An den Hamburger Verdi-Landesbezirksvorstand und die Landesbezirksleitung
Moskau, 14. November 2024
Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen,
ich bin seit 1974 Gewerkschaftsmitglied und überlege, aus der Gewerkschaft Verdi auszutreten. Vielleicht könnt ihr mich überzeugen, dass das ein falscher Schritt ist. Bitte lest mein Schreiben.
50 Jahre bin ich nun Gewerkschaftsmitglied, erst in der IG Metall, dann bei Verdi. Ich war Jugendvertreter bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) und gewerkschaftlicher Vertrauensmann bei Siemens. Im Frühjahr bekam ich eine goldene Verdi-Nadel an meine Moskauer Adresse geschickt. In dem Begleitschreiben stand etwas von den „wertvollen Erfahrungen“ von uns Altmitgliedern.
Aber ich vermisse Verdi und die anderen Einzelgewerkschaften des DGB auf der Seite derjenigen, die gegen die „Kriegsertüchtigung“ in Deutschland laut und deutlich die Stimme erheben. Wenn die IG Metall 1974 mehr oder weniger offen einen Krieg unterstützt hätte, wäre ich wohl nie in diese Gewerkschaft eingetreten.
Artikel für Gewerkschaftszeitungen
Ich habe in den vergangenen Jahren mehrmals für deutsche Gewerkschaftszeitungen Artikel geschrieben, zum Beispiel den hier über eine Schule in Tatarstan: „Toleranz wird schon in der Schule gelernt“ (Bildungsmagazin GEW Bremen). Aber meine Artikelangebote an deutsche Gewerkschaftszeitungen wurden zu selten gedruckt, als dass sie ein wichtiger Bestandteil meiner Unterhaltssicherung waren.
Aus Verdi auszutreten, fällt mir schwer, weil ich als Jugendvertreter bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm in Hamburg Erfahrungen mit Gewerkschaftsausschlüssen machen musste. Zwei meiner Genossen, die wie ich Jugendvertreter waren, wurden 1975 wegen angeblicher Nähe zum „Kommunistischen Bund“ ausgeschlossen. Ich wurde verschont. Und nun soll ich freiwillig austreten?
Ukrainekrieg
Aber vor ein paar Tagen war wieder so ein Moment, wo es in der Magengrube wehtat. Ich las im Verdi-Mitgliederrundbrief die Worte des Vorsitzenden Frank Werneke „zur aktuellen politischen Entwicklung“, und die klangen nach einer indirekten Unterstützung der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Zitat:
„Angesichts der aktuellen Bedrohungslage in der Ukraine und der umfangreichen Unterstützung, die Deutschland leistet, wäre es notwendig und auch rechtssicher möglich gewesen, die in unserer Verfassung vorgesehene Notlagenregelung für den Bundeshaushalt zu erklären. Dadurch ist eine höhere Schuldenaufnahme möglich und im Ergebnis ein Bundeshaushalt ohne tiefe Einschnitte und mit mehr Möglichkeiten für Investitionen.“
Als am 2. Mai 2014 das Gewerkschaftshaus in Odessa brannte, schwiegen die deutschen Gewerkschaften. Und jetzt wollen sie „solidarisch mit der Ukraine“ sein? Habt ihr denn nicht mitbekommen, dass die Ukraine ein gespaltenes Land ist, in dem ein großer Teil der Bevölkerung nicht für NATO-Interessen sterben will und in dem sich viele Menschen durch das Verbot der russischen Sprache an ukrainischen Schulen und dem Verbot aller ukrainischen Oppositionsparteien diskriminiert fühlen?
Verdi-Berichterstattung über die Ukraine
Die deutschen Gewerkschaften müssten sich eigentlich gegen die in Deutschland grassierende Russophobie stemmen. Aber die Verdi-Mitgliederzeitung Publik macht das Gegenteil. In Publik findet man eingestreute und nicht belegte Behauptungen über Russland, die ich aus russophoben Hetz-Medien wie der Bild-Zeitung und t-online.de kenne, die aber in einer Gewerkschaftszeitung eigentlich keinen Platz finden dürften.
So heißt es in Publik 5/2024 Seite 16 in einem Bericht über queere Menschen in der Ukraine: „Es kursieren Berichte über von russischen Truppen geführte Listen mit queeren Aktivisten, die verhaftet und verfolgt werden sollen.“
In Publik 6/2024 wird in einer Reportage über Gewerkschaften in der Ukraine kritiklos ein ukrainischer Gewerkschafter zitiert. Dieser Gewerkschafter behauptet, „sogenannte Gewerkschaften in Russland“ würden „auf ihren Kongressen dazu aufrufen, ihre Armee zu unterstützen und Ukrainer zu töten. Das ist ein Albtraum“.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Warum druckt ihr, um auch die russische Seite darzustellen, nicht auch eine Reportage über die russischen Gewerkschaften, damit nicht ein ukrainischer Gewerkschafter den Verdi-Mitgliedern die russischen Gewerkschaften erklärt, sondern die russischen Gewerkschafter ihre Gewerkschaft selbst erklären?
So ein Herangehen entspräche dem Prinzip der fairen Berichterstattung und der Erkenntnis, dass sich die abhängig Beschäftigten zur Durchsetzung ihrer Interessen international vernetzen müssen.
Einschränkung der Meinungsfreiheit
Ich bedanke mich bei euch nochmals für den Rechtsbeistand in zwei Arbeitsgerichtsprozessen gegen die Sächsische Zeitung, die mir im Dezember 2013 kündigte. Das war in der Hochphase des Kiewer Maidan, über den ich im Unterschied zu anderen Korrespondenten ohne Begeisterung berichtete. Die Arbeitsgerichtsprozesse verlor ich.
Zahlreiche andere Medien wie Mittelbayerische Zeitung, Märkische Allgemeine, Nordkurier und Thüringer Allgemeine druckten seit 2014 keine Artikel mehr von mir. Selbst der Freitag, für den ich seit 1992 schrieb, kündigte mir im März 2022.
Wo wart ihr, als ab 2014 zahlreichen Journalisten und Professoren gekündigt wurde, weil sie im Corona-Chor der Bundesregierung nicht mitsingen wollten oder weil man ihnen vorwarf, sie würden von Russland finanziert oder gesteuert? Ihr habt zu diesen Repressionen geschwiegen.
Erschüttert war ich auch vom Verhalten GEW-Führung in meiner Heimatstadt Hamburg, die 2023 dem „Jour fixe/Gewerkschaftslinke“ die weitere kostenlose Nutzung eines Raumes für Versammlungen im gewerkschaftseigenen Curio-Haus untersagte. Begründet wurde dieses Verbot mit der Teilnahme an Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen in Hamburg, die „rechtsoffen“ seien.
Ich halte das Vorgehen der GEW-Führung für gewerkschaftsschädigend, denn unter den Gewerkschaftsmitgliedern gibt es zweifellos unterschiedliche Positionen zur Coronapolitik der Bundesregierung. Eine Diskussion über unterschiedliche Positionen muss in einer Gewerkschaft möglich sein, wenn sie nicht zum verlängerten Arm der Bundesregierung werden will.
Ich hoffe auf eine Antwort von euch.
Mit gewerkschaftlichen Grüßen
Ulrich Heyden
www.ulrich-heyden.de
PS: Dieses Schreiben werde ich in sozialen Netzwerken öffentlich machen.
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