Sie ist genervt.
Schon wieder. Eigentlich meistens. Ihr Grundzustand ist näher an der Genervtheit als an der Entspannung gebaut. Es fällt ihr erst seit Kurzem auf. Seit sie einen neuen Freund hat, der sich die Attacken ihrer Genervtheit nicht klaglos gefallen lässt und sie darauf hinweist, dass ihre Grundgenervtheit tiefere Ursachen haben muss.
Er ist nervös.
Seit einer therapeutischen Aufstellung, in der er sich mit dem alltäglichen Terror im Elternhaus seiner frühen Kindheit auseinandergesetzt hat, fällt es ihm erst richtig auf. Diese nervöse Unruhe, die sich im Oberbauch rumorend zeigt, ist öfter da als weg. Und wenn er sich jetzt erinnert, ahnt er, dass ihn diese Unruhe schon seit langem begleitet. Seit seiner frühen Kindheit schon?
Erst, seit er hinspürt und dem nagenden Gefühl eine Zeit und den Verdacht seiner Ursache zuweisen kann, bemerkt er sie immer öfter, diese nervöse Unruhe im Oberbauch.
Er nervös, sie genervt?
Wo kommt das her?
Muss das so bleiben?
Trauma als Volkskrankheit
„Trauma ist heute das drängendste Gesundheitsproblem unserer Gesellschaft, und wir wissen mittlerweile, wie wir Traumata effektiv behandeln können. An uns ist es, das, was wir wissen, in die Tat umzusetzen“ (S. 423).
Mit diesen Sätzen endet nach 423 Seiten das Buch „Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann“.
Es sind 423 sehr aufwühlende Seiten, eine schmerzhafte und doch heilsame Lektüre, ein Ritt durch mehrere Jahrzehnte der Traumaforschung und durch diverse Ansätze der Traumaheilung, die Bessel van der Kolk hier vorgelegt hat.
Der Autor ist eine Koryphäe der Traumaforschung und der Traumaheilung. Er begann seine Karriere mit der Therapie US-amerikanischer Veteranen des Vietnamkriegs. Er war führend beteiligt, die Diagnose PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) zu entwickeln und durchzusetzen. Er führte unzählige Studien durch, gründete ein Trauma-Center, erforschte Ursachen, Folgen und Heilungsmöglichkeiten von Traumata. Bis heute ist er selbst als Therapeut tätig.
Aber ist das denn wirklich wahr? Trauma als Gesundheitsproblem Nummer 1?
Bessel van der Kolk liefert für diese These schockierende Belege aus der US-amerikanischen Gesellschaft. Ein Indikator wäre die Epidemie, zu der sich die Abhängigkeit von Psychopharmaka ausgewachsen hat.
Van der Kolk, auch in diesem Bereich ein Forscher der ersten Stunde, ist nicht generell gegen diese Medikamente. Als sie neu aufkamen, war er einer der ersten, der mit Psychopharmaka experimentierte und war begeistert von den mit ihrer Hilfe erzielten, sensationellen Heilungserfolgen.
Bald aber wich diese Begeisterung wachsender Besorgnis. Die anfänglichen Sensationserfolge der Psychopharmaka erwiesen sich in Langzeitstudien oft als trügerisch. Was dennoch als ergänzendes Tool im Rahmen einer umfassenden Heilbehandlung durchaus sinnvoll sein kann, wucherte aus zu einem Milliardenmarkt.
Wo eine umfassende therapeutische Betreuung nötig wäre, werden nun immer öfter Medikamente verschrieben und dies inzwischen mit solcher Selbstverständlichkeit, dass Psychopharmaka lediglich zur Betäubung der seelischen Schmerzen weiter Teile der Bevölkerung dienen, woraus ein ganz eigenes Suchtproblem entstand.
Durch Medikamente allein aber kann echte Heilung nicht gelingen, denn für Bessel van der Kolk sind Depressionen, selbstgefährdendes Verhalten, Suizidversuche und Angstzustände nicht nur biochemische Prozesse oder „Stoffwechselerkrankungen“ des Gehirns. Traumatisierungen prägen sich ein in den Körper und den Geist der Menschen. Deshalb kann auch nur ein ganzheitlicher Ansatz zu ihrer Heilung führen:
„Um ein Trauma überwinden zu können, brauchen wir Hilfe bei dem Bemühen, den Kontakt zu unserem Körper, und damit zu uns selbst wiederherzustellen“ (S. 295).
Traumaspuren im Körper
Ein Mädchen wird vergewaltigt.
Der Körper leitet alle Reaktionen ein, die diese Situation erfordert. Das Adrenalin kickt nach oben, die Muskeln spannen sich an, im Gehirn werden jene Regionen aktiviert, die uns bei Flucht oder Kampf dienlich sind.
Aber das Mädchen kann nicht fliehen und es kann nicht kämpfen. Denn es ist ein ganz kleiner Mensch und der Mann, der das Mädchen vergewaltigt, ist ein sehr großer Mensch. Der hält das Mädchen fest, hält ihr den Mund zu. Nicht einmal schreien kann das Mädchen.
Viele, viele Jahre später ist das Mädchen eine Frau geworden, und sie hat sich verliebt in einen sehr netten, sympathischen Menschen. Als es aber zum Sex kommen soll, flippt die Frau plötzlich aus. Sie schlägt um sich, schlägt den Mann, beschimpft ihn, springt auf, rennt weg.
Was ist passiert?
Bessel van der Kolk erklärt anhand zahlreicher Untersuchungen mithilfe bildgebender Gefahren, was im Gehirn passiert, wenn Traumaopfer getriggert werden und einen Flashback erleben.
Es ist, als erlebte der Körper die traumatisierende Situation erneut. In unserem Beispiel etwa leitet der Körper erneut alle Prozesse ein, die er für Flucht und Kampf benötigt. Es ist, als sei diese körperliche Reaktion im Körpergedächtnis gefangen geblieben, weil sie damals zwar eingeleitet, aber nicht ausagiert werden konnte.
Das kleine Mädchen konnte nicht fliehen oder kämpfen. Jetzt kämpft die erwachsene Frau an einer Stelle, an der sie getriggert und die alte Traumasequenz aktiviert wurde.
Bessel van der Kolk war immer ganz vorne mit dabei, wenn es darum ging, Traumaspuren mit den jeweils neuesten technischen Methoden aufzuspüren. Mit bildgebenden Verfahren konnte so nachgewiesen werden, dass Traumatisierungen einige Regionen im Gehirn aktivieren und andere lähmen.
Sie können so auch auf das vegetative Nervensystem durchschlagen und allerhand chronische Krankheitsbilder auslösen, etwa Verdauungsprobleme oder Migräne.
Auch negative Auswirkungen auf die Herzratenfrequenz konnten van der Kolk und zahlreiche Kolleginnen und Kollegen nachweisen – faszinierenderweise aber auch jeweils die positive Wirkung erfolgreicher Traumaheilung auf all diese körperlichen Phänomene.
Triumph der Wissenschaft
Bessel van der Kolk und seine Kolleginnen und Kollegen!
Zu den erfreulichen Aspekten dieses Buches gehört, dass der Autor nicht seine private Heldenerzählung präsentiert, wie er im Alleingang den Drachen Trauma besiegt hat. Stattdessen erfährt der Leser, wie Wissenschaft als kooperativer Prozess vonstatten geht.
Eine riesige Zahl von Kolleginnen und Kollegen paradiert durch van der Kolks Buch. Er zitiert zahlreiche Studien und Forschungsergebnisse von anderen, die er als wegweisend, bahnbrechend und sensationell für das gemeinsame Projekt Traumaforschung und Traumaheilung einordnet. Er berichtet von fruchtbarer Zusammenarbeit in gemeinsamen Forschungsprojekten. Er greift auch auf die Ergebnisse früher Pioniere der Traumaforschung zurück.
Das ist höchst angenehm und stärkt des Lesers arg in Bedrängnis geratene Zuversicht, dass Wissenschaft eben doch mehr sein kann als ein von Lobbygeldern getriebener Zulieferbetrieb entfremdeter Interessen.
Allerdings spielen Interessen und Einflussnahme durchaus eine Rolle in Bessel van der Kolks Arbeitsbericht über mehr als ein Jahrhundert der Traumaforschung.
Er lässt uns teilhaben am Unverständnis von Bürokratien und seinem Anrennen gegen herrschende Dogmen in seinem eigenen Feld. Er beschreibt Rückschläge durch fatale politische Entscheidungen und die Macht der Pharmaindustrie.
Einen viel breiteren Raum aber nehmen Berichte aus der therapeutischen Arbeit ein. Bessel van der Kolk und nahezu alle der von ihm zitierten Kolleginnen und Kollegen sind keine reinen Theoretiker. Sie sind verankert im Alltag ihrer therapeutischen Heilpraxis. Sie sind in ständigem Kontakt mit Traumatisierten, erleben deren Verzweiflung und Hoffnung, nehmen Teil an ihren Schmerzen, an ihrem Scheitern und nicht immer nur an dem Erfolg ihrer Heilung, sondern oft genug auch an fürchterlichen Rückschlägen.
Diese Fallbeispiele zu lesen ist oftmals grauenvoll und schockierend. Was Menschen anderen Menschen antun! Welches ungeheure Ausmaß der sexuelle Missbrauch von Kindern in Familien hat! Wie hoch der Prozentsatz der Betroffenen ist und wie unfassbar die Grausamkeit ihrer Peinigung gewesen ist!
Man muss diese Lektüre aushalten können, aber wer sich diesen schmerzhaften Wahrheiten stellt, wird belohnt, denn Bessel van der Kolk hat ein Buch der Hoffnung geschrieben, dass immer wieder zeigt, dass selbst in der zerstörtesten Psyche der am schrecklichsten gefolterten Menschen ein Unzerstörbares intakt geblieben ist.
Der Mensch ist ein rätselhaftes Wesen. Und was auch immer uns widerfährt, wir entwickeln Überlebensstrategien, die uns ermöglichen, einen Teil unserer Psyche vor der Zerstörung zu bewahren. Typischerweise erwachsen aus diesen Überlebensstrategien ein Großteil unserer späteren Probleme. Aber sie sind auch die Wegweiser, wohin die Reise ins Gesunde und Ganze führen könnte.
Heilung ist möglich!
„Wie wird ein neugeborenes Baby mit all seinen Verheißungen und seinen unendlichen Möglichkeiten zu einem dreißigjährigen obdachlosen Alkoholiker?“ (S, 174).
Der Autor ist weit davon entfernt, diese Frage stumpf und eindimensional zu beantworten mit: „Durch Trauma“.
Bessel van der Kolks Buch ist stellenweise auch eine politische und speziell sozialpolitische Abrechnung. Die Rolle der Armut im Leben der Täter und Opfer von Traumatisierungen wird immer wieder benannt. Seine Verzweiflung am Zustand des Bildungssystems kommt immer wieder durch. Mitunter wird des Autors Wut greifbar über unfassbare politische Fehlentscheidungen.
Aber es ist auch ein Buch voller erfolgreicher Heilungsgeschichten. Die Methoden, die uns vorgestellt werden, sind zahlreich. Yoga hilft. Die Arbeit mit Pferden hilft. Gruppentherapie und Einzeltherapie. Sogar die therapeutische Arbeit mit einigen psychoaktiven Substanzen sieht van der Kolk als eine spannende Option, die aber noch weiter erforscht werden müsste.
Wiederum sympathisch, dass uns der Autor auch selbst als Patient und zu Heilender gegenübertritt. Denn einige Therapiemethoden hat er an sich selbst ausprobiert. Er ist eben nicht der Gesunde, der dem Kranken als allmächtiger Heiler gegenübertritt. Bessel van der Kolk ist auch ein Suchender. Aber auch einer, der sehr viel herausgefunden hat.
So erleben wir in vielen Fallgeschichten mit, wie Leute, denen Unfassbares angetan wurde, einen Weg zum Leben finden. Es geht also, mit den richtigen Ansätzen, mit Geduld und mit Liebe. Trauma ist eine Volkskrankheit – aber sie ist heilbar.
Ob diese Heilung stattfindet, ist auch eine Frage nach gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, nach Prioritätensetzungen und dem Kampf gegen die Pharmalobby.
Aber die Methoden sind da.
Traumapatienten können geheilt werden.
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