Hör auf zu heulen. Stell dich nicht so an. So schlimm wird es ja wohl nicht sein. Wie wohl die meisten Menschen unserer Gesellschaft wurde ich dazu erzogen, von klein auf die eigenen Schwächen und Verletzungen wegzudrücken. Sie waren nicht erwünscht, überflüssige Begleiterscheinungen der kindlichen Entwicklung, die überwunden werden mussten. Indianer kennen keinen Schmerz und gute Kinder machen aus einer Mücke keinen Elefanten.
Heute wie gestern sind Eltern oft mit anderem beschäftigt, als sich um die Tränen ihrer Kinder zu kümmern. Und da jedes Kind seinen Eltern gefallen will – schließlich hängt ja sein Überleben davon ab – versucht es, seine Schwächen und das, was den Eltern missfällt, eben so gut es geht zu verbergen. Dieses Verhalten geben wir als Erwachsene dann auch an unsere eigenen Kinder weiter. Schließlich kann ich niemandem etwas vermitteln, was ich in mir selbst nicht erfahren habe.
Stein um Stein
Auch ich habe es nicht gelernt, mit meinen Schwächen und meiner Verletzlichkeit umzugehen. Ich versuchte vor allem, möglichst nicht aufzufallen, keine Probleme zu machen und niemanden zu enttäuschen. Auch als ich krank wurde, gönnte ich mir zunächst keine Pause. Einen Tag nach meiner ersten Chemotherapie schob ich mit dem Staubsauger durchs Haus und beruhigte jeden um mich herum: Macht euch bloß keine Sorgen um mich!
Ich wollte so weitermachen wie bisher. Durchhängen konnten andere. Ich war stark. Anstatt um Hilfe zu bitten, fragte ich, ob der andere gerade Lust hat, den Müll runterzubringen. Bloß nicht durchscheinen lassen, dass ich mich schwach fühlte! Bloß keine Abhängigkeiten zeigen und zur Last fallen! Bloß dem anderen immer einen Schritt voraus sein im Schaffen und Machen und dabei ein gutes Gewissen haben?
Schwäche zu zeigen war für mich, als risse man mir in der Menge die Kleider vom Leib, als stiege ich nackt in das Eismeer, als begäbe ich mich ungeschützt in die Löwengrube. Wie die Geier auf das Aas würden sich die anderen auf die dargebotene Wunde stürzen und mich im Handumdrehen vernichten. Keinen Fuß mehr würde ich an den Boden bekommen, wenn ich mich so zeige, wie ich mich gerade wirklich fühle. Niemand würde mich mehr achten, wenn ich mir die Blöße gäbe, schwach zu sein.
Also zog ich mich dick an, Schicht um Schicht. Um das Zarte, Empfindliche, Kleine in mir zu verstecken, zeigte ich nach außen hin Zähne. Ich versuchte, meinen Kummer wegzulächeln und mir möglichst nichts anmerken zu lassen. Ich tat so, als berührten mich die Dinge nicht und versuchte, meine Verletzungen hinter geschäftigem Treiben oder Freundlichkeit zu verbergen. Bloß nicht negativ auffallen. Bloß niemandem auf die Füße treten. Bloß von allen gemocht werden.
In dieser Verkleidung wurde auch das authentische Einander-Begegnen immer schwieriger. Einige konnten das Stehaufmännchen, das ich vorgab zu sein, nicht mehr richtig ernstnehmen. Meine Versuche, meine Schwäche nicht durchscheinen zu lassen, wurden von anderen immer wieder als eine Form von Aggressivität empfunden und mir entsprechend gespiegelt. Und ich verstand die Welt nicht mehr.
An die Hand nehmen lassen
Eine gute Gelegenheit, sich aus diesem Gefängnis zu befreien, ist ein unerwartetes Lebensereignis, das einen aus der Bahn wirft. Da wackelt das Gemäuer und droht, in sich zusammenzustürzen. Ganz benommen stehen wir da und trauen zunächst unseren Augen nicht. Wie kann das sein!? Zweifel kommen auf und alte Gewissheiten werden durcheinander geworfen.
Durch die entstandenen Risse und Brüche fällt Licht ins Dunkel. Wenn sich dann der Qualm legt, dann steht da vielleicht jemand. Er ist nicht vorbeigekommen, um seine Blumen, sein Mitleid oder seine guten Ratschläge abzuliefern und sich gleich wieder aus dem Staub zu machen. Kopf hoch. Halt die Ohren steif. Das wird schon wieder.
Vielleicht hat dieser Mensch den Mut, sich eine Weile zu uns zu setzen. Nicht, weil er uns mit seinen Geschichten aufzumuntern und abzulenken versucht oder weil er sich selbst ein gutes Gewissen verschaffen will, wenn er einem Schwächeren die Hand hält. Er ist einfach da, präsent. Er erwartet nichts. Er kommentiert nicht, interpretiert nicht, analysiert nicht. Er hört einfach zu. Er tut nichts, als sein Herz zu öffnen und eine Begegnung von Mensch zu Mensch zu ermöglichen, die beide Seiten nährt.
Gegensätze zusammenführen
Seitdem ich diese Art von Begegnung erfahre, wehre ich mich immer weniger gegen meine eigene Schwäche. Stark und schwach stehen sich in meinem Denken nicht mehr einander ausschließend gegenüber, sondern fließen ineinander und ergänzen sich gegenseitig.
Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Die Schwäche braucht die Stärke, denn ohne sie fehlte uns die Energie, uns aufzurichten und in Aktion zu treten. Doch die Stärke braucht auch die Schwäche. Ohne sie würden wir innerlich verhärten. Ohne den Hauch der Sanftheit und Milde, den die Schwäche mit sich bringt, würden wir unnahbar, selbstgerecht, hochmütig, unmenschlich, kalt.
Erst die Anerkennung unserer Schwäche macht uns weich, biegsam und offen für andere. Sie erst macht uns menschlich. Denn sie öffnet unser Herz. Sie ermöglicht es uns, wirklich miteinander in Verbindung zu treten. Nicht mit stolzgeschwellter Brust und perfekt frisiert, sondern zusammengekauert und ratlos in der Sofaecke. Hier erst wird tiefe Nähe möglich. Hier können wir spüren: ich bin wie du.
Erwachsen werden
Wir kennen alle die großen Wunden, die uns letztlich miteinander verbinden: abgewiesen und verlassen zu werden, sich erniedrigt und gedemütigt fühlen, ungerecht behandelt, verraten, kalt ignoriert. Es gibt wohl niemanden, der diese Verletzungen nicht erfahren hat und in sich trägt.
Doch anstatt unser Leben damit zu verbringen, diese Wunden vor uns und anderen zu verbergen, können wir anfangen, aufeinander zuzugehen: Wie fühlt es sich bei dir an? Wir können versuchen damit aufzuhören, die anderen für unsere Verletzungen verantwortlich zu machen und uns immer wieder dieselben Geschichten zu erzählen. Wir können die so gewonnene Zeit damit verbringen, uns liebevoll um unser Innenleben zu kümmern.
Das bedeutet es für mich, erwachsen zu werden. Wir lösen uns von den Vorwürfen an unsere Eltern, unsere Familie, an all die anderen, die uns einst unsere Schwäche haben spüren lassen, und nehmen uns selbst unserer an. Wir werden sozusagen uns selbst Mutter und Vater, bereit, gemeinsam das weinende Kind anzuhören und in den Arm zu nehmen, was auch immer gerade sein Kummer ist.
Wem das gelingt, der wird Zugang zu einer großen inneren Stärke finden. Keine laute, aufgeplusterte, egozentrische und letztlich illusorische Stärke, wie sie uns im Politspektakel täglich vor Augen geführt wird. Keine Stärke, die sich auf andere stützt oder andere erniedrigt, um sich selbst größer zu machen. Sondern eine Stärke, die ihre Kraft aus dem Bewusstsein der eigenen Schwäche und Begrenztheit nährt.
Schwäche(n) annehmen
Ich habe beschlossen, das zu üben. Das ist nicht einfach für jemanden, der so unnachgiebig und störrisch sein kann wie ich. Immer noch habe ich Schwierigkeiten, andere um einen Gefallen zu bitten, die Geste eines anderen als ein Geschenk anzunehmen oder mich in einer Auseinandersetzung schwach zu zeigen. Aber das ändert sich langsam.
Seit ich versuche, meine Schwächen zu identifizieren und anzunehmen, muss ich nicht mehr bei anderen gucken, wo sie ein Problem haben. Ich muss mich nicht mehr rechtfertigen und verteidigen. Ich mache weniger Vorwürfe, lästere und beklage mich weniger und beziehe nicht mehr alles auf mich.
Ich fühle mich ungeheuer erleichtert, wenn es mir gelingt, anderen die Verantwortung für ihre eigene Stimmung zu lassen. Was der andere fühlt und denkt liegt nicht an mir. Ich kann nur dafür sorgen, die Verantwortung für meine eigenen Gefühle und Gedanken zu übernehmen und voll und ganz zu ihnen zu stehen, ob sie mir nun gerade passen oder nicht.
Langsam wird das Üben des Annehmens dessen, was ich zunächst nicht in mir haben will, zu einer Art Spiel. Ja, ich kann mutlos sein, schlapp und frustriert. Ich kann feige sein und egoistisch, kleinlich, selbstmitleidig, rechthaberisch, ungerecht, eifersüchtig und nachtragend. Doch immer dann, wenn ich mir das in der Situation eingestehe, in der mich etwas oder jemand darauf hinweist, geschieht ein Wunder: Die Anspannung löst sich und Frieden tritt ein.
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