Zum Inhalt:
Unterstützen Sie Manova mit einer Spende
Unterstützen Sie Manova
Hätten die Bäume noch Blätter

Hätten die Bäume noch Blätter

Marina Silalahi wirft einen poetischen Blick auf eine kurze Szene im Speisesaal eines Altenheims.

Hätten die Bäume noch Blätter und trüge der Himmel sein Sommergewand, dann würde das welke Fleisch der rund fünfzig Bewohner im Altenheim noch einen Hauch Farbe annehmen. Aber jetzt gleichen sie den entlaubten Bäumen und dem Nebel, der das Land im Dezember einhüllt. Trostlos ist der Anblick der über 90 Jahre alten Senioren, die in ihren Rollstühlen, kopfüber gebeugt, vor sich hindösen.

Es sind die Lichterketten, die geschmückten Weihnachtsbäume, das Lachen der jungen Pflegerinnen, die über die Flure huschen, was diesen Platz vom Hades abzieht. Die jungen Pflegerinnen sind mir alle willkommen, selbst die ausladende Körperfülle stört mich nicht. Merkwürdig.

Ich schiebe meine Mutter in den Speisesaal. Er wird mit dem Gongschlag um 12 Uhr geöffnet. Jeder Bewohner hat seinen ihm zugewiesenen Platz einzunehmen. Ein Tischkärtchen haftet über Jahre an ein und demselben Platz. Erst der Tod nimmt die Namenschilder mit in sein Reich.

Die Dame, die uns am gleichen Tisch gegenüber sitzt, artikuliert etwas schnippisch, indem sie mit ihrem Haupt zu meiner Mutter deutet: „Nach dem Essen gehe ich sofort in mein Zimmer.“ Zwei alte Herren, die unserer Sichtachse nicht ausweichen können, geben mir ein Zeichen, dass sie sich mit mir verständigen wollen. „Also, junge Frau. Sie sind die Tochter von Frau S.? Gut, dass ich sie erwische. Ich habe ihrer Mutter Prothesenkleber gegeben. Es stört uns enorm, wenn ihr Gebiss beim Essen hin und her wackelt.“ — „Wenn Sie sich daran stören, gucken Sie einfach nicht hin, oder setzen Sie sich in die andere Richtung“, entgegnete ich den beiden „jungen Männern“. Jetzt kommt Stimmung in die Bude. Die Herrschaften sind Anfang 80 Jahre jung, erfahre ich. Generationenkonflikt. Meine Mutter ist 95.

Rückblickend sehe ich die Streitlust und all die unschönen Auftritte meiner Mutter in jüngeren Jahren, als die Dämonen noch Macht über sie hatten. Jetzt sind nicht nur alle Blätter abgefallen, sondern auch die dunklen Meister von ihr gewichen. Sie lächelt ganz ruhig vor sich hin. Ist das vielleicht der Sinn eines langen Lebens? Dass wir befreit von allen angehäuften Verderbnissen die Ewigkeit erwarten dürfen?


Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.

Weiterlesen

Schlachtfeld Gehirn
Thematisch verwandter Artikel

Schlachtfeld Gehirn

Die dritte Ausgabe der Print-Publikation GEGENDRUCK beschäftigt sich mit den Angriffen auf unseren freien Willen und die Meinungsfreiheit.

Regierungssturz durch Kassensturz
Aktueller Artikel

Regierungssturz durch Kassensturz

In mehreren Ländern Europas zeigen die lange Zeit funktionierenden Systeme Auflösungserscheinungen. Das hat mehr mit Geld zu tun, als gemeinhin kommuniziert wird.

Nie wieder Krieg!
Aus dem Archiv

Nie wieder Krieg!

Die Geschichte des Kosovo-Krieges zeigt: Ohne Solidarität mit den überfallenen Völkern kann die Friedensbewegung keine Kraft entwickeln.