Schuld und Sühne
Bewegungen, die sich heute selbst als progressiv verstehen, prangern mit inquisitorischem Furor die Aneignung kultureller Eigenarten, Traditionen und Ausdrucksformen sogenannter marginalisierter Gruppen durch Privilegierte (2) an. Dabei geht es nicht um die Aneignung als solche, sondern der Privilegientheorie zufolge um das Machtgefälle zwischen Marginalisierten und Privilegierten. Folglich haben Marginalisierte und Privilegierte nicht das gleiche Recht auf die Aneignung kultureller Praktiken. Die Aneignung von Dominanzkultur durch Marginalisierte wird als gutes Recht und quasi Reparation für durch Marginalisierung entstandenes Unrecht empfunden.
Explizit bewertet man dabei historische Menschheitsverbrechen wie Sklaverei und Kolonialismus nach heutigen ethischen Maßstäben, denn deren Auswirkungen sind bis in die Gegenwart hinein feststellbar und wirken sich noch heute auf die soziale Stellung marginalisierter Gruppen aus. Daraus leiten Vertreter der Critical Studies (3) eine Erbschuld nebst entsprechenden Bußritualen ab, die rückwirkend für Wiedergutmachung und für Gerechtigkeit im Hier und Jetzt sorgen sollen. Aber ebenso wie im religiösen Kontext ist eine solch „säkulare“ Erbschuld durch Buße nicht zu tilgen.
Weiße wären per Geburt privilegierte Rassisten, so lautet eines der unhinterfragbaren Dogmen, und könnten diesen Status nicht ablegen, sondern sich lediglich ihrer Privilegien bewusst werden (4). Letzteres ist nicht gänzlich falsch. Um Rassismus zu verhindern, muss man sich gesellschaftliche Strukturen bewusst machen. Jedoch stellt sich dann möglicherweise die Einsicht ein, dass Sklaverei und Kolonialismus wenig mit Hautfarben, aber viel mit Überlegenheitsdenken gepaart mit wirtschaftlicher Macht zu tun hatten.
Im Unterschied dazu hat Sexismus immer zuerst mit Geschlecht und erst dann mit Überlegenheitsdenken und wirtschaftlicher Macht zu tun.
Die Rückgabe geraubter Kunstwerke oder archäologischer Artefakte an die Nachfahren früherer Opfer oder Besitzer macht früheres Unrecht nicht ungeschehen und verbessert die Stellung der Erben oft nur ideell. Wenn Kunstschätze, wie im Fall der Benin-Bronzen, nach ihrer Rückgabe im Privatbesitz von Machthabern verschwinden und Fördergelder in dubiosen Kanälen versickern (5), hat man letztlich nur wohlfeilen Ablasshandel betrieben, statt den Menschen Benins Genüge zu tun. Die „heilsame Lektion der Demut“, die Helge Lindh, SPD, gelernt zu haben vorgibt, wird folgenlos bleiben. Und Michelle Müntefering, ebenfalls SPD, wird klar sein, dass „koloniales Unrecht zu beheben“ rückwirkend nicht möglich ist (6).
Immaterielle Kulturtechniken entziehen sich der symbolischen Rückgabe vollends. Denn die gesamte menschliche Kultur ist das Ergebnis von Austausch, Nachahmung, Vermischung und Vereinnahmung. Die Problematik kultureller Aneignung kann folglich nicht in der Aneignung als solcher bestehen, von wem auch immer sie ausgeht, sondern muss die Intention in den Fokus stellen. Offenkundig respektloser, verächtlich machender Umgang mit einer Kultur, Kommerzialisierung, Ausbeutung oder historisch unangemessene Bezüge sind nach heutigem Ermessen abzulehnen.
Minstrelsy und Blackface
Eine völlig zu Recht längst geächtete Form der kulturellen Aneignung stellt die Praxis des Blackface-Minstrelsy dar. Weiße Darsteller, grotesk überzeichnet als Afroamerikaner geschminkt, gaben in stereotyp überzogenen und degradierenden Bühnenstücken Schwarze Menschen der Lächerlichkeit Preis. Viele Elemente der Blackface-Minstrelsy waren direkte Ableitungen von Sklaverei- und Plantagenkulturen und verhöhnten die brutale Realität. Sie erzeugten und verstärkten rassistische Vorurteile, trugen zur Entmenschlichung bei und legitimierten damit Kolonialismus und Sklaverei.
Die rassistischen Aspekte des Blackface-Minstrelsy sind heute weithin anerkannt und werden zu Recht als inakzeptabel und beleidigend angesehen. Wichtige Meilensteine in der Ächtung des Blackface-Minstrelsy waren die Bürgerrechtsbewegungen der 1960er Jahre in den USA und die damit verbundene erhöhte Aufmerksamkeit für rassistische Praktiken und Stereotype (7).
Aus diesen Bewegungen hat sich im Namen der „Sensibilität“ für oft nur noch gefühlte Ungerechtigkeit ein Wettbewerb der Beleidigten entwickelt. Je weniger Rassismus und kulturelle Aneignung es zu geben scheint, umso rigoroser gestalten sich die Kämpfe dagegen (8).
Frisuren und traditionelle Kleidung, getragen von den „falschen“ Personen, werden geächtet, um die Authentizität von Speisen wird gezankt, Bücher von Sensibilitätslesern (9) nach problematischen Formulierungen durchkämmt und Missetäter gnadenlos an den Pranger gestellt.
Wo „Ausgrenzungserfahrungen …, die man als Schwarze Person aufgrund der eigenen Haarstruktur“ (10) macht, die politische Debatte bestimmen, die bloße Anwesenheit von Menschen anderer Hautfarbe als Aggression empfunden wird (11), und man sich deshalb anklagend mit Seinesgleichen in Safespaces zurückzieht, können Macht- und Verteilungsfragen nicht mehr thematisiert werden. Das eigene verletzte Gefühl wird zum alles bestimmenden Maßstab und letztgültigen Argument.
Dann ist der gesellschaftliche Zusammenhalt bedroht, und die vermeintlich Progressiven spielen den Machthabern dieser Welt in die Hände. Soziale Grundfragen tragen viele auf zwischenmenschlicher Ebene und in den sozialen Medien aus. Zwietracht, Hass und tribalistische Reflexe bestimmen solche Debatten, in denen es nur noch um den eigenen Sieg und die Niederlage der Anderen geht.
Reinheitsideologie und Doppelstandards
Im Namen dieser neuen Reinheitsideologie muss jegliches Missempfinden durch ein falsches Wort oder ein Stereotyp von potenziellen Opfern abgewendet werden, koste es, was es wolle. Jeder, der eine Ungerechtigkeit aufspürt, erwirbt das Recht, unsensibles Verhalten im Namen der guten Sache zu maßregeln, und kann sich des Beifalls seiner Peer Group gewiss sein.
Die gute Sache bedarf keiner Erklärung. Sie ist gut aus sich heraus. Dass dieser quasireligiöse Eifer seinerseits Ungerechtigkeiten, Privilegien und Marginalisierungen hervorbringt, sogar Mitstreiter aus den eigenen Reihen oft unverschuldet in Bedrängnis geraten, ist praktisch unumgänglich.
Denn die identitätspolitischen Gruppeninteressen der verschiedenen Communities im „progressiven“ Lager sind oft unvereinbar. Es gibt keinen gemeinsamen Nenner, keinen Klassenstandpunkt mehr. Unter dem schwammigen Begriff der Gerechtigkeit versteht jede Gruppe zunächst die Gerechtigkeit für sich selbst. Wohingegen als Feind jeder taugt, der die Gruppendoktrin nicht vollständig teilt. Gleichheit, Gerechtigkeit und Respekt für erlittene Ungerechtigkeiten werden zwar als Ziele verkündet, aber nur selektiv praktiziert.
Was den einen recht und billig ist, nämlich dass ihre Ausdrucksformen nicht stereotypisierend, respektlos und grotesk verzerrt benutzt werden, um sie der Lächerlichkeit preis zu geben, wird anderen, namentlich Frauen und mithin ihren Kämpfen um gleiches Recht, nicht zugestanden: Die hypersexualisierte, teils ins Verstörende tendierende Darstellung von „Weiblichkeit“ in Drag-Shows sehen identitätspolitische Aktivisten nicht nur als unproblematisch, sondern als progressive aktivistische Kunstform an, die angeblich stereotype Geschlechterrollen entlarvt.
Aus einer anderen Perspektive betrachtet wird das Gegenteil sichtbar: Manche Drag-Shows, in denen Männer sich weibliche Attribute aneignen und ins Groteske überzeichnen, verherrlichen die männliche Sicht auf eine fetischisierte weibliche Genderrolle als sexualisiertes, narzisstisches Objekt. Anleihen aus dem Rotlichtmilieu komplettieren das Bild (12). Parallelen zu Minstrelsy sind augenfällig.
Nach über einhundert Jahren Frauen- und Bürgerrechtsbewegung wäre ein kritischer, respektvoller, sensibler Diskurs geboten. Postmoderne Aktivisten, die sich in der Tradition des Feminismus wähnen, müssen sich fragen lassen, welche Rechte von welchen Marginalisierten sie eigentlich vertreten, wessen Missempfinden zählt, wessen Unterdrückungsgeschichte respektiert wird und wessen nicht, wem sie Definitionsmacht zubilligen oder entziehen, und ob die derzeitige moralbourgeoise Ständeordnung mit Idealen von Gleichheit und Gerechtigkeit vereinbar ist. Ebenso müssen sie sich fragen lassen, ob die Aufgabe einer progressiven Bewegung darin liegt, falsche Frisuren zu bekämpfen und unterschiedliche Interessengruppen gegeneinander auszuspielen, während die soziale Frage gar nicht mehr gestellt wird.
Interessenausgleich statt Glaubenskrieg
Unsere Gesellschaft braucht einen aufgeklärten Interessenausgleich statt tribalistischer Glaubenskriege. Ob jeder einzelne Fall eines schwarz geschminkten Gesichts in der Tradition des Blackface-Minstrelsy steht und im Namen einer rückwirkend herzustellenden Gerechtigkeit geächtet werden muss, oder ob jeder einzelne als Dragqueen auftretende Mann Weiblichkeit herabwürdigend darstellt, sollte Teil eines unaufgeregten gesellschaftlichen Aushandlungs- und Abwägungsprozesses sein, bei dem das ererbte oder gefühlte Opfer-Täter-Verhältnis nicht absolut gesetzt wird oder sogar in Revanchismus umschlägt.
Eine gerechtere Gesellschaft wird nicht aus einer endlosen Abfolge von Buße und Rache entstehen. Sie erfordert nachvollziehbare Prinzipien und Konsistenz statt Doppelmoral und fanatischem Eifer.
In einer Demokratie muss die Aushandlung der gesellschaftlichen Normen zwingend eine unter Gleichen sein. Keine Interessengruppe sollte mit Tabus belegt werden oder Tabus verhängen. Es darf nicht darum gehen, dass eine „Seite“ gewinnt. Ein Argument muss wieder unabhängig von der Person gehört werden, die es vorbringt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Terrorherrschaft
(2) https://dewiki.de/Lexikon/Privileg_(Soziologie)
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Kritische_Wei%C3%9Fseinsforschung
(4) https://shorturl.at/uDU49
(5) https://www.sueddeutsche.de/kultur/nigeria-koenig-ewuare-ii-benin-bronzen-annalena-baerbock-1.5847009
(6) https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw19-de-aktuelle-stunde-benin-bronzen-947704
(7) https://nmaahc.si.edu/explore/stories/blackface-birth-american-stereotype
(8) https://www.grin.com/document/434787
(9) https://www.sueddeutsche.de/leben/sensitivity-reading-literatur-dogan-salman-rushdie-cancel-culture-1.6069957?reduced=true
(10) https://sz-magazin.sueddeutsche.de/willkommen-bei-mir/umgekehrter-rassismus-89490
(11) https://www.nzz.ch/feuilleton/wandern-ist-rassistisch-und-im-wald-fuehlen-sich-rechte-wohl-absurde-debatte-ld.1746650
(12) https://www.stern.de/kultur/drag-queen-gloria-viagra---fuer-mich-war-der-fummel-immer-politisch--33526358.html
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