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Gewaltsam exmatrikuliert

Gewaltsam exmatrikuliert

In den USA werden Studenten verhaftet und des Campus verwiesen, wenn sie auf dem Universitätsgelände für die Rechte der Palästinenser im zerbombten Gazastreifen demonstrieren.

Princeton, New Jersey. Als sie heute Morgen aufwachte, wusste Achinthya Sivalingam, Absolventin des Studiengangs Public Affairs an der Princeton University, nicht, dass sie sich kurz nach 7 Uhr Hunderten von Studenten im ganzen Land anschließen würde, die wegen ihres Protestes gegen den Völkermord im Gazastreifen verhaftet, ausgeschlossen und vom Campus verbannt wurden.

Sie trägt ein blaues Sweatshirt und während ich mit ihr spreche, kämpft sie manchmal mit den Tränen. Wir sitzen an einem kleinen Tisch im Small World Coffee Shop in der Witherspoon Street, einen halben Block von der Universität entfernt, die sie nicht mehr betreten darf, von der Wohnung, in der sie nicht mehr leben kann, und von dem Campus, auf dem sie in wenigen Wochen ihren Abschluss machen sollte.

Sie fragt sich, wo sie die Nacht verbringen wird.

Die Polizei gab ihr fünf Minuten, um Dinge aus ihrem Apartment zu holen. „Ich habe wirklich wahllos nach Dingen gegriffen“, sagt sie. „Ich habe Haferflocken mitgenommen, warum auch immer. Ich war wirklich durcheinander.“

Studentische Demonstranten im ganzen Land zeigen einen moralischen und körperlichen Mut — viele von ihnen müssen mit Suspendierung und Rauswurf rechnen —, der jede große Institution des Landes beschämt. Sie sind nicht etwa gefährlich, weil sie das Leben auf dem Campus stören oder sich an Angriffen gegen jüdische Studenten beteiligen — viele der Demonstranten sind Juden —, sondern weil sie das jämmerliche Versagen der herrschenden Eliten und ihrer Institutionen entlarven, den Völkermord — das Verbrechen der Verbrechen — zu stoppen.

Diese Studenten sehen sich, wie die meisten von uns, das von Israel begangene und live übertragene Gemetzel an der palästinensischen Bevölkerung an. Im Gegensatz zu den meisten von uns reagieren sie jedoch. Ihre Stimmen und Proteste sind ein starker Kontrapunkt zum moralischen Bankrott, der sie umgibt.

Kein einziger Universitätspräsident hat die Zerstörung jeder einzelnen Universität in Gaza durch Israel verurteilt. Nicht ein einziger hat einen sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand gefordert. Kein einziger hat die Worte „Apartheid“ oder „Völkermord“ in den Mund genommen. Nicht ein einziger hat Sanktionen und Desinvestitionen gegen Israel gefordert.

Stattdessen katzbuckeln die Leiter dieser akademischen Institutionen unterwürfig vor wohlhabenden Spendern, Unternehmen — darunter auch Waffenhersteller — und fanatischen rechten Politikern. Sie framen die Debatte um: Ihnen geht es um das Leid der Juden und nicht um das tägliche Abschlachten der Palästinenser, darunter Tausende von Kindern.

Sie haben den Tätern — dem zionistischen Staat und seinen Unterstützern — erlaubt, sich selbst als Opfer darzustellen. Dieses falsche, auf Antisemitismus fokussierte Narrativ, erlaubt es den Zentren der Macht, darunter auch den Medien, das wahre Thema — den Völkermord — auszublenden.

Es verschmutzt die Debatte. Es ist ein klassischer Fall von „reaktivem Missbrauch“. Erhebe deine Stimme, um Ungerechtigkeit anzuprangern, reagiere auf anhaltende Misshandlung, versuche, Widerstand zu leisten — und plötzlich verwandelt sich der Täter in den Geschädigten.

Wie andere Universitäten im ganzen Land ist die Princeton University fest entschlossen, Lager zu unterbinden, die ein Ende des Völkermordes fordern. Offenbar handelt es sich hier um eine koordinierte landesweite Aktion von Universitäten.

Die Universität wusste im Voraus von dem geplanten Lager. Als die Studenten heute (25. April 2024; Anmerkung der Übersetzerin) morgen bei den fünf Aktionsorten ankamen, trafen sie auf eine große Anzahl Mitarbeiter der Abteilung „Öffentliche Sicherheit“ der Universität und der Polizeibehörde von Princeton. Der für das Lager vorgesehene Platz vor der Firestone-Bibliothek war voller Polizei.

Und das, obwohl die Studenten ihre Pläne nicht über Universitäts-E-Mails verbreitet haben, sondern nur über vermeintlich sichere Apps. Unter den Polizisten stand diesen Morgen auch Rabbi Eitan Webb, der Princetons Chabad House gegründet hat und leitet. Laut studentischen Aktivisten hat er an universitären Veranstaltungen teilgenommen, um diejenigen, die ein Ende des Völkermords fordern, lautstark als Antisemiten zu beschimpfen.

Während die etwa 100 Demonstranten Rednern zuhörten, kreiste lärmend ein Hubschrauber über ihnen. Auf einem Transparent an einem Baum stand: „From the River to the Sea, Palestine Will be Free.”

Die Studenten sagten, sie würden ihren Protest so lange fortführen, bis die Princeton University ihre Investitionen von Unternehmen abzieht, die „von der andauernden Militärkampagne Israels“ in Gaza „profitieren oder sich daran beteiligen“, bis sie universitäre Forschung zu „Kriegswaffen“ beendet, die vom Verteidigungsministerium finanziert wird, bis sie einen akademischen und kulturellen Boykott israelischer Einrichtungen verhängt, bis sie palästinensische akademische und kulturelle Einrichtungen unterstützt und sich für einen sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand einsetzt.

Wenn die Studenten jedoch erneut versuchen, Zelte aufzubauen — nach den beiden Festnahmen heute morgen wurden 14 Zelte abgebaut —, scheinen sie mit Sicherheit alle verhaftet zu werden. „Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet“, sagt Aditi Rao, eine Doktorandin der Altphilologie. „Bereits sieben Minuten nach Beginn des Camps begannen sie, Menschen zu verhaften.“

Rochelle Calhoun, Vizepräsidentin für Campus-Angelegenheiten in Princeton, hatte am Mittwoch Massen-E-Mails versendet, in denen die Studenten gewarnt wurden, dass sie festgenommen und des Campus verwiesen werden könnten, wenn sie ein Lager errichteten.

„Jede Person, die sich an einem Lager, einer Besetzung oder anderem rechtswidrigem störenden Verhalten beteiligt und sich nach einer Warnung weigert, damit aufzuhören, wird festgenommen und sofort vom Campus ausgeschlossen“, schrieb sie. „Ein solcher Ausschluss vom Campus würde für Studenten bedeuten, dass sie ihren Semesterabschluss gefährden.“

Sie fügte hinzu, dass diese Studenten suspendiert oder der Universität verwiesen werden könnten.

Sivalingam traf auf einen ihrer Professoren und bat ihn flehentlich um Unterstützung für den Protest seitens der Fakultät. Er teilte ihr mit, dass er kurz vor seiner Festanstellung („tenure“ ist mit einer unkündbaren Verbeamtung zu vergleichen; Anmerkung der Übersetzerin) stehe und nicht teilnehmen könne. Der Kurs, den er lehrt, heißt „Ökologischer Marxismus“.

„Es war ein bizarrer Moment“, sagt sie. „Das ganze letzte Semester hatte ich über Ideen und Evolution und zivilen Wandel, sozialen Wandel nachgedacht. Es war ein verrückter Moment.“ Sie beginnt zu weinen.

Wenige Minuten nach 7 Uhr morgens verteilte die Polizei ein Flugblatt mit der Überschrift „Princeton University Warning and No Trespass Notice” („Warnhinweis und Betreten verboten“) an die Studenten, die gerade ihre Zelte aufbauten. In dem Flugblatt wurde erklärt, dass die Studenten „auf dem Gelände der Princeton University ein Verhalten an den Tag legten, das gegen Regeln und Vorschriften der Universität verstößt, eine Bedrohung für die Sicherheit und das Eigentum Anderer darstellt und den regulären Betrieb der Universität stört: Ein solches Verhalten beinhaltet die Teilnahme an einem Zeltlager und/oder die Störung einer Veranstaltung der Universität“.

In dem Flugblatt stand weiter, dass diejenigen, die sich an dem „verbotenen Verhalten“ beteiligten, als „Defiant Trespasser gemäß dem Strafrecht von New Jersey (N.J.S.A. 2C:18-3) betrachtet werden und unverzüglich verhaftet werden“. (Anmerkung der Übersetzerin: in manchen Bundesstaaten der USA wird ein Unterscheid zwischen „Trespassing“ und "Defiant Trespassing“ gemacht: „Trespassing" ist unbefugtes Betreten fremden Eigentums, wogegen „Defiant Trespassing“ ein unbefugtes Betreten trotz ausdrücklichen Verbots des Betretens bedeutet).

Ein paar Sekunden später höre Sivalingam einen Polizeibeamten sagen: „Schnappt euch die beiden.“ Hassan Sayed, ein Doktorand in Wirtschaftswissenschaften pakistanischer Herkunft, war gerade dabei, gemeinsam mit Sivalingam ein Zelt aufzubauen. Ihm wurden Handschellen angelegt. Bei Sivalingam wurden die Hände so fest mit Kabelbindern zusammengebunden, dass die Blutzirkulation verhindert wurde. Ihre Handgelenke sind voller Blutergüsse.

„Es gab eine anfängliche Warnung der Polizei wie ‚Das ist unbefugtes Betreten’ oder so ähnlich und ‚Dies ist Ihre erste Warnung‘ “, sagt Sayed.

„Es war sehr laut, ich habe nicht viel gehört. Plötzlich wurden mir die Hände auf den Rücken gedrückt. Dabei verspannte sich mein rechter Arm ein wenig und sie sagten: ‚Sie widersetzen sich der Verhaftung, wenn Sie das tun.‘ Dann legten sie mir die Handschellen an.“

Einer der Polizisten, die ihn festnahmen, fragte ihn, ob er ein Student sei. Als er zustimmte, informierten sie ihn unverzüglich, dass er sich nicht mehr auf dem Campus aufhalten dürfe. „Soweit ich das gehört habe, wurden keine Anklagepunkte erwähnt“, sagt er. „Sie führten mich zu einem Wagen und tasteten mich ein wenig ab. Sie verlangten meinen Studentenausweis.“

Sayed wurde gemeinsam mit Sivalingam, die wegen der Kabelbinder starke Schmerzen erlitt, auf den Rücksitz eines Wagens der Campus-Polizei verfrachtet. Er bat die Polizei, die Kabelbinder um Sivalingams Handgelenke zu lockern, was mehrere Minuten dauerte, weil sie Sivalingam aus dem Auto holen mussten und die Schere den Kunststoff nicht durchschneiden konnte. Sie mussten einen Seitenschneider auftreiben. Dann wurden sie zur Polizeistation der Universität gebracht.

Sayed wurden Telefon, Schlüssel, Kleidung, Rucksack und AirPods abgenommen und er in eine Zelle gebracht. Niemand las ihm seine Miranda-Rechte vor (Anmerkung der Übersetzerin: „Miranda Rights“ nennt man in den USA die Belehrung eines Verhafteten über seine Rechte, darunter auch das Aussageverweigerungsrecht).

Erneut teilte man ihm mit, er habe ein Betretungsverbot für den Campus. „Handelt es sich hier um einen Rauswurf?“, fragte er die Campus-Polizei. Diese antwortete nicht. Er bat darum, einen Rechtsanwalt anrufen zu dürfen. Ihm wurde erwidert, er könne einen Anwalt anrufen, sobald die Polizei so weit sei.

„Möglicherweise haben sie etwas über unbefugtes Betreten gesagt, ich kann mich aber nicht genau erinnern“, sagt er. „Auf jeden Fall wurde es mir nicht deutlich gemacht.“ Er wurde aufgefordert, Formulare über seine psychische Gesundheit auszufüllen und anzugeben, ob er Medikamente einnehme. Dann wurde er darüber informiert, dass er wegen „Defiant Trespassing“ (siehe oben) angeklagt werde.

„Ich sage, ‚Ich bin ein Student, wie kann es sich um unbefugtes Betreten handeln? Ich gehe hier zur Uni‘“, sagt er.

„Sie scheinen wirklich keine Antwort darauf zu haben. Ich frage noch einmal, ob meine Verbannung vom Campus einen Rauswurf bedeutet, weil ich auf dem Campus lebe. Sie sagen nur ‚Betretungsverbot des Campus‘. Ich sage, das beantworte meine Frage nicht. Sie sagen, es würde alles in dem Schreiben erklärt. Ich frage: ‚Wer verfasst dieses Schreiben?‘ und sie antworten ‚Der Dekan der Hochschule‘.“

Sayed wurde zu seiner Unterkunft auf dem Campus gefahren. Die Polizei händigte ihm seine Schlüssel nicht aus. Man gewährte ihm ein paar Minuten, um Gegenstände wie sein Handyladegerät zu holen. Sie schlossen seine Wohnung ab. Auch er sucht im Small World Coffee Shop Zuflucht.

Sivalingam kehrte in den Sommerferien häufig in ihre Geburtsstadt Tamil Nadu in Südindien zurück. Die Armut und der tägliche Überlebenskampf der Menschen um sie herum war, so sagte sie, „ernüchternd“.

„Die Diskrepanz zwischen meinem und ihrem Leben, die Frage, wie man diese Dinge miteinander in Einklang bringt, die ja in derselben Welt existieren“, sagt sie mit vor Rührung zitternder Stimme, „das war immer sehr bizarr für mich. Ich denke, zu einem großen Teil rührt daher mein Interesse an der Bekämpfung der Ungleichheit, an der Fähigkeit, Menschen außerhalb der USA auch als Mitmenschen anzusehen und als Menschen, die Leben und Würde verdienen.“

Nun muss sie sich an ihre Verbannung vom Campus gewöhnen.

„Ich muss einen Platz zum Schlafen finden“, sagt sie, „und es meinen Eltern erzählen — das wird aber ein schwieriges Gespräch. Und ich muss Möglichkeiten finden, Inhaftierte zu unterstützen sowie mich an der Kommunikation zu beteiligen. Ich kann ja nicht dort sein, aber ich kann weiterhin mobilisieren.“

Es gibt viele beschämende Zeiten in der US-Geschichte. Der Völkermord, den wir an indigenen Völkern begangenen haben. Die Sklaverei. Die gewaltsame Unterdrückung der Arbeiterbewegung, bei der Hunderte von Arbeitern getötet wurden. Jim und Jane Crow („Jim Crowe“ bezeichnet die Gesamtheit der Gesetze zur Rassendiskrimierung der schwarzen Bevölkerung in den USA. Paul Murray hat den Begriff um „Jane“ erweitert, um auf die erschwerten Bedingungen farbiger Frauen, darunter vor allem Sexismus, hinzuweisen; Anmerkung der Übersetzerin). Vietnam. Irak. Afghanistan. Libyen.

Der Völkermord in Gaza, den wir finanzieren und unterstützen, hat solche monströsen Dimensionen angenommen, dass ihm ein Ehrenplatz in diesem Pantheon der Verbrechen sicher ist.

Die Geschichte wird den meisten von uns nicht wohl gesonnen sein. Diese Studenten jedoch wird sie segnen und verehren.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Revolt in the Universities“ auf dem Blog von Chris Hedges. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratteam lektoriert.


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