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Geduzt, gedrückt, geerdet

Geduzt, gedrückt, geerdet

Der Widerstand gegen die Coronapolitik hat an vielen Orten Gemeinschaften entstehen lassen, die das Land verändern werden.

„Unsere Parallelgesellschaft“ stand in der Einladung, die mir Walter van Rossum vor einigen Wochen für seine Sendung „The Great WeSet“ geschickt hat. Der Kollege beschrieb dort etwas, was ich bisher nur aus dem Buch „Reale Utopien“ von Erik Olin Wright kannte. O-Ton Walter van Rossum: In „erstaunlicher Geschwindigkeit“ sei aus lauter „Einzelkämpfern“ eine „kritische Gegenöffentlichkeit“ geworden, „die sich mittlerweile über den pandemischen Anlass hinaus als Parallelgesellschaft formiert und den herrschenden Mächten das Leben schwer macht“.

Auf dieser Plattform muss ich vermutlich nicht erklären, dass „The Great WeSet“ ein Videotalk ist, bei dem sich ein paar Menschen aus dem Rubikon-Universum über das unterhalten, was sie gerade umtreibt. Ein Heimspiel sozusagen. Der Moderator hat mir mit seiner Mail trotzdem einen Schreck eingejagt.

Wusste ich irgendetwas über eine Parallelgesellschaft? Wer mag mit den „Einzelkämpfern“ gemeint sein? Würde ich nachher auf dem Bildschirm vielleicht sogar ein paar von ihnen treffen? Und, am wichtigsten: Trifft die Diagnose überhaupt? Gibt es da draußen tatsächlich etwas, das „den herrschenden Mächten das Leben schwer macht“?

Also Erik Olin Wright. Wenigstens ein bisschen vorbereitet sein. In meiner Erinnerung war das Buch „Reale Utopien“ ein „Kompass“ für die „Entdeckungsreise“ auf dem Weg in eine neue Welt (1). Ich wusste noch, dass Wright die Prinzipien Profit und Kapitalakkumulation ablehnt und dass er weder von Revolution sprechen wollte noch von Reform. Als Denkmodelle gestorben. Ein geläuterter Sozialismusprophet sozusagen, der möchte, dass wir mitreden können, wenn es um unser Leben geht, und weiß, dass das nur funktioniert, wenn alle ungefähr gleich viel haben. Hängengeblieben war bei mir vor allem der Buchtitel. Reale Utopien. In „den Räumen und Rissen“ des Kapitalismus „Institutionen, Verhältnisse und Praktiken“ entwickeln, die „die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen“ (2).

Wie das so ist mit den Erinnerungen. Sie verklären die Vergangenheit und ganz offensichtlich sogar Bücher. Die schönen Sätze stehen immer noch bei Erik Olin Wright. Was ich damals aber überlesen oder wenigstens nicht ernst genommen habe: Wright konnte 2019 als Optimist sterben, weil er Klimadebatte und Digitalisierung als Segen begriff. Das eine werde den Staat zwingen, seine Schatullen zu öffnen, und so „neue politische Spielräume“ öffnen für alle, die eine gute Idee haben und öffentliche Mittel brauchen. Und das andere, die „Informatikrevolution“, führe zum Ende der Lohnarbeit und damit fast automatisch zu Grundeinkommen und „gesellschaftlicher Ermächtigung“, weil die Menschen plötzlich Luft haben werden, ihr Dasein ganz neu zu denken (3).

Eine Pandemie später wissen wir mehr.

Wir haben gesehen, dass der Staat ununterbrochen Geld drucken und trotzdem ganz nebenbei die Freiheit von allen einschränken kann, die aus seinem Narrativ ausbrechen und anders leben wollen. Das Handykonto wird so nicht zu einem Hebel der Freiheit oder gar zu einer Utopie, sondern zu einer digitalen Fessel.

Ganz klar: Erik Olin Wright ist nichts für „The Great WeSet“.

Manchmal hilft es, selbst ein Buch zu schreiben. „Die Propaganda-Matrix“ (4) hat mich in den letzten Monaten quer durchs Land geführt — in eine Osteopathie-Praxis, in ein Atelier und in eine Tischlerwerkstatt, in ein Schloss und auf Konzertbühnen, in eine Dorfkirche und in Gaststätten natürlich.

Manchmal klebte ein Zettel mit dem Logo der Partei „dieBasis“ an der Tür, obwohl mir die Organisatoren stets versicherten, dass sie mit dem Parlamentarismus nicht viel am Hut haben. Als Schutzschild sei das aber ganz gut. Falls Ordnungshüter vorbeischauen, switche man eben den Modus und mache aus Vortrag und Diskussion eine Parteiversammlung. In der Kirche hatte der Pfarrer eine Andacht angekündigt, mit allem Drum und Dran. Die Orgel, die Bibel und wir. Und dann erst die Matrix.

Wichtiger als das Etikett sind die Menschen. Neue Menschen, die früher nie zu einer Veranstaltung mit einem Professor gegangen wären, schon gar nicht zum Thema Medien und Journalismus. Vielleicht täusche ich mich da auch, aber früher, als das Wünschen noch zu helfen schien, wurde anders geredet und gefragt. Wer damals die Hand hob, hatte recht und wollte das allen im Saal zeigen – ganz besonders dem Mann da vorn. Heute freut man sich über jeden, der da ist. Oft kennt man sich, duzt sich, drückt sich zur Begrüßung und zum Abschied. Nicht immer leicht für jemanden, der am Meer aufgewachsen ist, wo man den Mund kaum aufmacht und den anderen lieber aus dem Weg geht, um Kraft zu sparen für Kälte und Wind. Da muss ich jetzt durch.

Das Duzen kenne ich aus der DDR. Wo ein Genosse ist, da ist die Partei. Fast vergessen hatte ich, wie schön ein Büfett mit lauter selbst gemachten Sachen sein kann, ganz ohne die Tausend Warnschilder, die es heute bei jedem Kuchenbasar in der Kita gibt. Allergien hier, Gift für Veganer dort. Und die Hobbybäckerin zeigt, dass sie alle Codes der Political Correctness aus dem Effeff beherrscht. Es geht auch anders. Danke, Ihr Lieben, für all das, was wir zusammen gegessen und getrunken haben.

Diese realen Utopien funktionieren ohne Ankündigung in der Lokalzeitung und ohne Plakate in der ganzen Stadt. Man weiß, wo man samstags hingeht, dienstags, mittwochs. Man informiert sich gegenseitig, wenn ein Gast kommt. Und man hört nicht nur zu, sondern bastelt an der Zukunft.

Ich habe von Veranstaltungs- und Vortragsreihen gehört, von Arbeitsgruppen, die längst Pläne für einen Blackout in der Schublade haben oder für noch größere Katastrophen, und sogar von einer eigenen Währung. Lasst uns nicht auf den nächsten Parteitag warten oder auf eine Rundmail aus dem Vorstand. Lasst uns anfangen. Mein Eindruck: Jeder bringt das ein, was er kann. Wer goldene Hände hat, baut Stühle und Regale, wer reden kann, moderiert, und wer eine Ferienwohnung hat oder gar ein Hotel — perfekt. Manche haben auch einfach nur Kontakte, Konten, Geld. Kapital erleichtert vieles, egal in welcher Form.

Diese Parallelgesellschaften kommen nicht von unten – weder von den ganz Jungen noch von den ganz Armen. Über Corona mussten wir nirgendwo viel reden. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen in kürzester Zeit über ein Thema lernen können, das für die allermeisten vorher ein blinder Fleck war. Medizin, Gesundheitspolitik, Details über den Körper und das, was Ärzte und Fanatiker aus ihm machen. Drei, vier Schlagworte – und jeder wusste, dass die anderen auf dem gleichen Stand sind. So blieb Zeit, um über die Söhne zu sprechen und über die Töchter. Sag mir, wo die Kinder sind. Bei der Antifa, wo sonst.

Erik Olin Wright hat sich keine Gedanken gemacht über die Altersstruktur in seinen realen Utopien. In den Parallelgesellschaften der Gegenwart ist dieses Thema omnipräsent. Immerhin: Die Jugend ist nicht ganz außen vor, beim Rubikon sowieso nicht. Ich war auch bei #studentenstehenauf und bin mit mindestens drei Ideen für das nächste Buch nach Hause gekommen.

Nicht gelöst wurde allerdings auch dort das Rätsel, was passiert, wenn die Klammer Corona eines Tages wegfallen sollte. Ohne gemeinsamen Gegner, das lehren nicht nur Sozialpsychologie und Geschichte, bröckelt der Zusammenhalt. Im März war plötzlich ein neues Thema da und mit ihm ein Vorgeschmack auf neue Gräben.

Eine „beispiellose soziale Rekonstruktion“ nennt Ulrike Guérot das, was in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis in den letzten zwei Jahren passiert ist (5). Zugespitzt: Bruch mit vielen von denen, die bis eben noch total wichtig waren, und hinein in ein Abenteuer mit lauter Menschen, die man seit einer Ewigkeit zu kennen scheint, obwohl man sie erst vor ein paar Tagen zum ersten Mal getroffen hat. In dieser Diagnose steckt eine Prognose: Der Kitt ist stark genug, um einen Krieg zu überdauern und erst recht den Trott des Alltags. Man kennt das aus den Erzählungen von Dissidenten oder Überlebenden.

Über all das haben wir bei „The Great WeSet“ nicht gesprochen. Walter van Rossum hat sein Bestes versucht, aber wir waren dann doch schnell bei der Geopolitik und bei den großen Linien. Die Zukunft, das habe ich bei meiner Tour gelernt, wird nur bedingt in Washington, Peking oder Moskau gemacht. Die Zukunft beginnt da, wo wir solche Texte lesen.


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Stimmen zum Buch

„Ist zu den Themen Medien und Medienkritik bereits alles Wichtige gesagt? Michael Meyen belehrt uns auf fulminante Weise eines Besseren. Der Autor führt in die verzweigte Debatte ein, verdichtet sie, spitzt sie zu und treibt sie voran, entwickelt Perspektiven — stilistisch brillant, mitreißend, erhellend. Medienkritische Aufklärung als Lesegenuss!“
Ulrich Teusch, Professor für Politikwissenschaft

„Wer wie Goethes ‚Faust‘ wissen will, was ‚die Welt im Innersten zusammenhält‘, der muss Michael Meyens brillante Darstellung lesen, die tiefe Einblicke in die gegenwärtige Medien-Matrix liefert. Mit erzählerischer Leichtigkeit und analytischer Schärfe werden die Erkenntnisse von intellektuellen Größen wie Hannah Ahrendt, Ulrich Beck, Pierre Bourdieu, Noam Chomsky, Michel Foucault, Walter Lippmann und Niklas Luhmann für die Beobachtung (...) fruchtbar gemacht. Sichtbar werden die ‚blinden Flecken‘, aber auch die neuen Chancen von demokratischer Beteiligung und selbstbestimmter Erkenntnis.“
Carsten Gansel, Literaturwissenschaftler

„Michael Meyens Buch ist trotz des knalligen Titels vor allem eines: solide Wissenschaft. Der Autor verbindet dabei zwei Qualitäten, die im akademischen Feld Seltenheitswert haben: Er schreibt prägnant, ohne Umschweife und vermeidet zugleich jede Selbstgerechtigkeit. Dieser Stil ist auch den politischen Debatten zu wünschen, die dieses Buch mit seinen brisanten, brandaktuellen Überlegungen hoffentlich anstößt.“
Paul Schreyer, Bestsellerautor

„Michael Meyen geht es um mehr als um Verständnis für sein Fach. Er bietet seine Expertise, klärt auf, macht verstehbar und veranschaulicht Mechanismen mit nichts weniger als der Freiheit im Blick. Ein Weißbuch für einen besseren Journalismus, wenn nicht für eine Revolution der Medien!“
Martin Sinzinger, Naturfotograf

„Ein mutiges Buch, auf den Punkt. Meyens Medienbeobachtungen führen uns vor Augen, wie real die Abgründe im ‚Journalismus‘ unserer Zeit sind.“
Marcus Klöckner, Journalist


Quellen und Anmerkungen:

(1) Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp 2017, Seite 71
(2) Ebenda, Seite 11
(3) Ebenda, Seiten 18 bis 20
(4) Michael Meyen: Die Propaganda-Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft. München: Rubikon 2021
(5) Ulrike Guérot: Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen. Frankfurt/Main: Westend 2022, Seite 135


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