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Ein Sonnenuntergang

Ein Sonnenuntergang

Ähnlich dem kosmischen Phänomen der „Roten Riesen“ schwillt auch der Kapitalismus vor seinem Untergang noch einmal mächtig an.

Dies aber nicht mit der Absicht, den Verlauf der Geschichte zu antizipieren. Es ist eine Gedächtnisstütze, um sich gegen die zu erwartenden ökonomischen, sozialen und geopolitischen Schocks zu imprägnieren, die den Krisenmodus des Kapitalismus begleiten, und sich zum anderen ein Instrument sozialer Macht in Erinnerung zu rufen, dessen Wirksamkeit Étienne de La Boétie (1530 bis 1563) in seinem Essay „Discours de la servitude volontaire“ (1) beschrieb: die Tyrannei des einen endet, wenn man ihm nichts mehr gibt.

Die Scheidung als Anfang

Die kapitalistische Wirtschaftsordnung hat sich über die Jahrhunderte hinweg in klar unterscheidbaren Phasen entwickelt. Karl Marx (1818 bis 1883) und Wladimir Lenin (1870 bis 1924), der sich intensiv mit dem Imperialismus auseinandersetzte, haben sie sehr präzise herausgearbeitet. Von der ursprünglichen Akkumulation über die Industrialisierung bis zum Imperialismus, dem der Parasitismus eigen ist, wie es Lenin formulierte (2), zeigten sie die ökonomischen, sozialen und politischen Dynamiken ebenso auf wie die inneren Widersprüche, die den Kapitalismus prägen, ihn von einer Krise in die nächste taumeln lassen und ihn schließlich zerreißen. Wegen der politischen und ökonomischen Entwicklungen in der Gegenwart verdient seine Endphase besondere Beachtung.

Wegen des zeitlichen Abstands und unter anderem der herausragenden sozialen und technologischen Errungenschaften, die der Kapitalismus zweifelsfrei hervorbrachte, ist es unstrittig, dass sich insbesondere im globalen Norden, dem ursprünglichen Kerngebiet des Kapitalismus, die Gesellschafts- und Wirtschaftsverhältnisse „positiv“ veränderten.

Dass kolonialistische Raubzüge, blutige Arbeitskämpfe, gewaltsame Revolutionen und vernichtende Kriege dafür notwendig gewesen sind, steht auf der Rückseite der Expertise.

Alles beginnt mit der ursprünglichen Akkumulation, der systematischen Trennung und Vertreibung der freien Bauern von Grund und Boden. Dieser gewaltsame Prozess der Enteignung, begleitet von Sklavenhandel und kolonialer Ausbeutung, den Grundlagen für die spätere kapitalistische Weltwirtschaft, zeigte sich am deutlichsten im 15. und 16. Jahrhundert in England. Karl Marx sieht darin eine der Voraussetzungen für die kapitalistische Produktionsweise. In seinem Werk „Das Kapital“ (3) schreibt er:

„Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation ist also nichts (anderes) als der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint als ‚ursprünglich‘, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet.“

Während sich Pächter und Großgrundbesitzer das Land aneigneten, wird das Proletariat geboren. Die ehemalige Landbevölkerung verwandelt sich in freie, das heißt besitzlose Lohnarbeiter. Sie sind Verkäufer ihrer Arbeitskraft. Die einsetzende industrielle Revolution trieb sie auf der Suche nach Arbeit in die Städte. Im 18. und 19. Jahrhundert erreichte der Kapitalismus seine Blütephase. Die Schornsteine rauchten. Fabriken wurden errichtet, neue Technologien steigerten die Produktion, Märkte expandierten, und das Kapital konzentrierte sich zunehmend in den Händen weniger. Die Arbeiterklasse, die den Wohlstand erschuf, lebte in Armut. Kinderarbeit und unmenschliche Arbeitsbedingungen waren an der Tagesordnung. Marx schreibt:

„Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, das heißt, auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert“ (4).

In seine Spätphase, in der Wirtschaftskrisen, der Kolonialismus und zwei Weltkriege seine zerstörerische Kraft offenbarten, trat der Kapitalismus im 20. Jahrhundert ein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stabilisierten sich die Industriestaaten unter anderem durch den Ausbau sozialer Sicherungssysteme, den globalen Handel, die hinter Entwicklungsprojekten versteckte Ausbeutung der Dritten Welt und die Auslagerung der Kriege in ferne Regionen.

Korea-Boom und Finanzkapitalismus

Zum Beispiel profitierte das lahmende „Wirtschaftswunder“ der Bundesrepublik Deutschland (BRD) signifikant vom Krieg in Korea (1950 bis 1953). Die als „Korea-Boom“ bezeichnete Phase, deren Effekte bis etwa Anfang der 1970er-Jahre nachwirkten, führte im Ausland insbesondere zu einer hohen Nachfrage nach Produkten für die Rüstung und im Inland zu steigendem Konsum. Die Produktionskapazitäten in der BRD wurden maximal ausgeschöpft, und die Wachstumsraten gingen durch die Decke. Sie lagen im Schnitt bei über 10 Prozent.

In Korea wurden die Städte derweilen mit Bomben und Napalm dem Erdboden gleichgemacht. Etwa vier Millionen Menschen, darunter rund eine Million Soldaten, wurden in diesem Stellvertreterkrieg, der nicht nur die bundesdeutsche Wirtschaft ankurbelte, umgebracht. Die Parallele zum Krieg in der Ukraine ist kaum zu übersehen.

Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus in den 1980er-Jahren begann eine neue Phase: Deregulierung, Privatisierung und die Schwächung sozialer Strukturen prägten die Politik.

Die Mittel der Ausbeutung wurden subtiler, das Klassenbewusstsein durch unzählige sozialökonomische Reformen, strukturelle Anpassungen und sprachliche Verdrehungen nahezu ausradiert. Unterdrücker und Unterdrückte wurden unter dem falschen Wir aus Sicherheit, Wohlstand und Konsum vereint.

Der Staat zog sich aus der Wirtschaft zurück, die Aktienmärkte, Investmentfonds und Ratingagenturen gewannen an Bedeutung, und Konzerne bauten ihre Marktmacht aus. Unternehmen verwandelten sich in Aktiengesellschaften und wurden in die Kapitalmärkte eingesaugt. Der Finanzkapitalismus bildete seine Konturen immer stärker aus, während technologische Entwicklungssprünge und Produktionsoptimierungen den Kostenfaktor Mensch zunehmend aus der Produktion verdrängten.

Vor der letzten Phase

Der Kapitalismus ist in seiner jetzigen Ausformung keine Angelegenheit von einigen wenigen Industrienationen. Er hat sich im Zuge der Globalisierung aus der Umklammerung der Staaten befreit und agiert als Finanzkapitalismus weltumspannend. Der frühere produzierende Arbeiter geht in der Dienstleistung auf. Als unbedeutender Kleinanleger wurde er mit den sozialparasitären Kapitalmärkten verbrüdert. Die freie Marktwirtschaft gehört längst der Vergangenheit an. Ohne Subventionen vom Staat, streng genommen Gelder, die der arbeitenden Bevölkerung entzogen wurden, würden ganze Branchen in die Knie gehen.

Das Kapital ist süchtig nach Profit. Die unbelebte und belebte Natur, und damit auch die Menschheit, ist bis in den genetischen Code hinein dem Verwertungszwang unterworfen. Er ist der Tyrann, der alle beherrscht.

Unter seiner Knute werden die Menschen nicht nach Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit kategorisiert. Sie werden in arm und reich, ausbeutbar und nicht ausbeutbar, nützlich und unnütz unterteilt.

Die in der intensiven Landwirtschaft etablierte und allgemein akzeptierte Ausrottungsdoktrin zum Beispiel, die bestimmte Insekten- und Pflanzenarten, die ihrer natürlichen Bestimmung nachgehen, als Schädlinge labelt und ihnen heimtückisch mit Gift zu Leibe rückt, steht exemplarisch für die tödliche Logik des Kapitalismus: Was den Profit schmälert, muss weg. Die Unmöglichkeit einer „multipolaren“ Welt unter kapitalistischen Bedingungen erklärt sich aus diesem Blickwinkel von alleine. Insofern sind die Analysen von Marx und Lenin zeitlos.

Der Rote Riese

Die Globalisierung und der Ausfall des systemischen Gegenspielers, des Realsozialismus, Ende der 1980er-Jahre beschleunigten den Aufstieg des Finanzkapitalismus und die Konzentration des Kapitals auf eine überschaubare Gruppe aus Vermögensverwaltern und einem kleinen Kreis ultrasuperreicher Privatanleger, deren Interessen den Gang der Dinge diktieren.

Durch Freihandelsabkommen, dem Siegeszug des industriellen Internets, der Plattformökonomie und durch den Zugriff auf qualifizierte, mobile und billige Arbeitskräfte sowie die problemlose Verlagerung von Produktionsstätten wuchsen hocheffiziente Monopole heran. Mit einem Bruchteil an menschlicher Arbeitskraft erzielen sie astronomische Gewinne. Sie erdrücken kleine und mittlere Unternehmen, unterwerfen Arbeitssuchende, Freelancer und geringfügig Beschäftigte den Bedingungen der Gig Economy und zerstören damit die Basis der Volkswirtschaften, während an den Finanzmärkten unberechenbare Spekulationsblasen entstehen. Es ist eine ökonomisch höhere Gesellschaftsformation, die Lenin am Vorabend der Revolution in Russland folgendermaßen beschrieb:

„Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozess die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole. Die freie Konkurrenz ist die Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz, aber diese begann sich vor unseren Augen zum Monopol zu wandeln, indem sie die Großproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die großen Betriebe durch noch größere ersetzte, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit trieb, dass daraus das Monopol entstand und entsteht, nämlich: Kartelle, Syndikate, Trusts und das mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit Milliarden schalten und walten.“

Das Endstadium ist im 21. Jahrhundert erreicht: der totale Imperialismus. Der Kapitalismus, und das ist die Analogie zum Lebenszyklus der Sonne, erscheint jetzt als Roter Riese, der sich unaufhaltsam ausdehnt. Gelder, die aus dem Nichts erschaffen werden, halten sein Feuer künstlich am Leben.

Es ist eine Selbstverbrennung im Sinne des mörderischen Kapitals, das auf der Jagd nach Profit nach der Arktis, dem Meeresboden und den Sternen greift, die sozialen Beziehungen zerrüttet, die Psyche der Menschen zerstört, Liebe und Zuneigung in Pornografie und Intimität in sexuelle Dienstleistungen verwandelt, Identität in Beliebigkeit transformiert, aber auch Haltung und Moral abtötet und die Zivilisationen durch Kriege meuchelt.

Die vom US-Regime angekündigten, teilweise verhängten Importzölle und die dadurch provozierten Gegenreaktionen verschärfen den andauernden Wirtschaftskrieg der konkurrierenden Staatsgebilde. Derweilen kaschieren in Europa Investitionsvorhaben zur Instandsetzung maroder Infrastruktur und zum Ausbau der Rüstungsindustrie den Niedergang der zivilen Produktion. Kriegskredite, die sinnlose Konflikte wie die Messerscheiben eines Fleischwolfs am Rotieren halten, von denen Spekulanten und Waffenschmieden ökonomisch profitieren, und die Bereitstellung von gigantischen „Sondervermögen“ für das Militär, finanziert mit Schulden, die niemals beglichen werden können, führen in Kombination mit der Zinslast zum schleichenden Bankrott der Staaten.

Die toxische globale Aufrüstung, die mit einem Volumen von über 2,4 Billionen US-Dollar pro Jahr bereits ein irrationales Niveau erreicht hat, verdeutlicht den Aufstieg der destruktiven Kriegswirtschaft. Der Zwang zur — gewaltsamen — Expansion, die im Inneren durch eine zunehmende Repression und die Militarisierung der Gesellschaften flankiert wird, lässt sich nicht mehr verschleiern. Der bürgerliche Staat wird vom imperialistischen Staat aufgefressen, der anderen imperialistischen Staaten als Fraß dient, um das nimmersatte Kapital zu ernähren. Hören die Menschen auf, diesen Tyrannen zu füttern, verhungert er im nächsten Augenblick.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Étienne de La Boétie: Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen (französischer Originaltitel: Discours de la servitude volontaire). Verfasst um 1550 und posthum 1577 veröffentlicht. Verfügbar auf https://www.projekt-gutenberg.org/boetie/knechtsc/knechtsc.html, abgerufen am 2. März2025.
(2) Wladimir Iljitsch Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriss. Kapitel VIII, Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus. Verfasst zwischen Januar und Juni 1916, Erstveröffentlichung Mitte 1917 in Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg. Verfügbar auf https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/imp/, abgerufen am 3. März 2025.
(3) Karl Marx: Das Kapital. Band 1, Kapitel 24: Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation. Zitiert aus: Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 23, „Das Kapital“, Band I, Siebenter Abschnitt, Seiten 741 bis 791 (Dietz Verlag, Berlin/DDR 1968). Verfügbar auf http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_741.htm, abgerufen am 4. März 2025.
(4) Karl Marx: Das Kapital. Band 1, Kapitel 7: Der Akkumulationsprozess des Kapitals.

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