Leiden ist etwas sehr Subjektives. Während der eine bereits durch eine Kleinigkeit zermartert wird, tragen andere wiederum schwerste Kreuze mit sich, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Viktor Frankl fand hierfür ein treffendes Bildnis:
„Gleichnishaft könnte man sagen, das Leid des Menschen sei so ein Ding von gasförmigem Aggregatzustand: So wie eine bestimmte Gasmenge einen Hohlraum, in den sie gepumpt wird, wie groß immer er auch sein mag, auf jeden Fall gleichmäßig und vollständig ausfüllt, genau so füllt das Leid die Seele des Menschen, das menschliche Bewußtsein, auf jeden Fall aus, ob dieses Leid nun groß oder gering ist. Es ergibt sich, daß die ‚Größe‘ menschlichen Leids eben etwas durchaus Relatives ist, und hieraus ergibt sich weiter, daß auch ein an sich Geringfügiges die größte Freude bereiten kann“ (1).
Folglich ist es nicht an uns, zu bewerten, welches Leid als solches gilt, oder das eine Leid gegen das andere aufzuwiegen. Der eine mag im kommenden Herbst und Winter „nur“ in einer unbeheizten Wohnung sitzen, der andere zusätzlich seinen Job verlieren und manch einer landet auf der Straße oder wird mit unzähligen weiteren Menschen in sogenannten Wärmehallen zusammengepfercht. Und jeder wird auf diese Umstände anders reagieren. Die Kernfrage ist somit nicht, wer woran leidet, sondern wie wir damit umgehen und selbst in diesem Leid noch einen Sinn entdecken können.
Der alles entscheidende Sinn
In den dunkelsten Stunden scheint all das zu verschwinden, was unserem Leben zuvor Sinn einhauchte. Doch Frankl beschreibt, wie selbst in den Zeiten, in denen wir mehr oder weniger komplett auf uns selbst zurückgeworfen sind, noch einen Sinn entdecken können:
„Die geistige Freiheit des Menschen, die man ihm bis zum letzten Atemzug nicht nehmen kann, läßt ihn auch noch bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden, sein Leben sinnvoll zu gestalten. Denn nicht nur ein tätiges Leben hat Sinn, indem es dem Menschen die Möglichkeit gibt, in schöpferischer Weise Werte zu verwirklichen; und nicht nur ein genießbares Leben hat Sinn, also ein Leben, das dem Menschen die Gelegenheit gibt, im Erlebnis der Schönheit, im Erleben von Kunst oder Natur, sich zu erfüllen; sondern auch noch das Leben behält seinen Sinn, das (…) kaum eine Chance mehr bietet, schöpferisch oder erlebend Werte zu verwirklichen, vielmehr nur noch eine letzte Möglichkeit zuläßt, das Leben sinnvoll zu gestalten, nämlich eben in der Weise, in der sich der Mensch zu dieser äußerlich erzwungenen Einschränkung seines Daseins einstellt. Das schöpferische wie das genießende Leben sind ihm längst verschlossen. Aber nicht nur schöpferisches und genießendes Leben hat einen Sinn, sondern: wenn das Leben überhaupt einen Sinn hat, dann muß auch Leiden einen Sinn haben. Gehört doch das Leiden zum Leben irgendwie dazu — genau so wie das Schicksal und das Sterben. Not und Tod machen das menschliche Dasein erst zu einem Ganzen.
(...)
Während die Bekümmerung der meisten der Frage galt: Werden wir das (…) überleben? Denn, wenn nicht, dann hat dieses ganze Leiden keinen Sinn — lautet demgegenüber die Frage, die mich bedrängt, anders: Hat dieses ganze Leiden, dieses Sterben rund um uns, einen Sinn? Denn, wenn nicht, dann hätte es letztlich auch gar keinen Sinn, das Lager zu überleben. Denn ein Leben, dessen Sinn damit steht und fällt, daß man mit ihm davonkommt oder nicht, ein Leben also, dessen Sinn von Gnaden eines solchen Zufalls abhängt, solch ein Leben wäre nicht eigentlich wert, überhaupt gelebt zu werden“ (2).
Übertragen in unsere heutige Zeit eröffnet sich mit der Bedeutung und Wichtigkeit eines Sinnes im Leben ein erhebliches Problem. Eine hedonistische Epoche der allumfänglichen Sinnentleertheit zerschellt nun an einer neuen Zeitspanne, die durch Mangel und Entbehrungen gekennzeichnet sein wird. Es kommt zum kalten Entzug von einem Rausch des freudlosen Konsumierens und des Sich-zu-Tode-Vergnügens (Neil Postman). Was bleibt, wenn all diese Betäubungen und Lebenssurrogate nacheinander wegfallen und durch ihr allmähliches Verschwinden die innere Leere der Individuen einer narzisstischen, normopathischen, ahistorischen und postheroischen Leistungsgesellschaft offenlegen?
Gibt es in dieser Leere noch einen Sinn? Einen Sinn, der uns ein Anker sein kann? Hatten wir einen solchen Sinn gefunden in der „alten Welt“, im „alten Leben“ zwischen Arbeit, Behördenkram, Ablenkung und freudlosen Vergnügen?
Das soll kein Vorwurf sein! Die Struktur unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems war und ist — in immer zunehmenderem Maße — so beschaffen, dass wir nur schwer einen Sinn darin entdecken können. Wo sollen wir diesen auch finden? Die Sinnfindung bedarf schließlich einer gewissen Erdung, die uns durch das Diktat des Dekonstruktivismus und der damit einhergehenden Entwurzelung abhandengekommen ist: Festanstellungen wichen zeitlich befristeten Arbeitsverträgen oder die Stelle wird gleich durch eine Maschine ersetzt. Verbundenheit zur eigenen Heimat darf nicht mehr verspürt werden, ohne dass man sich des Rechtsseins verdächtig macht. Die Institution Familie wird systematisch ausgehöhlt. Das Recht auf Privateigentum wird zunehmend infrage gestellt. Und selbst auf Ebene des eigenen Körpers gilt nichts mehr als gesichert: weder das eigene Geschlecht noch die Selbstbestimmung über eben diesen Körper.
Frankl zitiert im Zusammenhang mit dem Sinn Friedrich Nietzsche, als er schrieb: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“. Wir haben nun unzählige Prognosen, wie die Schrecken der Zukunft sein könnten, aber kein „Warum“, welches wir am Ende von diesem Tunnel anstreben.
Eigentlich müssten wir den Mangel eines eigenen Lebenssinns mehr fürchten als Blackouts, Repressionen und gesellschaftliche Konflikte.
Ohne einen Sinn können wir uns mit einem Schiff in stürmischer See vergleichen, welches ohne Zielhafen durch meterhohe Wellen treibt und einzig zum Ziel hat, nicht unterzugehen.
Wo sollen wir diesen Sinn nun — auf die Schnelle — herbekommen? Vielleicht sind es gerade diese schwierigen Zeiten, in welchen wir erst einen Sinn finden können, da er uns in der trägen Alltagsnormalität immer verborgen geblieben war. Hierzu schrieb Frankl:
„… (G)erade eine außergewöhnlich schwierige äußere Situation (gibt) dem Menschen Gelegenheit (…), innerlich über sich selbst hinauszuwachsen. Statt gerade die äußeren Schwierigkeiten (…) zu einer inneren Bewährungsprobe zu gestalten, nehmen sie (die Mitinsassen, Anmerkung des Autors) das gegenwärtige Dasein nicht ernst, sie entwerten es zu etwas Uneigentlichem, vor dem man sich am besten verschließt, indem man sich nur mehr mit dem vergangenen Leben abgibt. Das Leben solcher Menschen versandet dann, statt (…) gerade unter diesen denkbar größten Schwierigkeiten (...) zu einem Höhepunkt sich aufzuschwingen. Natürlich sind nur wenige Menschen hierzu fähig; ihnen aber ist es gelungen, noch im äußeren Scheitern und auch noch im Sterben zu einer menschlichen Größe zu gelangen, die ihnen früher, in ihrer Alltagsexistenz, vielleicht niemals beschieden gewesen wäre; …“ (3).
Einem eintretenden Mangel oder dem Wegfall von Etwas liegt manchmal das Paradoxe inne, das das Verschwinden das Verschwundene erst sichtbar macht. Handelt es sich dabei um etwas, was man früher als selbstverständlich hinnahm, wird einem dies erst dann bewusst, wenn es weg ist. So tritt die Sinnlosigkeit unseres Daseins als Konsument erst dann zutage, wenn die Ablenkungen von unserer Sinnfreiheit verpuffen.
Und vielleicht braucht es dieses Vakuum, in welchem wir erkennen, worum es im Leben wirklich geht. Und wenn sich dies herauskristallisiert, wir in dieser Leere bar jeder Ablenkungen beginnen zu verstehen, was wir eigentlich in unserem Leben wollen, dann ergibt sich hieraus der Sinn, der uns zuvor gefehlt hat. Vielleicht finden wir in dieser entbehrungsvollen Zeit Nietzsches „Warum“, mit welchem wir das „Wie“ ertragen können, um letztlich dieses „Warum“ langfristig zu manifestieren.
Wie Frankl im Zitat oben beschrieb, „versandet“ der Mensch, wenn er sich von der leidvollen Gegenwart in Richtung Vergangenheit abkoppelt und sich in die Zeit vergangenen Lebens flüchtet. Der Psychologe wählte während seiner Inhaftierung die andere Richtung und richtete seinen Fokus auf die Zukunft, manifestierte sein angestrebtes Ziel.
So stellte er sich lebhaft vor — während er verwundet durch die eisige Kälte in Richtung Zwangsarbeit humpelte —, wie er in einem warmen und schönen Vortragssaal am Rednerpult steht und das Erlebte aus einer objektiven, wissenschaftlichen Warte heraus dem Auditorium präsentierte. Er versetzte sich in eine zukünftige Lage hinein, in welcher er über sein leidvolles Lagerleben berichtete, als sei es bereits Vergangenheit.
Resümee
Wir können von Frankls Erfahrungen ableiten, dass wir von dem ausschließlichen Gegen-Etwas-Sein abkehren und stattdessen nach dem Ausschau halten sollten, was wir eigentlich wollen. Vermutlich können wir eine Unmenge an Dingen aufzählen, die wir nicht möchten, aber nur ganz weniges, was wir anstreben. Das kann uns angesichts der drohenden, neuen Krisen zum Problem werden. Denn wir verschleißen darin unsere gesamte Energie in einem Abwehrkampf, statt diese in den Aufbau dessen zu stecken, was wir wollen. Aber damit wir diese Energie überhaupt dafür aufwenden können, müssen wir unbedingt herausfinden, was dieses „Was“ für jeden Einzelnen von uns ist.
Für Viktor Frankl war dieses „Was“ unter anderem die oben beschriebene Vorstellung, in einem beheizten Vortragssaal über seine Schreckenserfahrungen zu berichten. Was ist für uns das, was für Frankl der Vortragssaal war? Welche Wunschvorstellung haben wir, jeder Einzelne von uns, die uns in der dunkelsten Stunde als orientierungsgebender Polarstern dient, den wir solange fixieren, bis wir ihn (vielleicht) eines Tages manifestiert haben? Wohin wollen wir, wenn wir in unserer unbeheizten Wohnung sitzen? Welches Ziel wollen wir erreichen? Und müssen wir dazu überhaupt auf die Straße gehen? Oder liegt die Antwort vielleicht ganz wo anders?
Darüber hinaus können wir von Viktor Frankl die Warnung entnehmen, uns nicht der Gegenwart in Richtung Vergangenheit zu entziehen, uns gar die „alte Normalität“ zurückzuwünschen. Schließlich hat die alte Normalität uns in die Ausgangslage geführt, der wir uns nun gegenüber sehen.
Statt also der Vergangenheit hinterherzutrauern, in der alles so einfach und komfortabel war, laden uns diese Krisen ein — selbst wenn wir nur ein Streichholz als Lichtquelle haben sollten —, in dieser Dunkelheit nach unseren menschlichen Qualitäten zu suchen, die in der Komfortzone nicht gedeihen konnten.
Hier können Sie das Buch bestellen: „ ... Trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebte das Konzentrationslager“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Siehe Frankl, Viktor E.: „ ...trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebte das Konzentrationslager“, München, 2009, Seite 72 bis 73.
(2) Siehe ebenda, Seite 103 bis 104.
(3) Siehe, ebenda Seite 111.
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