Anna hat an diesem 31. Dezember 2020 ganz andere Sorgen. Das heißt, es sind keine Sorgen, sondern Schmerzen. Sie liegt in den Wehen. Das Krankenhaus Tulln an der Donau, 40 Kilometer westlich von Wien gelegen, ist bekannt für seine Geburtshilfestation. Viele werdende Mütter aus Niederösterreich zieht es hierher, um ihr Kind zur Welt zu bringen. Vor neun Monaten hatte man die Geburtsabteilung eines anderen Bezirkskrankenhauses nach Tulln verlegt, um dort Platz für Corona-Fälle zu schaffen. Dieser Platz wurde dann zwar nicht benötigt, die Struktur blieb jedoch aufrecht, sodass seither in Tulln viel mehr Babys zur Welt kommen als vor dem Ausbruch der Corona-Krise.
Anna wirkt bereits seit Tagen angespannt und nervös. Es ist ihre erste Geburt. Die Schmerzen weg zu atmen, so gut es geht, hat sie per Video-Clip gelernt. Ganz zu Anfang, bevor man ihr das entsprechende Programm auf ihren Computer überspielt hat, gab es ein sogar ein Live-Gespräch mit einer Ärztin und einer Hebamme. Beide konnten ein frisches Attest vorweisen, dass sie negativ auf das Virus getestet worden waren. Das beruhigte die Familie von Anna. Die einzige Hebamme im Spital, die Covid-19 ohne große Probleme hinter sich gebracht hatte und damit als Alpha-Mensch immunisiert war, blieb Gebärenden mit privater Zusatzversicherung vorbehalten. Anna zählt nicht dazu.
Was Anna neben den Wehen sehr zu schaffen macht, ist die geltende Gesetzeslage. Sie ist gerade erst 19 Jahre alt und unverheiratet. Ihr Freund arbeitet in Wien und lebt, wie sie, bei den Eltern. Gemeinsam haben sie vereinbart, dass er nicht bei der Geburt dabei sein soll. Die Behörden könnten das als Provokation auffassen. Zwar dürfen die Väter der frisch Geborenen seit dem Herbst wieder im Gebärraum anwesend sein, Mund- und Ganzkörperschutz sowie Abstandsregel vorausgesetzt, aber Anna und ihr Freund sind skeptisch, ob es sich bei dieser Regelung für sie nicht um eine Falle handeln könnte. Deshalb wird Annas Mutter den Platz des Freundes einnehmen und für ein wenig Geborgenheit sorgen.
Die Abstandsregel ist es, die der jungen Familie von Anfang an zum Verhängnis werden könnte. Denn eines ist laut Gesetzeslage klar: der Geschlechtsakt, der Anfang April 2020 zur Befruchtung geführt hatte, war illegal. Anna und ihr Freund schliefen auch vor den Corona-Dekreten schon miteinander. Ab Mitte März 2020 war dies jedoch verboten, weil die beiden nicht zusammen in einem Haushalt lebten. Also trafen sie sich des öfteren geheim in einem Wiener Park, immer auf der Hut, nicht von einer Polizeistreife entdeckt und nach ihren Wohnsitzen befragt zu werden. Dass dies gelang, machte sie stolz. An einem warmen Frühlingsabend liebten sie sich während eines längeren Spaziergangs im Wienerwald. Was sie trotz all ihrer Vorsicht nicht bedachten, war, dass sie mit der Schwangerschaft ein Tracking-Zeichen setzten, das stärker als jede App ist. Das Geburtsdatum der Tochter zeugte vom Gesetzesbruch des Paares Anfang April. Die Ausgangssperre erlaubte Liebesnächte nur jenen, die in einem gemeinsamen Haushalt lebten, und die Abstandsregel von einem Meter tat ihr Übriges und tut es bis heute.
Nach der Niederkunft wird im Januar 2021 erst einmal die Freude über den Nachwuchs dominieren, bevor die Sorge über die Bestrafung für den Liebesakt vom April Einzug hält. Anna und ihr Freund stehen damit nicht alleine da. Tausende von heimlichen Liebespaaren, die um die Jahreswende 2020/2021 ihr größtes Glück, nämlich ein Kind, erfahren, bringen damit gleichzeitig die Behörden auf die Spur eines Gesetzesbruches.
Anna und ihr Freund hoffen auf Begnadigung, wie es Italien per Gesetz vom 1. Dezember 2020 vorgemacht hat. Doch die autoritäre türkis-grüne Koalitionsregierung in Österreich hat bereits angekündigt, dass Gesetzesbrüche geahndet werden. Wie bezeichnete Innenminister Karl Nehammer ausgerechnet an jenem Tag, als Anna und ihr Freund sich unter den ersten Frühlingsblättern liebten, jene, die das Ausgehverbot und die Abstandsregel missachteten? Er nannte sie „Lebensgefährder“.
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