Kann man der Staatsmacht glauben, den Medien? Gibt es Staatsterrorismus, oder ist dieses Denken eine Vorliebe der Verschwörungstheoretiker? Der Autor versucht in dieser Kurzgeschichte, der Unsicherheit und den Zweifeln der Menschen eine Stimme zu geben. Was passiert, wenn man niemand mehr glauben kann? Wenn die Institutionen in sich allein dadurch, dass Menschen in ihnen arbeiten, totalitär werden, weil sie in Gemeinschaften dazu neigen? Kann es sein, dass Menschen skrupellos eingesperrt, verfolgt, umgebracht werden und die, die daran beteiligt sind, völlig gleichgültig bleiben? Haben sie überhaupt ein schlechtes Gewissen, und wenn ja, wie drückt sich das aus?
Im Allgemeinen glaubt man ja, dass Menschen in der Summe gut sind und, wenn sie etwas Schlimmes tun, es verdrängen müssen, damit sie weiterleben können. Diese Verdrängung bestimmt ihr Leben. So die Theorie. Gibt es diese Verdrängung überhaupt, oder ist sie eher ein schwarzes Loch, in das sie fallen, um selbstvergessen wieder hinauszuklettern und in Berchtesgaden oder auf Mallorca Urlaub zu machen? Ist es so einfach? Und was bedeutet das für die Menschheit, für uns, für dich und mich? Mann, Frau, Kind? Wir haben keine Antwort, das ist gewiss. Und das ist eine Bankrotterklärung für das Geistesleben einer Gesellschaft. Es müssen andere Fragen gestellt werden.
Es ist wichtig, wieder im Nebel zu stochern, das Undenkbare zu denken, das Unglaubliche zu formulieren und — wie es der Physiker und Naturphilosoph Hans-Peter Dürr sagt — uns Geschichten zu erzählen, als wären wir Kinder, die neugierig und mit großen Augen auf diese Erzähler warten.
Es war nichts geschehen. Alle haben später viel darüber gelesen, aber in Wirklichkeit war nichts geschehen. Besonders Leute, die in schmalen Straßen wohnen, die ihr Gegenüber genau beobachten können, besonders diese Leute hatten geglaubt, dass irgendetwas geschehen war. Doch im Nachhinein konnte man sie beruhigen, denn es ist wirklich nichts gewesen.
Auch wenn die Polizisten so sprachen, als wäre irgendetwas nicht in Ordnung, denn der eine oder andere von ihnen hatte zu oft an seinen Hemdkragen gefasst. Es muss ja auch nichts Großes gewesen sein, denkt sich mancher in eine Beruhigung hinein, aber es kann doch nicht sein, dass nichts geschehen und die Polizei da ist. Aber in Wirklichkeit ist nichts gewesen.
Man hat auch nichts gesehen oder gehört. Man ist weiter einfach nur die Straßen auf und ab gegangen oder hat vor dem Fernseher gesessen und einen Apfel gegessen. Eine Frau hat vielleicht geduscht und ein Mann seine Fingernägel geschnitten. Vielleicht hat noch ein Kind ein Glas Orangensaft umgestoßen, aber sonst?
Wieso fährt dann die Polizei nicht wieder davon, warum bleibt sie so lange? Warum sind nun auch diese Kommissare hier? Wird ein Schwerverbrechen vermutet, ein schlimmes Delikt? Gibt es womöglich einen Toten oder vielleicht sogar mehrere? Oder gar eine Kindesentführung?
Als ein Mann, wohl einer dieser Kommissare, für kurze Zeit vor eine Tür tritt, sagt er mit ruhigem, aber strengem Ton, dass nichts gewesen ist, man solle sich endlich beruhigen, sie würden auch bald wieder abziehen. Dabei lächelt er ein wenig, und man glaubt ihm sofort kein Wort. Aber es kommt noch eine Frau hinzu, die sich zwischen Tür und Angel zu dem Kommissar hingeschlichen hat. Sie hat einen großen Mund und auch viel zu erzählen. Sie spricht von einem Hintergrund, der nicht wichtig ist, auch sonst gäbe es keine Zusammenhänge zu irgendetwas, und überhaupt, man solle diese endlosen Spekulationen endlich sein lassen, denn sie führten ja sowieso zu nichts. Dann schüttelt sie dem Kommissar die Hand, sucht den Blickkontakt zu einer Person, die weit von ihr entfernt lässig an einer Laterne lehnt, neigt den Kopf kurz und scharf in deren Richtung, und der Mann setzt sich darauf wie aufgescheucht in Bewegung. Kurz darauf verschwinden der Kommissar und die Frau wieder hinter der Tür.
So entsteht ein seltsames Gefühl, ein Gefühl, das sich bei allen Beteiligten einschleicht. Dieses Gefühl besagt, dass eigentlich nichts gewesen ist. Doch warum verhalten sich die Beteiligten, wie sie sich verhalten? Was hat sie dazu gebracht, ihre Rolle einzunehmen?
Diese müssen sie nämlich einnehmen, wenn es eine Bedrohung gibt, weil es ihr Beruf ist, obwohl eigentlich nichts gewesen ist. Was oder wer hat sie dazu gebracht?
Dann sieht man, wie ein Autobus zum Stehen kommt. Aus ihm springen drei große Schäferhunde, an ihnen halten sich drei Polizisten fest. Ein lautes Bellen hallt durch den Abend, und manche von den Schaulustigen machen sich auf den Heimweg.
Denn Schaulustige fühlen sich oft als Täter, und wenn Hunde ins Spiel kommen, dann suchen viele das Weite, denn in der Reichweite ausgebildeter Spürhunde ist man nicht gewiss, nicht doch für einen Täter gehalten zu werden.
Der Führer der Hundestaffel ist aus dem Autobus gestiegen und hat sich Handschuhe angezogen. Er ist groß und von breiter Gestalt. Sein Gesicht ziert ein grauer Vollbart, und sein Mund ist vor Anstrengung ganz rot. Er sagt, nachdem er einige Schritte getan hat, dass nichts gewesen ist, er möchte nur nach dem Rechten sehen, denn sein Chef, ein sehr korrekter Mann, nebenbei gesagt, habe ihn beauftragt, dies zu tun.
Aber warum, fragt ein unbeteiligter Passant, sollen Sie nach dem Rechten sehen, wenn doch gar nichts gewesen ist? Und es sind doch schon so viele Polizisten da, die Kommissare nicht zu vergessen. Und ist die Frau nicht eine Staatsanwältin? Das kann schon sein, sagt der Hundeführer und grault seinen grauen Bart, aber Genaueres wisse er nicht. Mein Chef hat zu mir gesagt, eigentlich sei nichts gewesen, aber trotzdem solle ich mal nach dem Rechten schauen, und das habe ich getan. Im Übrigen möchte ich jetzt keine Fragen mehr beantworten, denn es handelt sich schließlich um ein schwebendes Verfahren. Er geht schnurstracks zu der Tür, wo auch der Kommissar und die Frau verschwunden waren, öffnet diese und schlüpft durch sie hindurch.
Und wenn es jetzt Nacht wird, was passiert dann mit den Spuren, werden sie noch irgendwann gefunden werden, zumal es keine Scheinwerfer gibt?, fragt ein anderer. Im Haus ist kein Licht zu erkennen. Alles liegt im Dunkeln, als wollten alle gleich zu Bett gehen. Angefangen von den Polizisten, den Kommissaren, der Staatsanwältin und dem Hundeführer. Es ist ja nichts gewesen, dann können sie sich auch schlafen legen, aber warum sie das nicht bei sich zu Hause tun, ist ein wenig ein Rätsel. Aber sie tun es offensichtlich nicht.
Von Weitem hört man ein Hundegebell, aber nicht so ein Hundegebell, dass man glauben könnte, die Hunde hätten etwas gefunden. Eher bellen sie so, als ob sie ein Stück Fleisch hingeworfen bekommen haben. Vielleicht sind sie schon für ihre Arbeit belohnt worden, vielleicht haben sie ja auch nichts gefunden, vielleicht wissen sie gar nicht, wonach sie suchen sollen, auf jeden Fall verstummt auf einmal das Hundegebell. Es scheint ihnen zu schmecken.
Man hört schon vereinzelt Menschenstimmen, leise, hinter verborgener Hand. Verdächtigungen werden ausgesprochen, kleine Rätsel aufgegeben. Manche denken sich, wenn schon die Staatsmacht nichts tut, so tun wir etwas. Die Stimmen werden auch ein wenig lauter, ungehaltener, fast schon wütend.
Es kann doch nicht sein, dass da nichts gewesen ist. Da muss irgendetwas passiert sein. Sie rotten sich zusammen, holen Prügel aus ihren Westentaschen, werfen ihre Haare zurück und gehen voller Energie auf die Türe zu, hinter der die Staatsmacht verschwunden ist. Davor bleiben sie stehen.
Vereinzelt werden Rufe laut. Zeigt euch, heißt es. Sagt uns, was passiert ist, wir wollen es wissen. Es ist unser Recht, alles zu erfahren, was in unserem Land vorgeht. Erste Steine werden geworfen, Scheiben zerbersten, an Türen werden Riegel vorgeschoben. Dann entsteht eine kurze Stille, in ihr hört man das Flüstern hinter der Tür, ein Schlüssel dreht sich im Schloss, und von hinten fallen plötzlich Polizisten auf die Aufrührer ein und bringen sie schnell zum Schweigen. Einzeln werden sie in einen Gefängnisbus gezerrt.
Was für ein Aufwand, sagt die Staatsanwältin zum Kommissar, obwohl doch eigentlich nichts gewesen ist.

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