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Hier mein Cluster, Herr Drosten

Hier mein Cluster, Herr Drosten

Tagebuch einer Frau, die ihren Lebensgefährten durch die Brutalität des Corona-Regimes verloren hat. Teil 4.

16. Juni 2020

Heute ist Dienstag der 16. Juni. Habe eben noch einmal drei Nummern vom Neuköllner Gesundheitsamt eingespeichert, für alle Fälle, falls irgendwas passiert. Ich habe dort Verbündete, Frau L., Frau R. und Herrn W. Sie sind die, die mir am schnellsten helfen können. Aber wovor habe ich Angst. Dass man mich wegschickt, wenn es ihm gerade schlecht geht und meine Besuchszeit vorbei ist? Ja! So eine schlimme Angst muss ich haben bei diesem Heim. Neulich hat ein Hund vor die Tür geschissen. Besucher regten sich auf! Ich dachte, er hat Recht.

Heute früh auf t-online: Kanzleramtsminister Helge Braun posaunt, dass Deutschland stolz sein kann auf die Bewältigung der Krise. Bitteschön, ich bin gerade nicht stolz, sondern am Boden zerstört. Bitteschön auch auf den Boden schauen und was da in den Ecken liegt!

17. Juni 2020

Sitze auf meinem Meditationsstuhl in Kreuzberg. Durch das offene Fenster der Krach der Straße, der Streik der Tourismusbusse, mindestens eine Stunde Gehupe der Busse auf dem Mehringdamm. Heute ist der 17. Juni, Aufstand, das passt! Jetzt kommt der Nachmittag, wo ich bei Friedrich wäre, aber ich habe keine Kraft. Ich habe meinen Besuch heute abgesagt.

Gestern konnte ich kaum gehen, die Knie zitterten, bis zum Vietnamesen in der Hermannstraße hab ich es geschafft, die Kellnerin stürzte gleich auf mich zu. „Alles gut?“ Nein. Heute muss ich mich selber retten. Habe gestern noch verlangt, dass man ihm andere Schmerzmittel gibt, Morphine? Die Schwester wollte das dann anordnen, aber die Ärztin war gestern nicht mehr da... Die Bitte, einen Bereitschaftsarzt zu holen, lehnte sie ab, man hat doch selber alles im Griff, er bekommt nochmal eine Extradosis Schmerzmittel, ich soll mir keine Sorgen machen, sie wären ja da und kümmern sich. Ich hab das nicht mehr ausgehalten. Welche Ignoranz. Er braucht doch jetzt ganz andere Medikamente. Hätte ich meine Schlafmittel dabei gehabt, die ich mir gestern habe verschreiben lassen, hätte ich ihm bestimmt geholfen.

Überall auf meinen Zetteln stehen irgendwelche Notizen: Gerade bei Demenzkranken gilt eine ständige Aktualisierung der Vorsorgevollmacht, sie kann auch mündlich passieren. Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten. Bundesvertretung für alte, pflegebedürftige Menschen, Bonn. 0228/90904844. Mit Friedrich haben wir die Vorsorgevollmacht ständig mündlich aktualisiert. Er wollte nicht mehr leiden.

18. Juni 2020

Offene Terrassentür. Auf dem Tisch meine diversen Mundschütze mit Lippenstift dran. Fahrkarten. Mein Mann im Pflegeheim. Am 9. Juni haben wir im Krankenhaus geheiratet. Eine Hochzeit der Herzen. Ich wollte ihn an diesem Tage einfach glücklich machen und ihm das erfüllen, was er sich schon immer gewünscht hat: Dass wir ein Brautpaar sind. Und als Ansporn versprach ich ihm das Standesamt, wenn er wieder gesünder sei. Es war ein glücklicher Tag im Krankenhaus und wir haben ein wenig Hoffnung geschöpft.

Am nächsten Tag wurde er wieder aus dem Krankenhaus entlassen, zurück ins Heim! Ich mache mir die größten Vorwürfe, dass ich ihn nicht mitgenommen habe. Unsere Hochzeitsreise! Es war eine Lücke im System, die für mich war. Und ich konnte nicht reagieren. Mir waren die Hände gebunden, ich sah keinen Ausweg mit dem schwerkranken Mann. Einen Transport nach Mecklenburg, das wollte ich ihm nicht zumuten, ich hatte Angst vor der Verantwortung. Er hätte es vielleicht nicht überstanden. Er war in der Verantwortung der Ärzte, nach einem Schlaganfall! Was wollte ich mit meinen romantischen Ideen.

Das Leben in seiner vollen Härte. Heute habe ich endlich ein Gespräch mit der Hausärztin im Heim bekommen. Ich sollte sooft bei ihm sein wie möglich, sagte sie. Jetzt habe ich auch den 8-seitigen Arztbrief. Und zu Mittag habe ich Friedrich das Essen gereicht, Kartoffelbrei mit Porreesoße. Ich bin der Heimleiterin in den Arsch gekrochen. Dabei ist das Recht auf meiner Seite! Schwerstkranke unterliegen keiner Besuchsbeschränkung!

Das hat mir auch die Ärztin heute bestätigt. Aber ich will keine Konfrontation mehr. Und so kommen Verrenkungen dieser Art: In den Arsch kriechen. Darf ich meinen sterbenden Freund heute außerhalb der Reihe für 2 Stunden besuchen, weil am Nachmittag ja auch schon seine Tochter kommt.

Corona macht’s möglich, dass Menschen ihre Macht verdoppeln und potenzieren. Wie gerne würde ich der Dame die Gesetzesblätter um die Ohren schlagen.

24.Juni 2020

Kurz vor der Abfahrt. Die Hitze, 30 Grad, der schwerkranke Freund, mir zittern die Knie. Wie wird es ihm gehen? Es ist so grausam. Alle meine Versäumnisse fallen mir wie schwere Eisenstangen auf den Kopf, in den Nacken. Jetzt kommen Selbstvorwürfe, Schuldgefühle. Dass ich ihn hier nicht rechtzeitig rausgeholt habe! Aber wie denn?

Dann die Maske, die U-Bahn, Hermannstraßencorona. Ich muss zuversichtlich sein, dass er es schafft und ich ihn nach Feldberg holen kann. Keine Sterbebegleitung! Lebensplanung! Gerade jetzt!

25. Juni 2020

Gestern wie tot ins Bett gefallen und schlaflos. Friedrich ist kaum noch aufgewacht, das Abendbrot, Grießsuppe mit den zermörserten Tabletten konnte ich ihm noch geben. Ich habe gebetet, dass er heimgehen kann, ich hoffte, diese Nacht.
Heute Mittag ist L. bei ihm. Wurde gestern noch von der Schwester angeschnauzt, wie lange ich denn bleiben dürfe, als ich um halb acht ging. Welch herzlose Leute laufen da rum.

Hat mich wieder die halbe Nacht gekostet, ob ich Strafanzeige stelle. Der Anwalt hat mir das ohnehin geraten. Dieses Heim verstößt dauernd gegen geltendes Recht, unter dem Vorwand von Corona-Maßnahmen. Friedrich ist ein hausgemachtes Corona-Opfer.

26. Juni 2020

Heute beim Gesundheitsamt Neukölln angerufen, um nochmal meine Besuchszeiten abzuklären. Herr W. auf der anderen Seite reagierte ziemlich aufgeregt. Man hätte im Heim R. jetzt wirklich ein Problem, ich solle die Besuchszeit, die ich noch habe, genießen, vielleicht müsse das ganze Heim bald unter Quarantäne. Jetzt also Corona in Haus R.? Wie ich dann jedoch vernahm, soll Friedrichs Station nicht betroffen sein.

27. Juni 2020 (nachgetragen)

Wie finde ich ihn vor, voller Schmerz. Er liegt auf der rechten Seite, ich sehe Stellen an seinem Rücken und Po, ganz wund vom Durchliegen. Die Schwester kommt, erzählt abermals, wie schwer es ist, ihn zu drehen, mit drei Mann „müssen sie oft ran“. Ich bin entsetzt, kurz vor dem Heulen, er stöhnt, hat Schmerzen. Die Schwester erzählt mir, wie ihr Mann auch immer stöhnt, wenn er vom Sessel aufsteht. Männer stöhnen! Ich dachte, hat der Beruf sie so kalt gemacht, der tägliche Umgang mit dem Tod. Wenn ich das Leid nicht ertragen kann, soll ich doch nicht so oft kommen, meinte sie dann noch.

Ich setze mich zu Friedrich. Er beruhigt sich, ich hole das Glas mit den Erdbeeren heraus, ich bin selig, dass er mir die Beeren, in Honig getunkt, abnimmt - und weiß nicht, dass es seine letzten sein werden.

30. Juni 2020

Den Tag zuvor konnte ich nicht bei ihm sein. Ich bin den Tag über gar nicht aufgestanden, sein Leid hatte mich völlig handlungsunfähig gemacht. In der Nacht hatte ich einen schlimmen Traum. Ein Mann, der neben mir geht, fällt plötzlich in bodenlose Tiefe und ist tot.

Am Morgen bin ich gleich in die Bundesallee gejagt, Bundesallee 65, Dr. D., Friedrichs Neurologe. Die Schwester hatte mir gesagt, die Physiotherapie beginnt erst in dieser Woche, irgendwas hat mit der Verordnung nicht geklappt. Kann so was sein? Erst nach über 3 Wochen nach dem Schlaganfall und wo schon ein Dekubitus da ist...

An der Praxis hing ein Zettel in Folie: Heute, am 30 Juni, bleibt die Praxis wegen Quartalsabrechnung (!) geschlossen – welch eine Ironie. Ich klingelte Sturm. Dann rief ich an. Es lief ein langer, endloser AB mit zig Hinweisen zu Öffnungszeiten, Corona Maßnahmen etc. pp. Ich wartete das Ende ab, um meine dringende Bitte wenigstens aufzusprechen. Dann kam: Dieses Gerät zeichnet nicht auf. Piep.

Ich jagte zurück in meine Wohnung, U-Bahn, S-Bahn, Maske, U-Bahn Gneisenaustraße stieg ich aus und lief sofort in ein Internet-Cafe. Ich schrieb eine Mail an den Neurologen mit folgendem Inhalt:

Sehr geehrter Dr. D.,
 
mein Name ist S. L., ich bin die Lebenspartnerin von Herrn Friedrich L., den Sie als Patient im Haus R. betreuen.

Ich habe eben vor Ihrer leider verschlossenen Praxis gestanden, ich kam mit der Bitte um ein dringendes Gespräch. Herrn L. geht es sehr schlecht, ich bin sehr besorgt. Und möchte Sie bitten, alles Erdenkliche zu tun, um seine Lage zu verbessern.

Mehr als 14 Tage nach seinem  Schlaganfall ist keine Besserung in Sicht, ich verstehe auch nicht, warum erst in dieser Woche – wie ich hörte – mit einer Physiotherapie begonnen wird. Und warum ist es nun zu einem Dekubitus gekommen? Das ist sehr bitter. Gäbe es die Möglichkeit Herrn L. ein Spezialbett mit Druckausgleich, die es doch für solche Fälle gibt, zu verschreiben?

Ich bitte um Ihr Verständnis für meine Verzweiflung.

Ich wäre Ihnen sehr dankbar für ein Telefongespräch. Wie ich gesehen habe, sind Sie voraussichtlich morgen wieder in der Pflegeeinrichtung. Ich mache mir die größten Sorgen. Wenn Sie mich danach oder später anrufen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar!

 Mit freundlichen Grüßen
 S. L.

Zu Hause angekommen wusch ich die Erdbeeren für Friedrich. Ich zerschnitt und tunkte sie in Honig. Mein Herz raste, ich spürte solchen Druck. Ich wollte mit dem Taxi fahren, doch dann dachte ich, ich müsste ja noch länger warten, bis es 15.00 Uhr wird und ich rein darf. Nervös und aufgeregt rief ich nochmal das Gesundheitsamt an, um mich zu vergewissern, wie die Lage im Haus R. inzwischen ist; ein fataler Fehler! Ich fragte, kann man noch ins Haus? Die Dame am Telefon wusste nicht Bescheid und wollte meine Frage weiterleiten und mich zurückrufen.

Das Wort „weiterleiten“ versetzte mir einen Stich, mir brannte das Herz, ich spürte Wahnsinn und Verzweiflung. Ich jagte zur U-Bahn, U7, U8. Eine Straße vor der Hertastraße, ich rannte gerade die Hermannstraße entlang, rief die Frau vom Gesundheitsamt zurück. Nein, Sie können nicht mehr ins Haus, komplett Quarantäne! Ich rannte, nichts konnte mich aufhalten, und wenn ich durch die Scheiben gehe. Die nächste Quarantäne wird er nicht überleben!

Man ließ mich schon um halb Drei rein. Die stellvertretende Pflegedienstleiterin kam auf mich zu und „bereitete“ mich vor, dass es ihm sehr schlecht gehe, er sei jetzt in Behandlung der Palliativärztin. Ihr Gesicht drückte jetzt schon Beileid aus. Sie band mir – sogar – hinten die Schleife des Schutzkittels. Im Lift war die zweite Etage durchkreuzt. Also! Und der Hinweis, dass immer nur zwei Personen im Aufzug sein dürfen.

Friedrich war kaum noch wiederzuerkennen. Er hatte den Kampf begonnen. 5 Stunden sollte er noch dauern. Er ging um 19.57 Uhr zu Ende. Ich durfte jetzt bei ihm sein! Mein Herz schlug ruhiger, als ich neben ihm saß.

Wie absurd, dass der Tod jetzt erträglicher war, als dieser grausame, unmenschliche Stress, von einem Sterbenden weg gerufen zu werden, den ich erleben musste.

Mir brannte die Situation Tränen in die Augen. Welche Verbrecher, dachte ich. Was haben sie mir die ganze Zeit zugemutet, dass ich jetzt den Tod meines Liebsten als Erlösung ansehen muss. Nicht nur für ihn, auch für mich. Niemand wird jetzt kommen und sagen „Frau L., Sie müssen jetzt aber gehen“. Jetzt waren sie wohl froh, dass ich da war. Oder auch nicht. Oder gar nichts. Ich atmete durch, welch eine Ruhe. Welch Frieden.

Sein Atem schnarrte vom Wasser in der Lunge und im Kehlkopf. Ich versuchte es mit den Erdbeeren, zerdrückte sie zu Mus mit der Kuchengabel, die dort noch bei seinem unangerührten Kuchen lag. Mein Schatz blinzelte etwas, als ich seine Lippen mit Erdbeersaft benetzte, aber der Mund blieb offen und der Atem schnarrte weiter. Ich hoffte, er hat wahrgenommen, dass ich es bin, seine geliebte Freundin. Schwester T., eine von den herzlichen Schwestern im Heim, kam und machte Honigbällchen, mit denen sie den Mund etwas von innen ausstrich. Honigmund. Vielleicht war es das Letzte, was er schmeckte.

Er liebte ja Süßes so sehr. Ich legte seine Platte auf, die er selber mal mit Musikern aus der Berliner Philharmonie produziert hatte. Sie habe ihm gestern Gedichte von mir vorgelesen, erzählte Schwester T. Und ich war nicht da! Mein Herz krampfte sich zusammen. Ich weinte. Gut, dass du auf mich gewartet hast, mein lieber süßer Schatz. Noch nie war das Leben so in Ordnung, so klar und unanfechtbar. Was kann uns noch trennen. Friedrich wird sterben und ich bin bei ihm. Nichts steht jetzt mehr zwischen uns. Niemand kann uns mehr etwas vorschreiben. Niemand wird auch nur wagen, jetzt ein Wort zu sagen. Welch ein absurder Moment des Glücks. Unbegreiflich und nicht in der Seele zu fassen.

Draußen auf dem Flur war das alltägliche Treiben. Der Abendbrotwagen klapperte vorbei und die schlurfenden Bewohner mit ihren Rollatoren. Das Leben im Heim ging seinen gewohnten Gang. Die Stationsschwester war geschäftig, sie wollte, so hatte ich das Gefühl, ihren Fall erledigt und Feierabend haben und nach Hause zu ihrem Mann. Ich muss sie jetzt mögen, dachte ich, Verständnis für sie haben. Ich wollte unbedingte Harmonie in dieser Stunde.

Sie kam um 18.00 Uhr mit einer Spritze und setzte sie ihm in den Bauch. Gegen die Schmerzen, sagte sie. Ich sagte, dass das Wasser im Hals doch schlimm für ihn ist. Sie könne ja nochmal absaugen, sagte sie, aber es helfe nichts. Sie lief geschäftig davon und holte das Gerät zum Absaugen. Sie würgte ihm einen Schlauch in den Hals, aber er schien überhaupt keine Reflexe mehr zu haben. Es schnarrte einfach weiter in seiner Kehle. Ich hatte das Gefühl, sein Körper reagierte überhaupt nicht mehr, er war vollgepumpt mit Schmerzmitteln und funktionierte nur noch. Ich hielt die Hand von meinem süßen sterbenden Schatz und streichelte seinen Arm.

Verzeih mir, dass ich dich nicht retten konnte. Nein, ich darf mich nicht zermartern, oh Gott!

Kurz vor 8 Uhr atmete er plötzlich nicht mehr. Draußen auf dem Flur war gerade der schwarze Pfleger, der immer so freundlich war und der ihm mal das Handy für einen Videoanruf geliehen hatte. Er kam gelaufen und auch die Stationsschwester. Ich streichelte Friedrich und weinte, ich hielt seinen Arm. Dann bäumte sich sein Gesicht noch einmal ein bisschen nach Luft. Und dann war es still. Er war gegangen.

Ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Die Schwester meinte, ich soll nicht weinen, die Seele schwebe jetzt über ihm. Mein Herz wollte erstarren über ihre Worte. Für einen kurzen Moment empfand ich, dass selbst im Tod das Reglement hier weiter herrscht, wie ein grausames, ungeschriebenes Gesetz.

Doch dann ließ man mich mit ihm allein. Ich saß erstarrt und voller Tränen bei meinem toten Mann. Ich konnte nicht verstehen. Und hatte doch das Gefühl, dass dies kein natürlicher, dass dies ein erzwungener Tod, ein getriebener Tod war, eine seelische Ermordung.

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Nachtrag

2. Juli 2020

Die Antwort des Neurologen las ich am Abend, er schrieb mir sein Beileid und erklärte nochmal, alles getan zu haben, aber seine Vorerkrankungen, die massiven Durchblutungsstörungen und Gefäßrisikofaktoren – aufgeführt mit lateinischen Namen – und das Alter haben schließlich zum Tode geführt. Er habe immer Hausbesuche dort im Heim gemacht, trotz Corona! Ein sich rechtfertigendes kurzes Schreiben eines freundlichen, unbeteiligten Arztes. Ich entwarf sogleich eine Antwort.

Sehr geehrter Dr. D.,

Vielen Dank für Ihre Antwort und vor allem für Ihr Mitgefühl zum Ableben meines Lebensgefährten Friedrich L. Wie Sie meiner Mail entnehmen, hatte ich an diesem Tag, an dem er verstarb, noch die Hoffnung auf Besserung, deshalb bin ich früh am Morgen mit großer Hoffnung in Ihre Praxis gefahren. Leider war sie (außerplanmäßig) geschlossen. Ich hatte Herrn L. den Tag zuvor nicht sehen können und wusste daher nicht, dass sich sein Zustand rapide verschlechtert hatte. Ich bin jetzt nur noch dankbar, dass ich in der Stunde seines Todes bei ihm sein konnte. Dennoch quälen mich Gedanken, die ich, um meinen Seelenfrieden zu finden und irgendwann damit abschließen zu können, klären muss.

Drei Jahre habe ich sein Leben in Haus R. begleiten können, eine gute und gesundheitlich relativ ausgeglichene Zeit. Die Besucherregelungen unter Corona stellten unsere Beziehung unter höchste Belastung, auch eingedenk der Demenz, an der er litt. Ich wandte mich in meiner Verzweiflung an den Pflegebeauftragten der Bundesrepublik. Den Schriftwechsel füge ich zu Ihrer Information bei.

Die Quarantäne, die nach einer neurologischen Notfallaufnahme über ihn verhängt wurde, hatte fatale Folgen. Er konnte danach nicht mehr gehen, war auf den Rollstuhl angewiesen. Der Stress, dass wir einander nicht sehen konnten, war für uns beide eine unerträgliche nervliche Dauerbelastung. Am Abend des 3. Juni litt er unter starken Schmerzen und konnte nach unserem allabendlichen Gespräch das Telefon nicht mehr auflegen. Ich kannte es, dass er abends oftmals verwirrt und müde war, ich bat ihn dann immer aufzulegen, um vielleicht später noch einmal zu telefonieren. Diesmal konnte er es nicht, er konnte das Telefon nicht auflegen, ich hörte ihn stöhnen und rief sofort die Schwester per Handy an und bat dringend, nach ihm zu sehen. Nach einer Weile wurde das Telefon aufgelegt. Ich ging jetzt davon aus, dass die Schwester bei ihm war und ihm geholfen würde, obgleich ich äußerst unruhig war und meine Freunde über facebook informierte.

Am nächsten Mittag erfuhr ich von der Betreuerin, dass er in „kritischem Zustand“ ins Krankenhaus gebracht wurde. Wie ich dem Arztbrief des Krankenhauses vom 10.06. entnehmen kann, kam er bereits mit einer Lähmung ins Krankenhaus. „Die Hemiparese links wurde erstmals am Tag vor der Aufnahme dokumentiert“, ist dort zu lesen.

Als medizinischer Laie kann ich übersetzen, dass ein Schlaganfall zwar dokumentiert, also erkannt war, aber nicht mit der gebotenen Dringlichkeit behandelt. Warum hat man ihn noch bis zum nächsten Mittag mit einem Schlaganfall liegen lassen?

Das ist aus meiner Sicht mehr als eine Fahrlässigkeit und hat nach meiner Einschätzung die schwere Beeinträchtigung, die Herr L. erlitten hat, mit verschuldet. Abgesehen von den medizinischen Indikationen, die Sie anführen und die vielleicht mit zum Tode geführt haben mögen, sehe ich in diesem schweren Behandlungsversäumnis die Hauptursache.

Bei der Trauerarbeit, für die Sie mir Unterstützung angeboten haben, wofür ich Ihnen natürlich dankbar bin, hilft mir vor allem eines: Aufklärung. Es geht mir nicht um Schuldzuweisungen. Damit kann auch mein geliebter Partner nicht mehr zum Leben erweckt werden. Ich würde Sie aber sehr um Ihre Meinung bitten, wie Sie die Umstände seiner Krankenhauseinweisung und -behandlung am 4. Juni sehen. Sie haben als behandelnder Arzt Zugang zu den Dokumenten und Arztbriefen.

Es war für mich nicht leicht, als „unverheiratete“ Partnerin überhaupt eine medizinische Kommunikation mit dem Heim zu führen und Informationen zu erhalten, insofern wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie meinem Problem mit der Ihnen möglichen Offenheit begegnen.

7. Juli 2020

Immer wieder tauchen die schrecklichen Bilder auf. Die Pfleger kamen um ihn zu „drehen“. Ich musste dann das Zimmer verlassen, ich hörte sein Schreien. Auf dem Flur die Schwester, die an mir vorbeihuschte. Sie war eine einzige große Uhr mit spitzen, stechenden Zeigern. Gleich würde sie ins Zimmer kommen, wenn die genehmigten zwei Stunden vorbei wären, und ich müsste meinen Engel alleine lassen. Hoffentlich schläft er! Wenn er aber wach wäre, würde er merken, dass ich weggehe. Diese Gedanken schossen durch meinen Kopf. Mir war zum Schreien. Wie gut wird es uns im Himmel gehen. Nichts kann mich trösten.

Jetzt fängt es erst an, der Kampf um die Wahrheit, der Kampf um die Rehabilitierung eines Corona-Lockdown-Toten. Wer sind die Schuldigen, wer sind die Totengräber.

Wer muss gebrandmarkt und für schuldig erklärt werden? Ich kann nicht zulassen, dass einem Anwalt, der sich nicht mehr verteidigen kann und der sich die ganze Zeit nicht verteidigen konnte, weil er an Demenz erkrankt war, ein solches Unrecht geschieht. Ich kann nicht zulassen, dass meinem Lebensgefährten ein solches Unrecht geschehen ist.

Mit meinem Nachbarn vom Gesundheitsamt hatte ich über den Arztbrief gesprochen, er riet mir von einer Strafanzeige ab, da ich ja auch selber keine Beweise, sondern nur Vermutungen hätte. Der Schlaganfall hätte auch nachts um drei sein können, da wäre auch das Zeitfenster für eine Lyse vorbei gewesen und die Schäden bereits irreversibel. Als Neurologe und ehemaliger Klinikchef habe er etliche solcher Verfahren erlebt. Ich solle mich lieber direkt an das Heim oder die Heimaufsicht wenden und um eine Aufklärung bitten. Und gegen die Corona-Maßnahmen gäbe es ohnehin keine rechtliche Handhabe. Die fallen alle unter das Infektionsschutzgesetz, das jetzt ja überall gelte und auf das man sich berufen wird.

...

30. Juli 2020

Heute war der Tag der Beisetzung…

Welch ein strahlender Sommertag auf dem Friedhof in Zehlendorf. Wir haben Musik gemacht in der kleinen Kapelle, Bratsche und Orgel, ich habe nochmal für ihn spielen können. Zusammen mit seiner Tochter. Er hat es gehört! Er war mit unter uns, seiner kleinen liebevollen Familie. Er war voller Freude über das, was geschah. Am Grab haben wir gesungen, „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“.
Ich habe unser gemeinsames Büchlein in sein Urnengrab geworfen, welche Traurigkeit. Es ist Papier. Verzeih mir, habe ich reingeschrieben. Verzeih mir! Jetzt ist alles nichts mehr wert. Nur eines ist gewiss: Ich sehne mich nach dir an diesem Sommertag, wo wir jetzt am See sitzen könnten, du auf der Bank, wo ich dich immer sah, wenn ich hinausgeschwommen bin.

Corona ist gekommen und hat sich fett aufgepflanzt in unserer Welt, hat uns den Atem genommen, den Sommer. Nein, nicht Corona. Corona ist nicht das Problem. Warum mache ich mir eigentlich diese Schuldgefühle, die mich zermartern. Niemals hättest Du das zugelassen. Aber Du bist jetzt nicht mehr da. Jetzt muss ich mich selber schützen. Und die Wahrheit finden. Denn nur die Wahrheit kann mich Trost finden lassen.

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Am Abend in der Kreuzberger Wohnung erhielt ich ein paar Mails. Es ging weiter mit der „Freiheit“. Am nächsten Tag war eine Großdemo in Berlin angekündigt. Ich las vom ACU, was bedeutet Allgemeiner Corona Untersuchungsausschuss. Ich googelte die Webseite und schrieb eine Kontaktmail:

Sehr geehrte Damen und Herren,

völlig aufgeregt lese ich gerade von der morgigen Großdemo in Berlin. Gestern habe ich meinen liebsten Freund und Lebenspartner beerdigen müssen, er hat die letzten 3 Jahre wegen Demenz im Heim verbracht, ein promovierter Rechtsanwalt und Schriftsteller. Er ist an den Folgen des Lockdowns gestorben, wir haben eine furchtbare Zeit durchleben müssen, unter völlig überzogenen Zwangsmaßnahmen und Verstößen gegen das Grundgesetz. Ich stelle Euch mein „Tagebuch 2020“ zur Verfügung, noch im August.

Bitte helft mir, dass sein Tod nicht ohne Konsequenzen bleibt und sinnlos war.
Ich bitte Euch um Unterstützung! Bitte schreibt mir.

1. August 2020

Dies ist mein „Tag am Meer“. Dieser Sommer hat nur einen Tag am Meer für mich – und das ist heute. Heute ist der 1. August 2020 und ich bin in Berlin. Zwei Tage nach der Beerdigung bin ich noch in Berlin geblieben. Wegen der Demo. Ich wollte ein Plakat tragen mit der Aufschrift: Der Lockdown hat meinen Mann getötet.

Ein Plakat hätte mir Mitleid, Anteilnahme, vielleicht auch Wut eingebracht. Aber warum nicht. Ich würde Anteilnahme erfahren, gibt es jetzt Besseres? Für ein Plakat fehlten mir jedoch die Nerven. Ich nahm eilig ein Foto aus einem Bild, das ich gerade von der Beerdigung mitgebracht hatte, steckte es in die Tasche und lief los zur U-Bahn.

Die Demo hatte schon am Vormittag begonnen. Jetzt war es Nachmittag, aber ich wollte wenigstens zur Kundgebung, wo ich mir auch die Leute vom ACU erhoffte. Als ich Unter den Linden ankam, kam gerade der Demonstrationszug zurück, um auf die Straße des 17. Juni zu ziehen, wo die Kundgebung sein sollte. Ich reihte mich ein. Freiheit wurde skandiert! Wie wunderbar war es, unter diesen Losungen auf der Straße zu sein. So etwas hatte ich lange nicht erlebt. Ich war den Tränen nahe. Ich dachte, sie demonstrieren heute alle für mein Leid. Alle sind sie gekommen! Tausende, vielleicht Millionen! Tränen rannen über mein Gesicht. In diesem Moment wusste ich, dass diese Demo heute sein musste. Um mich zu heilen. Und viele andere sicherlich auch!

Ich holte das Foto aus der Tasche, das gestern noch neben seiner Urne in der Kapelle gestanden hatte und trug es vor der Brust. Ich hielt es hoch gegen den Himmel. Sieh mein Schatz! Du bist bei uns, hier auf der Demo für die Freiheit und gegen die Unterdrückung, die wir erleben mussten, wir geben nicht auf, niemals! Ich drehte ein kleines Video für facebook, jemand hielt das Foto für mich. Ohne Worte, ohne Fragen. Wir standen alle zusammen – alle für eins.

Der Zug zog durch den Tiergarten zur Siegessäule. An der Hauptbühne angekommen, dauerte es nicht lange und die Demo wurde von der Polizei aufgelöst. Jetzt wurde skandiert „Wir bleiben hier“ oder „Schließt Euch an“. Jetzt erinnerte mich alles an 1989, an die DDR, an die Leipziger Demonstrationen. Langsam verließ ich das Geschehen, mit meinem Foto. Wir waren dabei, sagte ich zu meinem Schatz, ich nehme Dich immer mit.

9. August 2020

Der Sommer mit seinen Hitzetagen. Wie gern saß er in dieser Hitze in der Sonne! Sie erinnerte ihn an Spanien. Ich musste weinen, hemmungslos, heulen, allein mit der Hitze, allein, ohne ihn, in diesem Sommer. Er sollte ein Geschenk werden, dieser Sommer, und er wurde eine Last, ein Fluch. Nur der Gedanke an den Tod beruhigt, nur der.

Und die schöne Meditation, die mir Friedrichs Tochter schickte:

Meine Liebe sei den Hüllen
die dich jetzt umgeben
kühlend deine Hitze
wärmend deine Kälte
opfernd einverwoben
lebe liebgetragen
lichtdurchtränkt nach oben.

Es kamen noch Videos von der Demo am 1. August. Ein Anwalt packt aus, ein Polizist packt aus. Jetzt wird noch klarer, was man alles akzeptiert hat, hingenommen. Das war wie Selbstbestrafung.

Warum hat man das alles hingenommen? Konnte man sich nicht wehren?

13. August 2020

Heute war ich noch bei L. Wie schön, dass ihr Sohn auch bei der Demo am 1. August war. Er hat gesagt, dass viele Alte in den Heimen bestimmt an dem Lockdown gestorben seien – und nicht an Corona. Ja, sage ich, Dein Opa gehört dazu. Am 29. August ist die nächste Demo. Diesmal soll ganz Europa kommen, sagte er. Wie froh bin ich, dass die Enkel den Faden aufnehmen, dass dieser Wahnsinn nicht weitergehen darf. Dann war dieser Tod doch nicht ganz umsonst.

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15. 0ktober 2020

Der Gedanke, dass mein Lebensgefährte durch fahrlässiges Handeln der Regierung, das nicht durch die Verfassung legitimiert, sondern eine Selbstermächtigung ohne gesetzliche Grundlage war, in einen zu frühen Tod getrieben wurde, ist für mich schwer zu ertragen.

Weder hält es die Regierung für nötig, sich bei den Leidtragenden ihrer „Corona-Maßnahmen“ zu entschuldigen, noch ihre Fehler in irgendeiner Weise einzugestehen. Im Gegenteil, die Verfechter dieser teilweise völlig überzogenen Restriktionen zur „Eindämmung des Coronavirus“ werden in den staatlichen Medien bestärkt und öffentlich kaum einer produktiven Kritik unterzogen. Die Maßnahmen anzuzweifeln oder nur zu hinterfragen kommt fast einem Staatsverbrechen gleich.

Möge es Konsequenzen nach den eklatanten Fehlern während des ersten staatlich verordneten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 geben, der in den Pflegeheimen und bei den Angehörigen unendliches Leid heraufbeschworen hat. Damit den geschädigten und traumatisierten Menschen Gerechtigkeit widerfährt. Vor allem, damit die Fehler nicht noch einmal zu solch menschlich wie ethisch unverzeihlichen Zuständen führen.

Vogelfrei

Immer wollte ich frei wie ein Vogel sein
Mit dem Adler jagen.
Mit Vogel Strauß die Wahrheit sagen.
Mit Condor fliegen
Um die ganze Welt.

Natürlich alles ohne Geld.

Plappern wie ein Papagei
Von jeder Unterdrückung frei.
Schwingen wie eine Taube
Aufgestiegen aus enger Laube.
Gesellig wie ein Flamingo
Wie er mit wenig froh.

Vielleicht auch nur ein Schmetterling.
Erst eine Raupe, wie sie kriecht.
Um hernach den Kokon abzulegen
Und die Erde besiegt.

Oder irgend so ein Ding.

Friedrich Lautemann
In : Flo und Flöckchen träumen von der Liebe, Gedichte, 2020


Quellen und Anmerkungen:

Die Fotografie des Grabsteins stammt von Leslie Boegner.


Dieses auf Rubikon veröffentlichte Tagebuch erscheint unter dem Titel „Lockdown im Seniorenheim“ voraussichtlich im Juni 2021 mit zusätzlichen Fotografien und Texten als erweiterte Buchausgabe im Autorenverlag Sabine Lange, Preis: 14,90 Euro. Bestellungen über die Website der Autorin.

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