen gelegt und mit sterilen Tüchern abgedeckt. Der Operationsbereich bleibt frei und wird rasiert.
Danach wird ein Blasenkatheter gelegt, da nach dem Kaiserschnitt häufig Probleme beim Wasserlassen auftreten.
Die Frau kann die Operation nicht sehen, da ein Tuch dazwischen gespannt wird. Die Begründung lautet hier, dass es aus hygienischen Gründen gemacht wird. Denkbar ist zudem, dass die Frau die Operation psychisch weniger gut verkraften könnte.
Bei meiner Ausbildung zur Doula, einer nichtmedizinischen Helferin, die einer werdenden Mutter während und nach der Geburt emotional und körperlich zur Seite steht, war eine Frau anwesend, die Zwillinge per Kaiserschnitt geboren hatte. Ihre OP war in der Spiegelung der Lampe zu sehen. Dieser Prozess hat sie so sehr schockiert, dass ihr bis heute die Tränen kommen, wenn sie darüber spricht.
Danach erfolgt die Narkose, wobei immer mehr zur lokalen Betäubung, einer Periduralanästhesie oder Spinalanästhesie, gegriffen wird. Hier werden die Anästhetika in den Hirnwasserraum, der das Rückenmark umgibt, gespritzt. Da das Rückenmark alle Nervensignale des Rumpfs und der Extremitäten an das Gehirn weiterleitet, ist eine großflächige und gezielte Betäubung möglich. Folglich hat die Frau die Möglichkeit, bei vollem Bewusstsein unter der Geburt dabei zu sein und ihr Kind gleich danach zu empfangen.
In der rbb-Dokumentation „Countdown ins Leben (1/6) | Doku | 100% Berlin.“, die am 17. Januar 2023 ausgestrahlt wurde, wird unter anderem der Kaiserschnitt von Kerstin M. mit der Kamera begleitet. Sie weint kurz vor der OP, da ihre erste Kaiserschnittgeburt unter Vollnarkose noch nicht lange her ist und die Angst hochkommt, diese könnte ebenfalls schwierig werden.
Wie den Bildern zu entnehmen ist, werden auch bei einer Spinalanästhesie im Klinikum im Friedrichshain immer noch die Arme der Frau gefesselt. Das Baby wurde Kerstin M. nur kurz nach der Geburt gezeigt und dann wieder mitgenommen. Erst später, nachdem der Vater das Baby in den Armen gehalten hatte, kommt das Baby auf die Brust der Mutter, die das Baby allerdings nicht halten kann, da ihre Arme weiterhin angeschnallt sind.
Während des gesamten Geschehens ist der Operationsraum voll mit Menschen, die Wunde wird genäht, das Baby liegt nackt auf der Brust, umgeben vom OP-Licht. Vor dem Kaiserschnitt erzählten die werdenden Eltern von ihren vielen Neben-Projekten und dass sie eigentlich allgemein kaum Zeit haben. Daher haben sie sich einen Tag vor der geplanten OP erstmals mit dem Namen des Babys beschäftigt.
Bei einem Notkaiserschnitt wendet man überwiegend die Vollnarkose an, da hier eine sehr schnelle Wirkung erreicht werden kann und soll. In diesem Fall ist die Frau gänzlich betäubt, muss beatmet werden und bekommt von der Geburt nichts mit.
Die eigentliche Operation beginnt damit, dass ein acht bis 12 Zentimeter langer Querschnitt, der Pfannenstiel-Schnitt, in der „Bikinifalte“ gemacht wird. Es werden Haut, Fett und Muskelschicht durchtrennt (3) und die Blase zur Seite geschoben, um die Gebärmutter freizulegen. Diese wird mit einem weiteren Schnitt geöffnet und mit den Fingern so weit gedehnt, bis der Kindskopf hindurchpasst und das Baby mithilfe einer Drehung herausgeholt werden kann. Daraufhin wird die Nabelschnur durchtrennt, der Arzt entnimmt den Mutterkuchen und vernäht die Frau.
Es heißt, die Krankenhäuser gehen immer mehr dazu über, das Kind sofort auf die Mutterbrust zu legen, sofern sie bei Bewusstsein ist und ihre Arme nicht angeschnallt sind. Schaut man sich die vorher genannte Dokumentation von rbb an und spricht mit Frauen, die kürzlich geboren haben, so scheint vielerorts die Praxis noch nicht da angekommen zu sein, wo die Theorie vorauszustürmen versucht.
Wie alles begann
Als Doula und Mutter bin ich beim Aufzählen dieser Details hin- und hergerissen. Sie schaffen einen guten Überblick über den physischen und sterilen Verlauf des Kaiserschnitts. Und dennoch: Das, was hier vorrangig dominiert und eine tiefe Traurigkeit in sich trägt, ist die Abwesenheit der Gefühlslage bei einem doch so hochemotionalen Thema. Der Kaiserschnitt wird statistisch und tabellarisch aufgezählt, als wäre es eine PowerPoint Präsentation für einen Großkonzern auf die man sich vorbereitet.
Nicht verwunderlich also, dass es vielen Menschen schwerfällt, ein gewisses Interesse und eine Sensibilität für den so wertvollen und wichtigen Vorgang der Geburt zu entwickeln. Man bleibt auf der rationalen und medizinischen Ebene wortwörtlich stecken: Eine gesellschaftliche Geburt, die sich im Geburtsstillstand befindet und mit aller Macht, Gewalt und Einwirken versucht, diese voranzutreiben. Der emotionale Aspekt des Fließens, der Hingabe und des Loslassens, die wichtigen Bausteine, damit eine Geburt gelingen kann, haben keinen Bestand. Und so treten wir lieber einen Kampf gegen den weiblichen Körper an, als diesem die Kraft und die Weisheit zuzugestehen, die er besitzt.
Schauen wir uns die Geschichte der Frau an, so fasst die Autorin Nora Konrad in ihrem Buch „Die Kraft deines Zyklus“ die Rolle der Frau wie folgt zusammen: „Es ist eine Geschichte von Ausbeutung, Schmerz und Mord“ (Konrad, 2021, S.121). Ein recht düsterer Satz in einem sonst sehr positiv geschriebenen Buch. Doch je mehr die moderne Frau ihre Weiblichkeit mittlerweile zu genießen weiß, desto entscheidender ist das Geschichtswissen der Frauenunterdrückung.
Dieser Thematik werde ich hier nicht gerecht werden können, da sie so viel mehr umfasst als nur das, was ich hier beschreiben kann. Dennoch ist es unumgänglich, einige Aspekte aufzuzählen, die für die steigende Kaiserschnittrate von elementarer Bedeutung sind.
Wird von den Jägern und Sammlern berichtet, so war die Frau diejenige, die gemütlich zu Hause geblieben ist, um ein paar Beeren zu sammeln, während der tollkühne, mutige Mann hinausgezogen ist, um seine Familie zu ernähren. Es entsteht das Gefühl, dass die Frau zwangsläufig vom Mann abhängig und ohne ihn nicht überlebensfähig war. Ein anderer, durchaus denkbarer Gedanke wäre, dass man sich ebenso hervorragend von Pflanzen ernähren kann und Mann und Frau gleichwertig zum Erhalt der Familie beigetragen haben.
Ein Blick in die Bibel zeigt auf, wie Eva aus Adams Rippe geformt wurde. Sie ist in sich nicht vollkommen und Adam nicht ebenbürtig, sondern ein Abkomme von ihm. Eine bizarre Umkehrung der Geburt. Ich könnte dieser Geschichte unterstellen, dass der Verfasser mit der Tatsache nur schwer umgehen konnte, dass die Frau die Schöpfungskraft und das pure Leben in sich trägt. Die Ablehnung dessen scheint im Verfasser so intensiv vorgeherrscht zu haben, dass er den Mann zum Gebärenden erklärte. Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass Eva von dem verboten Apfel genascht und somit Adam dazu verführt hatte, dies ebenfalls zu tun. Eva ist folglich für die Verbannung aus dem Paradies verantwortlich. Ich frage mich hierbei ketzerisch, wer diese Geschichte wohl aufgeschrieben haben mag.
Lange Zeit galt die Frau als eine Repräsentantin der Unreinheit, der Dummheit, als Dienerin des Mannes. Sie stellt ein unzureichendes Gesamtpaket dar. Der Gipfel der Frauenunterdrückung waren die Hexenverbrennungen. Insbesondere die weisen Frauen, die sich mit Geburt, Kräutern und der weiblichen Urkraft auskannten, wurden massiv verfolgt und auf grausamste Weise ermordet. Diejenigen, die sich dem Manne fügten, hatten wohl die besten Überlebenschancen in dieser grauenvollen Zeit. Die eigene Meinung oder ein „Nein“ laut auszusprechen, konnten unter Umständen der Frau das Leben kosten. In meiner Trauma-Arbeit zeigen sich Teile dieser tiefen Erfahrungen, die generationsübergreifend noch immer in uns verankert sind.
Das moderne Frauenbild
Hat sich das Frauenbild auf der geistigen Ebene vielerorts gewandelt, so scheint es in der Gesellschaft mit der körperlichen immer noch zu hadern. Eine der wichtigsten Unterdrückungsformen war und ist die Übersexualisierung und gleichzeitige Abwertung des weiblichen Körpers und ihrer gesunden Sexualität. Der weibliche Körper wird als ein verfügbares Objekt dargestellt. Er sollte makellos und in jedem Alter dem allgemeinem Schönheitsstandard angepasst sein. Eine durchgängige Jugendlichkeit ist unumgänglich, um Wertschätzung zu erfahren.
Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der eine Frau stets Lust auf jegliche Form der Intimität zu haben hat, wenn der Mann dies will. Möchte sie selbstbestimmt über ihren Körper entscheiden, so stößt dies in der patriarchalen Welt bereits auf Gegenwind. Die gesunde weibliche Sexualität wird erotisiert und ebenso gesellschaftlich verachtet, in vielen Ländern auch noch im Jahre 2023 hart bestraft. Die Polarisierung führt so weit, dass bei männlichen sexuellen Übergriffen oft eine Verdrehung stattfindet und die Frau für das Verführen des Mannes, der den Übergriff begangen hat, verantwortlich gemacht wird. Ein aktuell weitverbreitetes Beispiel hierfür sind die Proteste im Iran, bei denen die Frauen für ihre Rechte und Gleichstellung einstehen.
Im heutigen Deutschland würde man sicherlich der Aussage widersprechen, dass die weibliche Sexualität nicht der männlichen gleichgestellt sei. Wird die Entwicklung allerdings genauer betrachtet, so fällt zunehmend auf, dass die Übersexualisierung weiterhin Bestand hat und von vielen Frauen übernommen wird.
Tritt die Frau selbstbewusst mit ihrer Sexualität auf, so ähnelt dies oft dem Zeitgeist des Patriarchats: Die Frau nimmt sich, was sie will, sie ist die „Herrin“ der Lage, kann locker einmalige sexuelle Begegnungen eingehen und problemlos in der Öffentlichkeit über ihre sexuellen Erfahrungen und Bedürfnisse sprechen. Die freie Verfügbarkeit der Sexualpartner und des eigenen Körpers wird schon fast als eine Art Statussymbol gehandelt: Je offener und freizügiger der Umgang mit dem Thema Sex erfolgt, desto fortgeschrittener soll der Mensch angeblich sein.
Auf der anderen Seite wird die Romantisierung weiter vorangetrieben. Eine Liebesbeziehung reicht nicht, es braucht Explosionen an Emotionen und Aktionismus, es soll förmlich überschäumen von jeglicher Intensität, und so richtig stimmig und vollkommen scheint sie nur zu sein, wenn Herzschmerz hinzukommt. Ohne Enttäuschungen, Verletzungen und überschwänglichen Versöhnungen ist eine Liebesbeziehung der Sache nicht wert.
Es prallen zwei recht entgegengesetzte Sichtweisen aufeinander, und das, was der Frau vermeintlich übrigbleibt, ist die Entscheidung, in welchem Becken sie schwimmen will.
Deutlich wird hierbei, dass es ganz klare Rollenbilder für die Frau gibt, und noch viel mehr die Vorgabe, was sie mit ihrem Körper tun kann oder gar soll. Zeitgleich gibt es so viele unterschiedliche Erwartungen, dass dies zu einer großen Verwirrung führt. Wie die Frau es dreht und wendet, so ganz zulänglich scheint sie nicht zu sein. Eine Ansicht, die der Geschichte Evas auch heute immer noch sehr ähnelt. Diese Verwirrung der Frauen hat den Nebeneffekt, dass sie leichter zu kontrollieren sind und stets dem nacheifern, was sie sein sollen, und sich weniger darum kümmern, wer sie tatsächlich sind.
Die Bedeutung der Mutter
So wird der weibliche Körper zu einer Sache und von der Psyche getrennt betrachtet. Folglich ist es gar nicht so fern, dass dasselbe Spektakel im Kreißsaal geschieht und die physischen und psychischen Übergriffe vom Personal gegenüber der Frau als selbstverständlich angesehen werden. Gewalt unter der Geburt wird als ein nötiges, gar selbstverständliches Übel wahrgenommen.
Das, was unter der Geburt mit dem weiblichen Körper passiert, scheint laut Schulmedizin keinerlei Auswirkungen auf ihre Psyche zu haben. Die Frau selbst sieht es oft ähnlich. Tauchen nach und nach doch noch Gefühle auf, die darauf hinweisen, dass die erfahrene Gewalt im Kreißsaal eben nicht in Ordnung war, so werden diese gewissenhaft bagatellisiert und unterdrückt, und die betroffene Frau erfährt recht schnell, dass sie mit ihren Zweifeln oft alleine dasteht. Aussagen wie „Hauptsache das Baby ist gesund“ oder „Andere Frauen haben noch viel Schlimmeres erlebt“, sind keine Seltenheit. So trauert die Frau, gesteht sie es sich denn zu, oft alleine im Stillen (4).
Nora Konrad beschreibt, wie unsere Gesellschaft immer mehr dazu tendiert, die männliche Energie zu fördern. Diese definiert sich durch Aspekte wie Härte, Konkurrenz, Verstand, Konsequenz, Leistung und ständige Aktivität. Sowohl Frau als auch Mann tragen beide Seiten in sich, die ihre Berechtigungen haben und somit die Balance im Menschen schaffen.
Diese Energieverteilung scheint schon lange aus dem Gleichgewicht zu sein. Immer mehr werden die Frauen dahin getrimmt, zum einen in ihrer männlichen Energie zu verweilen und zum anderen ihre weibliche Energie, die der Emotionen, der Sanftheit, des Mitgefühls, der Intuition und der Ruhe zu unterdrücken. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Tabuisierung der Menstruation. Nach wie vor wird über die monatliche Blutung kaum gesprochen, sie wird als etwas Schmutziges angesehen, die gar Ekel aufkommen lässt.
Frauen tauschen heimlich Tampons und Binden aus und unterdrücken ihre Menstruationsschmerzen im gesellschaftlichen Alltag.
„Es gibt in der patriarchal geprägten Welt kein Zyklusgerechtes Leben, keine Vorbilder, keine Initiationsriten, die Mädchen zu starken Frauen machen, keine Sichtbarkeit der Thematik. Stattdessen tragen Frauen als Erbe die Last von Jahrhunderten der Unterdrückung der Weiblichkeit in sich“ (Konrad, 2021, S.126).
Ein Denkanstoß kann hierbei sein, dass die Blutung, die die Frauen dazu ermächtigt, Leben zu erschaffen und sich immerzu aufs Neue zu reinigen und sich selbst zu kreieren, Angst bei denjenigen auslöst, die diese Ermächtigung und fast schon „Superkraft“ nicht in sich tragen. Es ist eine Angst unter dem Deckmantel der Deformierung als Schwäche, Abneigung und Tabuisierung.
Doch sehen wir uns in diesem Zusammenhang einen weiteren negativen Aspekt an: Der Körperpsychotherapeut Franz Renggli beschäftigt sich mit der fortwährenden Zerstörung der Mutter-Kind-Bindung in unserer Gesellschaft und ihren Folgen. Eine davon ist die entstehende Wut über die fehlende Liebe der Mutter, die ablehnende Haltung dem Kind gegenüber und der daraus resultierenden Ablehnung sich selbst gegenüber.
Es herrscht ein innerer Kampf zwischen der Hoffnung, dieses Bedürfnis doch noch gestillt zu bekommen, und dem tiefen Urschmerz, von der eigenen Mutter nicht geliebt zu werden. So werden viele Kriege geführt, sei es im Kleinen oder über die Länder und den Globus hinweg. Doch der eigentliche Krieg ist der, der sich im eigenen Inneren abspielt und sich gegen sich selbst und die eigene Mutter richtet (Renggli, 2020). Diese inneren Kriege werden nach Außen projiziert, verursachen weiterhin Leid, und führen zu keiner Befriedung.
Es ist zu vermuten, dass ein solch unbewusster Krieg auch mit den Müttern im Kreißsaal geführt wird. Niemand kann uns so sehr verletzen und ebenso so viel Wärme und Liebe geben wie die eigene Mutter. Schauen wir uns die Gesellschaft und die Jahre ihrer Entwicklung an, so ist es nicht verwunderlich, dass sich viel Schmerz angesammelt hat: Bedingt durch die eigene Traumatisierung der Mutter, durch Unwissenheit, Fehlinformation, durch die Phase der Schwangerschaft, unter der Geburt und insbesondere in den ersten Jahren danach.
Diese Wut findet ihren Höhepunkt in den Kreißsälen und fördert die nächste traumatisierte Generation. Ein Kreislauf, den keine andere als die Mutter selbst durchbrechen kann, so schmerzhaft diese Erkenntnis auch sein mag. Dieser Gedanke scheint so viel Last und Verantwortung mit sich zu bringen, dass verständlicherweise viele Frauen diese nicht annehmen wollen. Doch schaut man hinter diese Fassade, so steckt darin auch ebenso viel Kraft, Mut und Liebe.
Wie es so schön heißt: Mit großer Macht kommt große Verantwortung. Wir Frauen dürfen uns vor dieser Verantwortung weder fürchten noch uns diese absprechen. Wir kreieren Leben, wir tragen es aus und gebären es in diese Welt. Erkennen wir, was in uns steckt, so kann dies wortwörtlich die Welt verändern.
Matrilineare Gesellschaft
In unserer aktuellen patriarchalen Gesellschaft besteht zum einen der Glaube, Männer hätten einen Anspruch auf den weiblichen Körper, zum anderen, dass der „Besitz“ von Frau und Kindern mit der Eheschließung an den Mann übergeht (Franz Ruppert, 2019). In der matrilinearen Gesellschaft (5) hingegen, beschreibt Ruppert, gehen Männer bei einer Eheschließung oder Partnerschaft nicht in den Besitz der Frau über, sind von ihr nicht finanziell abhängig und müssen nicht enthaltsam sein.
„Dagmar Margotsdotter beschreibt die Menschen der Mosou (5), die sie bei ihrem Besuch am Lugu-See in China kennenlernt, wie folgt: ‚Sie sind entspannt, gesund und fröhlich, einander zugewandt und fürsorglich, für sich selbst bescheiden und wohlwollend auf das Gegenüber schauend. Sie leiden nicht an Stress, Fettleibigkeit, Magersucht oder anderen Süchten wie viele von uns, nicht an Konkurrenz und Isolation, nicht an Gier und Eifersucht‘“ (Margotsdotter 2016, S.280) (Ruppert, 2019, S.67).
Hierbei geht es mir keineswegs darum, etwas als besser oder schlechter darzustellen. Ich denke jedoch, dass es unserer Welt und den Menschen sehr guttun würde, das Zepter abzugeben und eine andere Form der Gesellschaft auszuprobieren. Ich behaupte, unsere Welt braucht gerade jetzt mehr weibliche Energie und all ihre Eigenschaften, die sie mit sich bringt.
Blicken wir zurück auf den Kaiserschnitt: Ich empfinde diesen als eine logische Schlussfolgerung und als Spiegelbild, wie wir Frauen gesehen werden und uns selbst sehen. In dem österreichischen Dokumentarfilm „Meine Narbe — Ein Schnitt ins Leben“ wird die Bauchgeburt als ein rationaler Prozess, der auf Sicherheit und Erfolg ausgerichtet ist, dargestellt. Es gibt einen Zeitpunkt, eine Struktur, einen Ablaufplan und ein geplantes Ende.
Die Sectio ist weit von einem natürlichen Geburtsprozess entfernt. Eine Geburt ist unvorhersehbar, sie wird von intuitivem Handeln, dem Loslassen und der Hingabe begleitet. Im absoluten Vertrauen zum eigenen Körper und dem Kind, in Verbundenheit mit dem Fluss des Lebens, entsteht der Raum für eine selbstbestimmte und äußerst kraftvolle Transformation der Mutter und des Kindes. Wer geboren hat, weiß, dass die Zeit anders wahrgenommen wird, die Umgebung verschwimmt, man begibt sich in eine Art Trance, fast schon in eine andere Welt.
Doch wie soll sich eine Frau in diesen Zustand bringen, ist sie doch von unserer patriarchalen Gesellschaft von klein auf geprägt, ist sie doch mit einer Mutter aufgewachsen, die eine noch stärkere Unterdrückung erlebt hatte, gefolgt von ihrer Großmutter und Urgroßmutter? Manchmal ist es ein Wink, ein kleiner Zufall, eine Freundin, eine Dokumentation, ein Artikel, ein kleiner innerer Funken, der eine Frau dazu bringt, sich mit der Thematik zu beschäftigen und von Anfang an in die Schwangerschaft und Geburt mit ihrem Urvertrauen und Wissen zu schreiten. Der größte Teil der Frauen muss allerdings meist den Umweg über die erste „unwissende“ Geburt nehmen, um zu verstehen, dass in der „Geburtshilfe“ etwas nicht stimmt. Es braucht einen Weckruf, um zu begreifen, dass wir genug davon haben, uns unterdrücken und sagen zu lassen, was wir wie machen sollen, was wir können oder was wir nicht können.
Eine selbstbestimmte Geburt ist nicht gleich eine natürliche Geburt
Die eine Frau sieht ihre selbstbestimmte Geburt in ihrer Natürlichkeit und aus der Urkraft heraus. Eine andere Frau entscheidet sich dennoch weiterhin den Weg der mittlerweile fest verankerten medizinischen Geburt zu gehen. Der wichtigste Punkt hierbei ist es, aus der Wertung zu gehen und der Frau ihren freien Willen zuzugestehen, scheint dieser auch für sich selbst der falsche zu sein.
Ich habe mich so lange mit dem Kaiserschnitt nicht anfreunden wollen, und ich werde wohl auch keine Kaiserschnittbefürworterin werden. Viel zu viele Nachteile sind für mich dabei zu erkennen: Über das körperliche Risiko, all den Defiziten für das Kind, bis hin zu der genommenen Chance der Mutter, die Geburt aus der Kraft heraus zu (er-)leben, die in ihr steckt. Doch eine Sache nehme ich der Frau, wenn ich ihr den Kaiserschnitt abspreche, auch wenn es ein Wunschkaiserschnitt ist, und zwar die selbstbestimmte Entscheidung, wie sie gebären möchte.
Es ist völlig legitim in unserer Gesellschaft, all das nicht zu sehen und zu spüren, was mittlerweile viele Frauen und auch ich spüren, die sich für eine natürliche Geburt entschieden haben. Es ist völlig in Ordnung, Angst zu haben und sich dann lieber für den vermeintlich kontrollierten Kaiserschnitt zu entscheiden. Viel zu lange wurden wir unserer Kraft beraubt, und es nützt nichts, Frauen weiterhin zu drängen, sie in eine Form pressen zu wollen oder ihnen zu sagen, was sie zu tun haben. Der französische Arzt und Geburtshelfer Michel Odent beschreibt unterschiedliche Erfahrungsberichte und Gefühle zum Thema Kaiserschnitt. Von dem Gefühl, versagt zu haben, es nicht geschafft zu haben und keine vollständige Frau zu sein, bis hin zur Rettung und dem Strohhalm, an dem die Frau sich festhalten kann.
„So berichtet Sarah Clement in ihrem Buch von einer Mutter, die sagt: ‚Wenn jemand den Kaiserschnitt als Möglichkeit erwähnte, war das ein Licht am Ende des Tunnels – der einzige Weg, etwas zu Ende zu bringen, in dem ich zu ertrinken drohte‘“ (Odent, 2021, S.106).
Natürlich ist die steigende Kaiserschnittrate stark von äußeren Faktoren beeinflusst. Immer mehr Mediziner sprechen sich für den Kaiserschnitt aus, und es ist keine Seltenheit, dass der Schwangeren diese Option spätestens unter der Geburt vorschnell angeboten wird. Gewiss würde sich die eine oder andere Frau auch gegen die Bauchgeburt entscheiden, wäre sie besser beraten. Doch die Frage stellt sich hier dennoch, warum sie sich dazu entschieden hat, den Kaiserschnitt zu präferieren.
Spätestens hier wird deutlich, dass der Kaiserschnitt zwar ein rationaler und geplanter Eingriff ist, für die Schwangere allerdings auf einer reinen Gefühlsebene entschieden wird. Dies kann aus der Überzeugung heraus sein, dass es ein sicherer, schmerzfreierer und schnellerer Weg ist, ein Kind auf die Welt zu bringen. Es kann das blinde Vertrauen in den weißen Kittel sein.
Es kann die eigene Angst sein und das fehlende Vertrauen in sich selbst. Doch das Gras wächst nicht schneller, wenn man an diesem zieht. All diese Gefühle, Zweifel, Ängste und Bevormundung werden sich nicht plötzlich auflösen, und die Medizin wird nicht aufhören, ihre gewohnten Krankenhausprozesse zu propagieren. Solange die Frau ihre Kraft nicht gänzlich spürt und das Vertrauen zu fehlen scheint, so lange braucht es den Kaiserschnitt, da dies für die Frau durchaus ein Anker sein und eventuell eine gefährlichere sekundäre Sectio vermieden werden kann.
Ich spreche mich dafür aus, dass der Kaiserschnitt weiterhin in unserer Gesellschaft Bestand hat, weil ich davon überzeugt bin, dass die Erkenntnis, diesen individuell und ohne Indikation nicht mehr zu brauchen, von den Frauen selbst kommen muss, und wir ihnen die Selbstbestimmtheit über ihren Körper und ihre psychische Verfassung zugestehen sollten.
Ein Weg zu einer geringeren Kaiserschnittrate könnte sein, dass sich die schwangere Frau im Vorfeld mit dieser Thematik befasst und sich von anderen Frauen, die bereits geboren haben und ihre Erfahrungen mit ihr teilen, aufgefangen und gehalten fühlt. Systemunabhängige Hebammen und Doulas leisten hervorragende Arbeit in der Begleitung und Wissensvermittlung und schaffen einen Raum, in dem die Frau sich spüren und ihre Urkraft wiederentdecken kann. Am Ende liegt es an der gebärenden Frau selbst, das Vertrauen in sich selbst und in ihr Kind zu entwickeln, sich ihre alten Wunden anzuschauen und nachzuspüren. Je mehr sie das Alte loslässt und somit ihre Ängste weichen können, desto mehr Klarheit bekommt sie über ihre Kraft und ihr Können, und desto weniger wird sie die Sicherheit im Außen suchen, da sie diese bereits in sich selbst spürt.
Dann ist es völlig irrelevant, was die Krankenhäuser anbieten oder Ärzte propagieren, da die meisten Kreis- und Operationssäle leer bleiben werden.
Quellen und Anmerkungen:
https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/03/PD21_N018_231.html Abgerufen am 02.11.2022
https://www.netdoktor.de/therapien/kaiserschnitt/ Abgerufen am 02.11.2022
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/71897/umfrage/entbindungen-und-entbindungen-per-kaiserschnitt-in-deutschland/#professional Abgerufen am 03.11.2022
https://www.kaiserschnitt-ratgeber.de/der-kaiserschnitt/der-kaiserschnitt-ablauf/ Abgerufen am 03.11.2022
http://www.medizinfo.de/annasusanna/schwangerschaft/geburt/beckenendlage.shtml Aufgerufen am 28.02.2023
http://www.medizinfo.de/annasusanna/schwangerschaft/geburt/querlage.shtml Aufgerufen am 28.02.2023
Mirjam Unger und Judith Raunig: Dokumentarfilm „Meine Narbe – ein Schnitt ins Leben“
https://www.geyrhalterfilm.com/meine_narbe Abgerufen am 14.02.2023
Rbb Doku: Countdown ins Leben (1/6) | Doku | 100% Berlin. https://www.youtube.com/watch?v=xYtPcumkdew Abgerufen am 01.02.2023
Odent, Michel (2021): Es ist nicht egal, wie wir geboren werden – Risiko Kaiserschnitt (4.Auflage). Mabuse-Verlag.
Konrad, Nora (2021): Die Kraft deines Zykus – leben im Einklang mit den weiblichen Jahreszeiten (1.Auflage). ChicagoBooks.
Renggli Franz (2020): Verlassenheit und Angst – Nähe und Geborgenheit (1. Auflage). Psychosozial-Verlag.
Ruppert, Franz (2019): Liebe Lust & Trauma – Auf dem Weg zur gesunden Identität (1. Auflage) Kösel
(1) Laut Medizininfo.de kommt eine Querlage bei ca. 0,5 bis 1 Prozent der Frauen vor.
(2) Laut Medizininfo.de betrifft eine Beckenendlage ca. 3 bis 5 Prozent der Frauen, aufgeteilt auf:
o reine Steißlage (60 bis 70 Prozent)
o vollkommene Steiß-Fußlage (20 Prozent)
o vollkommene Fußlage (15 Prozent)
o unvollkommene Fußlage (1 bis 2 Prozent)
(3) Die Misgav-Ladach-Technik die als der sanfte Kaiserschnitt bezeichnet wird, findet immer mehr Anklang bei den Ärzten. Hier werden nach dem Pfannenstiel-Schnitt die weiteren Gewebsschichten durch Dehnen und Reißen eröffnet. Dies dient zu einer schnelleren und unkomplizierteren Heilung. Genäht werden danach nur noch Muskelschicht und Haut.
(4) Am 25.November ist der Rose Revolution Day, an dem Frauen in ihrer Klinik eine Rose ablegen können, um ihrer gewaltvollen Geburt eine Stimme zu geben.
(5) Es gibt nur wenige matrilineare Gesellschaften, dazu gehören unter anderem die Mosou in China, Hopi-Indianer in Nordamerika und Tuareg in Afrika.
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