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Jenseits der Schuld

Jenseits der Schuld

Befreien wir uns von alten Lasten und der Vorstellung, grundsätzlich schlecht zu sein.

Schuld ist in unserer Sprache ein mehrfach besetzter Begriff. Man spricht von strafrechtlicher und von wirtschaftlicher Schuld, von Schulden und Schuldnern, von moralischer, existenzieller, individueller und kollektiver Schuld. Immer beruht sie auf der Vorstellung, in der Vergangenheit etwas getan zu haben, was nun beglichen werden muss. Allen Formen der Schuld liegt in unserer Zivilisation die Vorstellung der Urschuld zugrunde: Eva ließ sich von der Schlange bezirzen und überredete Adam dazu, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu pflücken. Für diese Tat wurden beide aus dem Paradies vertrieben.

Seitdem gebiert die Frau ihre Nachkommen unter Schmerzen, wird vom Manne dominiert und in eine Nebenrolle gedrängt. Das Matriarchat von Kulturen, die wir gerne als „primitiv“ bezeichnen, wurde aufgelöst und durch das Patriarchat ersetzt. Auf die schützende Einheit des Paradieses folgte der Bau von Pyramiden, von deren Spitzen aus die Größten, Stärksten und Skrupellostesten ihre Macht ausüben. Schwer lastet auf den unteren Schichten eine Struktur, von der nur die oberen Schichten profitieren. Sie lenken das Weltengeschehen, denn nur sie haben den Überblick. Allen unteren Schichten ist die Sicht durch die jeweils darüber liegende versperrt.

Das pyramidale Gesellschaftsmodell nährt sich von Unterdrückung und Ausbeutung. Ganze Kontinente wurden geplündert, ganze Völker versklavt und alle Widersacher aus dem Weg geräumt. Über Jahrhunderte verendeten vor allem heilkundige, als Hexen gebrandmarkte Frauen auf den Scheiterhaufen der Inquisition. Bis heute bezahlt die Frau die ursprüngliche Schuld, die ihr angelastet wird. Auch in Ländern, die sich als hochzivilisiert ansehen, verdient sie deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen und steht nur sehr selten an der Spitze einer der Pyramiden.

Auszug aus dem Paradies

Wer sich heute die Welt ansieht, erkennt, wie schlimm es um sie bestellt ist. Er muss sich also fragen, ob die überwiegend weißen Männer an den Spitzen der Pyramiden im Sinne des allgemeinen Wohls handeln und wie es denn geschehen konnte, dass das natürliche Leben nach und nach ausgerottet und durch künstliches ersetzt wird. Die Tendenz ist deutlich: Während die Natur durch Menschenwerk zugrunde geht, wird der Frau immer mehr die Rolle der Gebärenden, der Lebensgebenden entzogen. Heute kann auch Männern ein Uterus eingepflanzt und Leben künstlich erschaffen werden. Immer näher treibt das transhumanistische Ideal Mensch und Maschine zusammen und macht deutlich, dass wir auf der Schwelle zu einer neuen Zivilisation stehen (1).

Wem daran liegt, das natürliche Leben auf unserem Planeten zu bewahren, der muss noch einmal zu den Ursprüngen der alten Zivilisation zurück — und damit zu der Frage der Schuld. Nach dem christlichen Verständnis, das uns kollektiv bis heute prägt — unabhängig davon, ob wir persönlich religiös veranlagt sind oder nicht — soll also die Frau schuld daran sein, dass wir nicht mehr im Paradies leben, sondern unser Brot im Schweiße unseres Angesichts verdienen müssen. Sie gilt als das „schwache“ Geschlecht, schwatzhaft und so neugierig, dass die Schlange mit ihrer List bei ihr leichtes Spiel hatte. Sie ist die Verführerin, die den Mann dazu überredete, etwas Verbotenes zu tun. Als die Missetat aufflog, war es nur allzu recht, dass vor allem sie in ihre Grenzen gewiesen wurde.

Seit wir das biblische Paradies verlassen haben, begleiten Schuld, Sünde, Scham und Schande unseren Lebensweg. Als vor 2.000 Jahren der Christus kam, um uns davon zu befreien, wurde es nicht besser. Seine Lehre der bedingungslosen Liebe und Vergebung wurde so verzerrt und schließlich umgedreht, sodass sie jede Form von Unterdrückung und Ausbeutung rechtfertigte und Völkermord, Versklavung und Selbstermächtigung legitimierte. Die Frau hatte die Wahl zwischen Heiliger und Hure, wurde mit Kindern, Küche und Kirche abgespeist und hatte lange nichts zu sagen. Auch in unserer Zeit wird ihr „Nein!“ oft nicht für bare Münze genommen.

Dem anderen ein Wolf

Die Vorstellung der Schuld klebt an uns. Wer könnte von sich behaupten, frei davon zu sein? Je nach Konfession können wir uns eine Weile von ihr reinwaschen oder so viel Gutes tun, wie wir wollen:

Wenn in höchster Instanz beschlossen wurde, dass wir in der Hölle schmoren werden, dann gibt es keinen Weg ins Paradies. Obgleich sich immer mehr Menschen von derartigen Glaubensvorstellungen abwenden, schleppen wir dieses Erbe im kollektiven Gedächtnis mit uns herum. Wir alle sind mehr oder weniger gequält von der Überzeugung, schlecht zu sein.

Der Mensch ist des Menschen Wolf — was bereits in altrömischer Zeit angelegt war, wurde in der frühen Aufklärung zu einer Evidenz: Nach Thomas Hobbes ist der Mensch ein Egoist, der überwiegend nach seinem eigenen Vorteil strebt und dem Besitz möglichst vieler materieller Güter. Der natürliche Zustand ist der Krieg. Nur durch den Verstand, so die späteren Aufklärer, könne das Wilde in uns gezähmt werden und ein zivilisiertes Zusammenleben möglich.

Dieses negative Menschenbild hat heute zu der absurden Idee geführt, Frieden mit Waffengewalt erzwingen zu wollen. Wir sind ja grundsätzlich schlecht — und das rechtfertigt jede Art von Behandlung. Der Zweck heiligt auch hier die Mittel. Um angeblich hehre Ziele durchzusetzen, werden Kollateralschäden in Kauf genommen: Kriege jeder Art, an Hunger sterbende Kinder, im Meer ertrinkende Menschen. Haben die nicht irgendwie ihr Unglück selbst verdient? Um den Anblick des Unmenschlichen, unaussprechlich Leidvollen zu ertragen, legen wir uns alle möglichen Erklärungen zurecht, unterschreiben Petitionen und lehnen uns zurück, wenn es uns selbst im Moment nicht betrifft.

Sind wir also tatsächlich zu den hoffnungslosen Egoisten geworden? Hat sich die Prophezeiung erfüllt? Bewahrheitet sich, was uns von Anbeginn an suggeriert wird? Dann haben wir es wohl tatsächlich nicht besser verdient und können nur noch unserem eigenen Untergang entgegensehen. Wir können unserer Schuld und Schlechtigkeit nicht entfliehen und nur noch darauf hoffen, dass sich der Planet ohne uns regeneriert.

Schattenspiele

Und wenn es ganz anders wäre? Wenn wir gar nicht aus dem Paradies vertrieben worden sind, sondern ihm aus eigener Entscheidung heraus den Rücken gekehrt haben? Haben wir nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen, der uns dazu befähigte, gut und böse, richtig und falsch voneinander zu unterscheiden? Wir haben dem Paradies der Einheit den Rücken gekehrt und sind in die Welt der Dualität hinausgegangen. Das Licht des Ursprungs liegt hinter uns. Was wir nun sehen, sind unsere eigenen Schatten. Doch wir sind nicht diese Schatten.

Wenn wir aus der platonischen Höhle heraustreten und uns wieder der Lichtquelle zuwenden, erkennen wir, dass der andere uns im Grunde gar nichts Schlechtes will. Wir sehen, dass er nur mit seinem eigenen Schatten kämpft — so wie wir selbst. Uns wird bewusst, dass uns dieselben Erfahrungen zu schaffen machen und wir von denselben Ängsten durchdrungen sind.

Wir benutzen uns gegenseitig als Projektionsflächen unserer eigenen Schwächen und versuchen, die unerträgliche Schuld, die wir tief in uns empfinden, auf den anderen abzuwälzen.

Was geschähe, wenn uns klar würde, dass das alles nur Illusion ist, dass wir keine Dunkel- sondern Lichtwesen sind, die sich vor langer Zeit einmal dafür entschieden haben, ihre eigenen Erfahrungen zu machen? Wenn es so wäre, dann würden wir auch begreifen, dass wir jetzt die Möglichkeit haben, die Dinge anders zu sehen. Wir könnten an das Gute, Wahre und Schöne in uns glauben, anstatt uns von jenen in die Tiefe ziehen zu lassen, die uns einreden, wir seien mangelhaft. Ist denn ein neugeborenes Kind unvollkommen? Muss man es erst zurechtbiegen, damit es „besser“ wird? Sieht es so aus, als sei es von Anfang an „böse“?

Aus sich selbst heraus schöpfen

Wir haben die Wahl. Wir können uns dafür entscheiden, das Gute in uns zu sehen und gut zu uns selbst zu sein. Wir können lernen, uns zu lieben, wie wir sind. Wir haben es nicht verdient, unterdrückt und misshandelt zu werden. Wir tragen eine große Macht in uns. Wir können jetzt beginnen, aus der Hölle ein Paradies zu machen, wenn wir wieder an die schöpferische Kraft in uns glauben. Nicht an die Intelligenz, die uns dazu befähigt, Maschinen zu erfinden, die uns schließlich ersetzen werden, sondern an unsere ursprüngliche Fähigkeit, aus uns heraus zu gestalten.

Hierzu müssen wir die unterbrochenen Verbindungen wieder aufnehmen: die Verbindung zwischen Mann und Frau, Herz und Verstand, Körper und Seele, Materie und Geist. Aus diesem Verständnis heraus können wir eine neue Form des Zusammenlebens schaffen: eine Art Sphäre, in der die Dinge nicht mehr verborgen sind, sondern potenziell von jedem gesehen werden können. Hier gibt es keine Machtspielchen und Heimlichtuereien, kein Recht des Stärkeren, keine Clubs, keine Kartelle, keine Fake News und keine Deep States. Hier gibt es keine Fassaden, keine Masken und keine Rüstungen, keine Kriege und keine Menschen, die davon profitieren. Hier liegt alles offen, im Licht.

Utopie? Wer kann das wissen.

Wer ein friedliches Zusammenleben für unmöglich hält, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht selbst von den alten Machtstrukturen profitiert und im Grunde kein Interesse daran hat, dass sie sich ändern. Er wagt sich vielleicht nur noch nicht an sich selbst heran und in sein Inneres hinein.

Er mag vielleicht seine eigene Schuld und Scham noch nicht berühren. Er muss noch nach außen projizieren, was er in sich trägt.

Doch ich habe Hoffnung, dass jeder von uns in sich das Wunder geschehen lassen kann, sich selbst zu verzeihen. Wir können alle wieder ganz werden, wenn wir uns dem Gefühl unserer Schuld annehmen und uns selbst um Vergebung bitten, uns so lange so schlecht behandelt zu haben. So erkennen wir in unseren Nächsten unsere Brüder und Schwestern und lassen davon ab, die Natur und das Leben dominieren zu wollen. Wenn wir überwinden wollen, was Größenwahn auf der einen und Schuldgefühle auf der anderen Seite angerichtet haben, bleibt uns jetzt, aufeinander zuzugehen und einander die Hand zu geben.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Weiterführend sind der im April 2019 erschienene Film Human Nature von Adam Bolt sowie die Gespräche von Dagmar Neubronner und Claudia Werlhof.


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