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Lasst endlich die Kinder in Frieden!

Lasst endlich die Kinder in Frieden!

Die überbehütende Art, wie Eltern, Schule und Politik unseren Nachwuchs behandeln, dient nur dazu, sie perfekter abrichten zu können.

Bei einer sehr geschätzten Kollegin las ich neulich, zur Einschulung ihrer Tochter vor dreißig Jahren sei die Frage der Schulreife danach bemessen worden, ob das Kind in der Lage war, selbständig den Weg zur Schule und danach auch wieder nach Hause zu finden. Das fand ich lustig, weil dieses Kriterium heute keine Rolle mehr spielen könnte: Wo auch immer der Nachwuchs hinmuss — Mama oder Papa sorgt zuverlässig für Just-in-time-Anlieferung und -Abholung per SUV-Panzer beziehungsweise Elektro-Fahrrad-Supertruck. Notfalls — wenn die Elitenheranzüchtungsanstalt weniger als hundert Meter entfernt ist, tut es auch ein fahrbares Einzelterrarium mit der ehedem rechtsextremen Aufschrift „Thule“. Der Bams, behelmt und angeschnallt, darf derweil aufs Tablet starren und vegane Hirnwurst mampfen und braucht keinerlei Ahnung zu haben, wo er sich gerade befindet und wieso und wozu.

Lustig fand ich an der Geschichte aber auch, dass das zur Zeit meiner eigenen Einschulung noch mal zwanzig Jahre früher wiederum ganz anders war: Da musste man zur Einschätzung der Schulreife mit der rechten Hand das linke Ohr finden und ein Kritzelbild von einem Haus als „Haus“ bezeichnen. Den Weg von Obergiesing-Ost nach Obergiesing-Mitte hätte ich zwar problemlos alleine gefunden — ein guter halber Kilometer, selbst in Hühnerdapperln binnen einer Viertelstunde zu schaffen und zudem nach drei Jahren Kindergarten in die Füße sozusagen eingeschrieben —, aber das musste ich ja gar nicht.

Schon beim Start an unserem Doppelwohnblock standen sechs bis neun Kinder bereit, die — ergänzt durch einige Pioniere aus dem Schlierseeblock — loszogen, sich unterwegs zur regelrechten Meute erweiterten und fröhlich singend, rangelnd und blödelnd zur St.-Martin-Schule eher schlenderten als eilten, weshalb der ganze Zug auch mal eine halbe Stunde dauern konnte. Die wenigen, die schon radelten oder mit dem Kettcar cruisten, waren keine Minute schneller — da hätten sie ja alleine fahren und sich langweilen müssen und zudem nichts von den aktuellen Nachrichten, Klatschgerüchten und Witztrends erfahren. Eltern waren übrigens nie dabei — die hatten auf einem Schulweg nichts verloren, und außerdem mussten sie um halb acht Uhr früh sowieso größtenteils arbeiten.

Die Rudelbildung setzte sich in sozusagen differenzierter Form über den Tag hinweg fort. Auf dem Pausenhof standen Rotzlöffel wie ich öfter mal im Strafkreis, umringt von „Ätschibätsch“-Zungenbleckern und „Hi hi hi“-Bewunderern, ansonsten jagte man sich in Horden gegenseitig beim Fangamandl, schlug sich beim Purzeln und Stürzen Ellenbogen und Knie — und zum Leidwesen der Mütter auch Hosen und Hemden — auf, stürmte die verbotene Wiese, kletterte über Stacheldraht und Lattenzaun. Die Verwegeneren sammelten sich im streng verbotenen Gebüsch, um die Flucht zum Mississippi zu planen, und ein paar standen einfach so herum und nuckelten an ihrer Milchtüte, was der Rest der Bagage manchmal seltsam fand.

Nach der Schule polterten wir in wildem Durcheinander die Treppen hinunter zum Hort, wo sich dann bis zum späten Nachmittag auch kaum anderes tat: Man spielte wahlfamilienweise mit Puppenkindern, tobte am Kicker, benutzte Matchbox-Autos als Raketen, raufte um Gummischlümpfe, und wenn das Wetter schön genug war, verwandelte sich der gesamte Schulhof samt Wiese in einen entfesselten Rummelplatz. Die damals noch „Frollein“ genannten Erzieherinnen feilten sich derweil die Nägel, rauchten nikotinarme Filterzigaretten, lasen moderne Zeitschriften und schritten höchstens mal ein, wenn jemand halbnackt in die Brennnesseln geschmissen oder mit dem Kopf voran im Sandkasten vergraben wurde.

Zwischendurch schrieb man gegenseitig Hausaufgaben ab und unternahm gelegentliche Vorstöße ins Schwerverbotene, indem man aus dem Gelände sozusagen ausbrach, um sich nebenan im Lebensmittelladen von Frau Zittner mit Lutschmuscheln, Gummischlangen und Brausestangen zu versorgen.

Ich muss gestehen, dass mir der Trubel oft zu viel wurde, weshalb ich mich einfach davonschlich und lieber spazierenging oder allein den Giesinger Berg hinab ins Schyrenbad oder an die Isar radelte. Na gut, letzteres nicht immer allein.

Es war eine schöne Zeit, in der freilich nicht alles schön war. Es gab böse ältere Kinder, die einem das Radl demolierten, den Revolver klauten und uns als Probanden für rätselhafte Ohnmachtsspiele missbrauchten. Manchmal geriet man auch an einen Hausmeister, der es nicht dulden wollte, dass man vor Bürofenstern Fußball spielte, aus Pappkartons ganze Dörfer errichtete und sich in den Radlkeller zurückzog, um die in einem von Rockern aufgebrochenen Zigarettenautomaten hinterlassenen Roth-Händle zu rauchen. Die meisten Kinder wurden irgendwann von Autos an- oder überfahren.

Aber schön war an der Zeit vor allem, dass wir Kinder ungefähr von sieben Uhr früh bis sieben Uhr abends weitgehend tun und lassen konnten, was wir wollten. Das erwies sich im Laufe der Jahre allerdings als bedenklich.

Der erste, der dies feststellte, war ein Chorlehrer in der sechsten Klasse, der mich und meinen damals besten Freund recht treffend als „kaugummikauende Hinterhoftypen“ bezeichnete und nach diesem Argument auch unsere — wahrscheinlich recht mediokren — Gesangsleistungen bemaß. Vor allem aber stellte sich hin und wieder und mit der Zeit immer öfter die Frage: Was soll aus diesem Geschwerl mal werden? Als uns in der neunten Klasse — die wir aufgrund anderer Interessen und schönen Wetters schon viel weniger häufig besuchten als die sechste, aber noch häufiger als ich den alten Hort — als uns da ein „Berufsberater“ heimsuchte und wissen wollte, was wir mal werden wollten und wie wir uns die Zukunft vorstellten, antwortete ich wahrheitsgemäß, ich wolle lieber bleiben, was ich bin, und die Zukunft sei mir relativ egal, solange alles im Prinzip so weitergehe wie bisher.

Da war ich aber an den Falschen geraten: Ich würde mein blaues Wunder erleben, tönte er, und derlei Träumereien vom Wolkenkuckucksheim könne ich mir abschminken, das Leben sei kein Zuckerschlecken und so weiter und so fort.

Selbstverständlich waren wir uns hinterher im Pausenhof einig, dass es sich bei dem grauen Typen, der von seinem Leben offenbar selber so enttäuscht war, dass er Kindern Angst machen musste, um seinen Frust zu kompensieren, um einen billig getarnten Agenten der kapitalistischen Weltverschwörung handelte, die Proletariern das Hirn absaugt, um sie als Lohnarbeitssklaven ausbeuten zu können.

Aber ein paar Gedanken machte ich mir im Nachgang doch, und im Laufe meines Lebens wurden es immer mehr: Um so leben zu können, wie ich mir selbst das wünschte und vorstellte, würde ich vor allem vermeiden müssen, auf das verlogene Geschwätz der Erwachsenen (später: „des Systems“) und ihre zielgerichteten Drohungen und versteckten Missbrauchsversuche hereinzufallen. Das hieß vor allem: höllisch aufpassen, weil es einen dauerhaft wirksamen Schutz vor unbewusster Anpassung nicht gab und gibt — um Udo Lindenberg zu zitieren: „In jeder Kurve lauert der Tod!“

Also habe ich die folgenden Jahrzehnte damit zugebracht, immer mal wieder nein zu sagen, zu lesen, nachzudenken, weiterzudenken, Schlüsse zu ziehen, zu kritisieren, zu studieren und zu verwerfen, Entscheidungen zu treffen, Wege zu suchen und alles und jedes immer wieder aufs Neue in Frage zu stellen, abzuwägen, zu bewerten, zu zerrupfen, abzulehnen und noch mal zu überdenken. Das hört sich wahnsinnig anstrengend an, aber lustigerweise war es genau das Gegenteil: In Wirklichkeit bin ich jahrzehntelang faul, spontan und ohne Interesse an irgendeiner Art von Planung und Strategie durchs Leben flaniert; und immer wenn jemand meinte: „Das muss sein!“, habe ich — meistens ohne es zu merken — mein Bauchgefühl gefragt: Muss es das?

Die Antwort lautete fast immer: Ach wo. Falls das Bauchgefühl mal versagte oder unsicher war, half eine Analyse, die freilich im Laufe der Zeit auf einem wachsenden Felsgebirge von Erfahrung gründen konnte.

Eine Summe könnte lauten:

Was auch immer man dir als „nötig“, „zwangsläufig“, „unausweichlich“ und neuerdings „alternativlos“ vor die Nase hält, ist Quatsch. Der Quatsch kommt aus dem Off, er ist schädlich. Wenn du drauf reinfällst, kommst du nur schwer wieder raus, und niemand schützt dich davor, drauf reinzufallen.

Damit wären wir wieder beim Schutz, der als Modewort unserer Epoche durch sämtliche Lebens- und Weltbereiche rumpelt wie ein ausgehungerter Hai. Egal was wir heute angeblich tun, vermeiden, ignorieren, glauben, befolgen, installieren, akzeptieren, nachplappern, abgeben, hinnehmen, einstecken, wählen, vermeiden, hassen und so weiter sollen beziehungsweise müssen, dient laut Auskunft der Lebensplaner und -schützer ausschließlich unserem „Schutz“ — und selbstverständlich dem „Schutz“ der „Gemeinschaft“, die man aus Gründen der historischen Verschämung noch nicht wieder „Volksgemeinschaft“ nennt.

Da kommt’s aber her: Der „Schutz“ als alle Lebensbereiche durchziehendes Gesamtkonzept war ein propagandistischer Grundpfeiler des sogenannten „dritten Reichs“ und sollte schon damals ausschließlich dazu dienen, sämtliche Volksgenossen so strikt und streng aus-, ein- und abzurichten, dass man sie schließlich zu ihrem eigenen „Schutz“ nach Stalingrad, zur Verwaltung von Vernichtungslagern und in den Volkssturm schicken konnte.

Heute erzählt man uns, die Aufstellung von US-amerikanischen Atomraketen, die in drei Minuten Moskau oder gleich ganz Russland in eine unbewohnbare Wüste verwandeln können, diene unserem „Schutz“, ebenso wie gentechnische Giftbrühen, die man uns am liebsten im Monatsrhythmus in die Adern spritzen möchte.

Und da sind die Kinder die — Verzeihung — Deppen und — Verzeihung zwei — armen Schweine. Was jeder wissen könnte (aufgrund lebenslänglicher Abrichtung aber nicht wissen will), das können die nämlich wirklich noch nicht wissen.

Sie haben keine Ahnung, dass der sogenannte „Schutz“ ein kolossales, epochales Gesamtverbrechen ist. Sie können nicht beurteilen, was kriminelle Ärzte unter Duldung ihrer verängstigten Eltern ihnen in den Körper pumpen. Sie wissen nicht, dass der Atomkrieg, den man ihnen als geiles Computerspiel andrehen möchte, nur ein paar Minuten dauert und dass sie sein Ende höchstens noch als halblebendiger Schleimbatzen in der postirdischen Hölle erleben werden.

Sie können nicht wissen, was ein „Klima“ ist und dass es nichts gegen ein Klima hilft, sich auf Flugzeuglandebahnen und Hauptstraßen festzukleben. Sie können auch nicht wissen, dass hinter diesem absurden Theater lediglich böswillige Interessensgruppen und fanatische religiöse Sekten stecken.

Sie können nicht wissen, dass die Plastikfetzen, die man ihnen jahrelang ins Gesicht geschnallt hat, schädlich waren, dass die blödsinnigen Plastikhelme, die sie sich zum Radeln auf den Kopf pfropfen sollen, absolut nutzlos sind. Sie wissen nicht, dass ihre Eltern eventuell Idioten sind — weil sie sich auf sie verlassen müssen. Sie sind nicht in der Lage zu begreifen, dass die dauernde Angstmacherei — Angst vor dem Wetter, vor Schmutz und Viechern, bösen Russen, Viren und Bazillen, Schnupfen und Mückenstichen, Angst vor allem und jedem und der Zukunft und perverserweise sogar davor, versehentlich die eigenen Eltern und Großeltern umzubringen —, dass all diese und andere Misshandlungen, denen man sie aussetzt, nichts und wieder nichts bewirken außer der Erzeugung gigantischer Milliardenvermögen, von denen sie nie etwas haben werden, und psychischer Verletzungen, Versehrungen und Verkrüppelungen, die sie nie wieder loswerden, ihr ganzes Leben lang. Sie können nicht beurteilen, ob etwas gut oder böse gemeint ist, und falls sie es doch schon können, dann dürfen sie es nicht — wegen eurer feigen Angst, man könnte euch für „Querdenker“, „Leugner“ oder irgend so was halten. „Was sollen die Nachbarn denken!“

Drum bitte ich ganz höflich: Lasst einfach die Kinder in Ruhe. Wenn ihr Erwachsenen schon nicht in der Lage seid, zu durchschauen, was in euch und um euch herum passiert, dann badet das gefälligst selbst aus.

Hört endlich auf damit, eure Paranoia, eure Neurosen, Psychosen und Zwangsstörungen an wehrlosen Unmündigen abzureagieren. Eure Kinder können nichts für eure Dummheit, Vernageltheit, für euren blinden Gehorsam, eure Borniertheit und euer mangelndes Interesse an allem, was einen Millimeter über die Befehle des Regimes hinausgeht.

Es ist klar, dass man von einer komplett fremdgesteuerten, strammgezogenen, dauerhaft infantilisierten, indoktrinierten und verblödeten Generation nicht erwarten kann, dass sie Verantwortung übernimmt oder weise Ratschläge gibt. Darum haltet euch wenigstens raus. Denkt — falls das geht — vielleicht mal an eure Urgroßeltern, die in ähnlichen mentalen Zuständen wie ihr Millionen Kinder in lächerliche Uniformen gesteckt, ihnen blödsinnige Handbewegungen und Grußformeln beigebracht und sie letztendlich als „letztes Aufgebot des Führers“ in den massenhaften Tod geschickt haben.

Erspart ihnen das. Lasst sie einfach in Frieden. Dann werden die Kinder — selbst wenn eure behuldigten Führer den ganzen Laden, den wir Welt nennen, in den Graben reiten und nachhaltig kaputtmachen oder vielleicht sogar insgesamt in die Ewigkeit des Vergessens sprengen — vielleicht anfangen nachzudenken, in Frage zu stellen, eure Vergehen und Verbrechen aufzuarbeiten, eigene, neue Wege zu suchen und zu finden. Und dann hat diese Welt vielleicht doch noch eine Chance.

Das hat übrigens ansatzweise schon mal ganz gut hingehauen: als nämlich die Generation meiner Eltern, die in einen ähnlichen Schlamassel hineingeboren wurde wie eure Kinder heute, nach 1945 und insbesondere ab Mitte der Sechziger versuchte, herauszubekommen, was da eigentlich passiert war von 1933 bis 1945 und wieso danach genau dieselben Figuren auf genau denselben Richterstühlen, Parlamentshockern und Ministerposten saßen. Viel ist dabei letzten Endes nicht herausgekommen, wie wir heute leider sehen.

Aber vielleicht kommt das nächste Mal, wenn eine neue Generation von Rotzlöffeln, Bamsen und Tracken heranwächst und sich fragt, was dieser ganze Wahnsinn eigentlich soll, mehr heraus. Gebt ihnen eine Chance.


Belästigungen #27: Laßt endlich die Kinder in Frieden!

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