Milan Kundera, Sten Nadolny, Luis Sepulveda, Haemin Sunim — in einer immer schnelllebigeren Zeit wächst die Sehnsucht nach Langsamkeit. Hektik, Stress, Nervosität, Überreizung, Ruhelosigkeit und Zeitmangel gehören zu unserem Alltag. Bis zum Letzten gehen wir und lassen uns durch nichts aufhalten. Immer weiter wird der Bogen überspannt. Einer geht noch. Nur noch dies erledigen. So arbeiten viele von uns ihren Alltag regelrecht ab, um am Abend erschöpft mit Filmchen, Serien oder einem Glas zu viel abzuhängen und danach schlecht zu schlafen.
An Auslösern von Stress und Anspannung mangelt es nicht: Lärm, Straßenverkehr, Wartezeiten, Schulden, Sorgen, Krankheiten, Schmerzen, Kritik, zu hohe Ansprüche an sich selbst, Erwartungen, Über- oder Unterforderung, Perfektionismus, Leistungs-, Zeit- und Konkurrenzdruck, Mobbing, Isolation, Konflikte, Klima. Für jeden ist etwas dabei. Die Folgen sind verheerend: Wenn Stress chronisch wird, kann er regelrecht krank machen. Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Infektanfälligkeit, Depressionen, Tinnitus, Autoimmunerkrankungen, Angststörungen, chronische Müdigkeit, Nacken-, Kopf-, Rücken- oder Gelenkschmerzen, Magen-Darm-Erkrankungen oder psychische Krankheiten machen darauf aufmerksam, dass etwas nicht stimmt.
Wir wissen es. Doch meistens bleiben wir im selben Zug sitzen. Es ist wie eine Sucht, die normal geworden ist. Geht es nicht fast allen so? Burn-out, Depressionen und chronische Erkrankungen gehören in unserer Zeit zum Leben dazu. Doch wer sich nicht darauf beschränken will, Medikamente zu nehmen, oder sich nicht damit zufriedengibt, in einem ansonsten bedeutungslosen Leben wenigstens dank seiner Beschwerden etwas zu erzählen zu haben, für den kann die dunkelste und naturgemäß stillste Zeit des Jahres Gelegenheit sein, in sich zu gehen und sich zu fragen, ob es nicht auch anders geht.
Balsam
Die oft glorifizierte Schnelllebigkeit, so die Traumapsychologin Verena König, hält unser Nervensystem in einem dauerhaften Zustand der Anspannung und kann uns regelrecht gefangen nehmen (1). Das Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems, das Spannungsverhältnis zwischen Sympathikus und Parasympathikus, die die wichtigsten grundlegenden Funktionen unseres Körpers regulieren, ist gestört und versetzt uns in eine Art „Kampf oder Flucht“-Modus. Oft ist es uns nicht bewusst.
Langsamkeit lädt unser Nervensystem auf sanfte Weise dazu ein, wieder in die Balance zu kommen. Sie stimuliert den Parasympathikus, insbesondere den ventralen Vagusnerv, und signalisiert, dass alles in Ordnung ist.
Bei dieser Beschreibung kommt mir ein Puppenspieler in den Sinn. Ruhig und besonnen hält er die Fäden seiner Nervenstränge in seiner Hand und achtet darauf, dass sie sich nicht ineinander verknäulen. „Ich halte euch. Ihr könnt mir vertrauen.“ Seine Anweisungen sind es, denen die Bewegungen der Puppen folgen. Geschickt fängt er sie ab und lässt die Fäden auch dann nicht los, wenn Sturm aufkommt. Es ist, als strichen seine Hände die Nerven glatt. Seine Stimme ist Balsam. Wie ein sanfter Windhauch gleitet sie über angespannte Nervenfäden.
Sein Atem ist es, über den die Dinge zur Ruhe kommen. Auf und ab, ein und aus fließt er und versorgt den Körper mit dem lebenswichtigen Sauerstoff. Brustkorb und Bauchdecke heben sich, Lungen füllen sich, Herzschlag beruhigt sich. Alles in Ordnung. Es ist gut. Hände legen sich in den Schoss, Nacken entspannt sich, Stirn glättet sich, Muskeln lockern sich, Schmerz wird gelindert. Wie in einem Gefäß kommen die aufgewühlten Wogen zur Ruhe. Nach wildem Ritt halten die Gedanken inne und sinken wie in einer Schneekugel zu Boden.
Die wilde Jagd
So kann die heilige Zeit, die heilende Zeit, ihr Werk tun. Ganz dünn, so steht es in den alten Erzählungen, seien jetzt die Schleier zwischen Dies- und Jenseits, zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt. Durch die Ahnentore, die sich im November geöffnet haben und Anfang Januar wieder schließen, treffen sich die Seelen aus der vergangenen und der gegenwärtigen Welt. Drei Sterne erscheinen zu dieser Zeit am Winterhimmel, bekannt als der Gürtel des Orion. Wie aufgereihte Perlen stehen sie senkrecht am südlichen Winterhimmel.
In der altägyptischen Religion war der Oriongürtel eine Erscheinungsform des Osiris, des Gottes der Unterwelt. In der griechischen Mythologie, so heißt es, wurde der gefürchtete Jäger Orion an den Himmel versetzt, weil er mit seiner Treffsicherheit zu viel Schaden anrichtete. In vielen Kulturen wird von einer „Wilden Jagd“ gesprochen, die zu dieser Zeit über den Himmel stürmt. Eine in Europa verbreitete Volkssage erzählt von einer Gruppe übernatürlicher Jäger, die des Nachts für Unruhe sorgen.
Das Thema beschäftigt die Menschen seit langer Zeit. Oft wurde es literarisch und musikalisch verarbeitet und auch filmisch umgesetzt. Mancherorts galt die Wilde Jagd als Vorbotin von Kriegen, Katastrophen oder Krankheiten. Mit fürchterlichem Geschrei und Gerassel soll der Geisterzug durch die Lüfte ziehen. Aus Seelen soll er bestehen, die vorzeitig aus dem Leben gerissen wurden. Wer ihn betrachtet, der riskiert, mitgezogen zu werden.
Rückzug
Tatsächlich mutet ein Rückblick auf das zu Ende gehende Jahr wie eine wilde Jagd an: Kriege, Aufrüstung, Insolvenzen, Regierungs-Aus, RKI-Files, Impfopfer, Einschränkung der Pressefreiheit, Erdbeben, Wirbelstürme, Erdrutsche, Überschwemmungen — alles ist in Unordnung geraten.
An der Wucht der Ereignisse erkennen viele, dass eine ganze Ära zu Ende geht. Die Dinge überstürzen sich. Wer jetzt nicht besonnen ist, der riskiert, von ihnen mitgerissen zu werden.
Der Legende nach sollen diejenigen, die aus dem Fenster schauten, einen so dicken Kopf bekommen haben, dass sie ihn nicht mehr zurückziehen konnten. Wie gut dieses Bild auch auf die heutige Zeit passt! Durch Informationen, die unablässig in die Welt herausposaunt werden, sind unsere Köpfe förmlich aufgeblasen. Die Sinne sind benebelt, viele Menschen sehen nicht mehr klar. Unaufhörlich wird unsere Aufmerksamkeit dorthin gelenkt, wo wir ohnmächtig sind und nichts machen können.
Die Antwort ist nicht Widerstand. Die Wilde Jagd ist so ungestüm, dass niemand eine Chance hat, der sich ihr in den Weg stellt. Sie ist nicht eigentlich menschenfeindlich, so heißt es. Doch wir sollten uns vor ihr in Acht nehmen und besonnen handeln. Lassen wir Ruhe einkehren. Die Blätter sind gefallen, die Tiere im Winterschlaf. Das Leben zieht sich auf das Wesentliche zurück.
Nach altem Brauch
Während draußen in der künstlichen Welt der Rummel losbricht, geht die innere Reise mit leichtem Gepäck weiter. Von der Frucht ist nur das Samenkorn geblieben. Mit Bedacht hält der Puppenspieler die Fäden in der Hand. Sorgfältig hat er sein Haus geschmückt, behutsam grüne Zweige zu einem Kranz gebunden. Duftender Rauch zieht durch das Haus, Kerzenschein hüllt es in ein mildes Licht.
Bevor etwas Neues beginnt, will das Alte verabschiedet werden. Keine Agitation ist hierfür angesagt, kein Lärm, keine Aufregung, kein Kampf. Seien wir stille, wenn die Wilde Jagd vorbeizieht. Lassen wir es toben. Wir müssen uns das nicht anschauen. Wir müssen nicht alles für bare Münze nehmen, was wir sehen.
Glauben wir vor allem unserem gesunden Menschenverstand, unserer Intuition und unserem Herzensgefühl und vertrauen wir auf unsere eigene Wahrnehmung. Lassen wir unsere Energie nicht von äußeren Ereignissen abziehen, sondern orientieren wir uns am Innen.
Der Advent ist eine wunderbare Gelegenheit, zu sich zu kommen. Nach einem alten europäischen Brauch werden jetzt die Raunächte vorbereitet. Sie beginnen am 25. Dezember und enden am 6. Januar. In den Häusern wird geräuchert und orakelt, Kerzen werden angezündet. Mancher macht sich Gedanken darüber, was er sich für das kommende Jahr wünscht.
Die Wünsche werden auf verschiedene Zettel geschrieben. Was möchten wir im nächsten Jahr verwirklicht sehen? Am Ende werden dreizehn Zettel zusammengefaltet. Während der Raunächte werden sie Abend für Abend mit der Bitte verbrannt, sie mögen in Erfüllung gehen. Am Ende bleibt ein Zettel übrig. Er wird aufgefaltet. Hier steht, um welchen Wunsch wir uns selbst zu kümmern haben.
Zwischen den Welten
Die alten Traditionen, die bei den meisten in Vergessenheit geraten sind, mögen auf den ersten Blick etwas Seltsames haben. Der rationale, vernunftgesteuerte Mensch macht sich gerne über Menschen lustig, die an gute und böse Geister glauben, an Sternbilder und Orakel, an Geschichten von Verstorbenen, die mit den Lebenden in Verbindung treten. Doch jetzt, wo die Schleier dünn sind zwischen den Welten, wird auch die Weisheit sichtbar, die in den alten Bräuchen und Legenden steckt. Wir erkennen in ihnen eine verbindende, sinngebende Kraft, die uns in der heutigen Zeit fehlt.
Diese Kraft können wir wiederentdecken. Langsam und mit Besonnenheit. Wer erneut die Fäden der Verbindung zum Sinnlichen und zum Übersinnlichen aufnimmt, der findet in sich eine Geborgenheit, in der sich die Anspannungen des zu Ende gehenden Jahres auflösen können. In der stillen Zeit kann es wieder fließen. Der Körper entspannt sich und findet in ein neues Gleichgewicht.
So zieht sich nun warm an, wer Lust hat, und geht hinaus in die Nacht. Vielleicht hebt er den Kopf und sieht den Sternenhimmel über sich, tief, unendlich, leuchtend. Ein Licht wird geboren in dieser Zeit. Jahr für Jahr wiederholt sich das Wunder.
Dann, wenn die Dunkelheit am tiefsten ist, wenn wir dort angekommen sind, wo es nicht mehr weiterzugehen scheint, wird uns ein neues Leben geboren und mit ihm die Zuversicht, das tiefe Wissen darum, dass wir gut aufgehoben sind und uns wirklich und wahrhaftig entspannen dürfen in dieser Wunder-vollen Zeit.
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Quellen und Anmerkungen: