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Machen wir Schluss!

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Wenn wir transgenerationale Traumata besser zu verstehen lernen, verhindern wir, dass diese noch das Leben unserer Kinder und Enkel überschatten.

In meinem letzten Text habe ich über das aus meiner Sicht immens wichtige Thema Bindungs- und Entwicklungstrauma gesprochen und dabei auch den Begriff „Transgenerationales Trauma“ erwähnt. Wie das Bindungs- und Entwicklungstrauma gibt es dieses Thema in der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie nicht — obwohl ich fest überzeugt bin, dass hier ein weiteres riesiges Potenzial für Heilung unserer Gesellschaft liegt.

Was meine ich mit transgenerationalem Trauma? Hierbei handelt es sich um Traumatisierungen, die über Generationen weitergegeben werden — meist, ohne dass es jemals in das Bewusstsein der Betroffenen kommt und so natürlich auch nicht geheilt werden kann.

Unzählige Menschen wurden durch zwei Weltkriege in unserem Land in furchtbare, unmenschliche Lebenssituationen gebracht, sie wurden Zeuge oder selbst Opfer schlimmster Ereignisse.

Nun schauen wir uns an einem Beispiel an, wie transgenerationales Trauma wirkt und von Generation zu Generation weiterwandert:

Nehmen wir beispielhaft eine Frau — wie zum Beispiel meine Großmutter —, die schwanger, alleine mit kleinen Kindern und den Gedanken an ihren Mann, von dem sie nicht wusste, wo er war und ob er noch lebte, auf der Flucht war. Sie und ihre Mitflüchtlinge geraten während der Flucht mehrfach durch tief fliegende Bomber in Lebensgefahr, sie werfen sich in Gräben, verstecken sich panisch hinter Büschen. Sie stehen unter furchtbarem Stress, der Spiegel der Stresshormone in ihrem Blut geht durch die Decke.

Nun passiert etwas Entscheidendes: Da diese Stresshormone plazentagängig sind, gelangen sie in dieser hohen Konzentration ebenfalls in den Blutkreislauf des ungeborenen Babys. Es findet also bereits vor der Geburt eine Beeinflussung des hochsensiblen Nervensystems statt. Und dies wiederholt, oft über lange Zeit, häufig, ohne dass die Mutter durch ihre entsetzlichen Lebensumstände in der Lage gewesen wäre, sich selbst adäquat zu regulieren. Das kleine Neugeborene kommt also bereits mit einem Nervensystem auf die Welt, das durch die Erlebnisse der Mutter eine Prägung erlebt hat.

Unser autonomes Nervensystem — also das, was außerhalb des Einflusses unseres Verstandes unseren Körper am Laufen hält — ist von Grund auf schon darauf angelegt, unsere Umwelt auf Gefahren zu scannen. Das hat sich im Laufe unserer Evolution als sehr sinnvoll erwiesen — sind doch unsere Vorfahren dadurch möglicherweise dem Angriff eines Raubtiers erfolgreich entgangen, da sie es früh genug wahrgenommen haben. In der heutigen Zeit, in der uns solche Gefahren eher selten drohen, kann selbst ein vollkommen unversehrtes autonomes Nervensystem manchmal anstrengend sein, weil es permanent auf der Suche nach Gefahr ist und zum Beispiel jedes Geräusch als Bedrohung interpretiert, wenn man alleine im Dunkeln spazieren geht.

Kommen wir zurück auf das kleine, im Krieg oder kurz danach zur Welt gekommene Neugeborene, also möglicherweise einer unserer Elternteile: Sein Nervensystem ist durch die Erfahrungen im Mutterleib übermäßig auf Gefahr konditioniert. Nun zeigt sich durch das große Forschungsfeld der Epigenetik mehr und mehr, dass Erfahrungen sogar im Genom gespeichert und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können. Dies ist einer der Wege, auf denen die Kriegs- und Fluchterlebnisse unserer Großeltern sich noch in unserem Erleben niederschlagen können.

Ein weiterer Weg ist der, der sich auf das bezieht, worüber ich letzte Woche gesprochen habe, nämlich das Bindungs- und Entwicklungstrauma: Es ist mehr als nachvollziehbar, dass die Generation unserer Großeltern durch das, was in der Kriegs- und Nachkriegszeit geschah, nicht gerade in einem Umfeld lebte, das Sicherheit vermittelte. So ergibt sich logischerweise, dass sie häufig nicht in der Lage waren, ihre neugeborenen und kleinen Kinder und deren überempfindliches Nervensystem ruhig und empathisch zu besänftigen, ihnen also von außen die Sicherheit zu vermitteln, welche den Kleinen das eigene Nervensystem und der Verstand noch nicht geben konnten.

Kurz gesagt:

Viele Menschen meiner Generation sind mit Eltern aufgewachsen, die ein übersensibles Nervensystem und wenig, wahrscheinlich eher gar keine Erfahrung mit eigener Regulation hatten.

Und leider gab es keinerlei Bewusstsein für die von mir beschriebenen Vorgänge. Es konnte also logischerweise keinerlei Reflektion über bestimmte Reaktionen und Handlungen erfolgen. Dadurch gab es in Familien vielleicht verbale Abwertungen, unreflektierte Glaubenssätze, die an die Kinder weitergegeben wurden, vielleicht auch körperliche Gewalt.

Zum Thema körperliche Gewalt noch eine kleine Anmerkung: Man hört immer wieder den Satz: „Ich habe als Kind auch hin und wieder einen Klaps bekommen, es hat mir nicht geschadet.“ Hier sollte man sich die Frage beantworten, ob man der Ansicht ist, dass ein selbstreflektierter, empathischer und in sich ruhender Erwachsener seinem Kind zur Bestrafung „einen Klaps“ geben würde, oder ob dies nicht eher ein Zeichen von mangelnder eigener Reflektion und Regulation dieses Erwachsenen ist.

Und vielleicht kann man sich eingestehen, dass es vielleicht „nicht geschadet“ hat, aber dass es etwas mit einem gemacht hat — und dass das wahrscheinlich nichts Gutes war. Gerade habe ich in einem Podcast von einer Studie von 2001 gehört, laut welcher 75 Prozent der damaligen Erwachsenen als Kind „körperlich gezüchtigt“ wurden. Eine andere Studie kommt zu dem Schluss, dass 50 bis 75 Prozent der Suchterkrankungen, Depressionen und Suizide mit traumatischen Kindheitserfahrungen in Zusammenhang gebracht werden.

Ich habe es schon in meinem letzten Text betont: Mir geht es hierbei in keiner Weise um Schuldzuweisung, sondern darum, in die Eigenverantwortung zu kommen und zu erkennen, wie Programmierungen über Generationen weiterwirken, und dass wir die Einzigen sind, die diese Programmierungen endlich in den Fokus nehmen können. Das Erkennen dessen, was hier möglicherweise schon seit langer, langer Zeit wirkt, ist der erste, große Schritt zu Transformation und Heilung.

Aus meiner Sicht haben wir gerade das erste Mal die Chance, dieses unreflektierte und meist vollkommen unbewusste Weitergeben von Konditionierungen und Handlungsmustern zu beenden. Durch zunehmendes Wissen über Trauma und durch das Thematisieren dessen, was die Generationen vor uns nicht in Worte fassen konnten, durch Bücher wie „Die vergessene Generation“ und „Kriegsenkel“ von Sabine Bode, „Kriegskinder“ von Hilke Lorenz oder auch „Heimat der Wölfe“ und „Die Wiedergutmacher“ von Raymond Unger kann jeder selbst Schlüsse über mögliche Zusammenhänge und den Einfluss auf seine eigene Biografie ziehen.

Meiner Meinung nach wird im Außen das Schüren der Angst momentan so auf die Spitze getrieben, dass genau das die Möglichkeit bieten kann, das Thema Bindungs-, Entwicklungs- und transgenerationales Trauma auch im eigenen persönlichen Umfeld anzusprechen und Menschen auf Aspekte ihres Wesens aufmerksam zu machen, die ihnen bisher völlig unbekannt waren.

Nutzen wir diese einmalige Gelegenheit, seien wir mutig und beenden wir das, was unsere Eltern und Großeltern sicher sehr gerne selbst getan hätten, wozu sie aber durch ihre Lebensbedingungen und die Tatsache, dass ihnen all diese Dinge unbekannt waren, nicht in der Lage waren: Geben wir das, was wir im Inneren gespeichert haben, nicht länger an unsere Kinder und Mitmenschen weiter, sondern wenden wir uns den verletzten Anteilen in uns empathisch zu und lassen wir sie heilen.


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