Faschisten rüsten auf, Demokraten rüsten ab
Das wirtschaftspolitische Merkmal von Faschismus ist die „funktionale Kapitalvernichtung“, wozu Sering „Bestechungssummen und ganze Bestechungsanleihen“ zählt, insbesondere „das ganze Anwachsen der unproduktiven Staatsausgaben, vor allem der Rüstung“. (2) Von dieser Verschwendung beziehungsweise der Umverteilung der Steuergelder zu „den unproduktivsten aller Zwecke, nämlich für Rüstung“ (3) koppelt Sering in seiner Analyse die „physische Kapitalvernichtung“ ab, die in Stilllegungen, Vorratsvernichtungen und Krieg besteht. „Das Wachstum der physischen und der funktionalen Kapitalvernichtung in der Gegenwart“, so der Autor seinerzeit, „ist nichts anderes als eine gigantische Steigerung der von Marx so bezeichneten spezifischen faux frais (Unkosten) der kapitalistischen Produktion.“ (4)
So gesehen ist die aktuell in Deutschland als „Zeitenwende“ – die Wortprägung selbst wird aus dem von Bertolt Brecht (1898 bis 1956) als Epigramm aufgearbeiteten Rede des früheren „Reichskanzlers“ und Diktators Adolf Hitler adaptiert sein – (5) verklärte Vernichtung des Reichtums der Gemeinschaft in tote – und Tod bringende – Wirtschaftsbereiche das genaue Gegenteil von Emanzipation und gesellschaftlichem Fortschritt. Sie bedeutet „Kontinuität“ und rückwärts gewandte Eskalation. (6) Dabei wird das verschwendete Vermögen aus Steuern und noch von künftigen Generationen zu zahlenden Krediten selbst nicht vernichtet – sofern kein Dritter Weltkrieg ohnehin alles auslöscht. Es wird von „unten“ noch „oben“ umverteilt zu den unproduktiven, staatlich alimentierten Konzernen, deren Finanziers und Eigentümer, die sich mit ihren Blutaktien überwiegend in „Kapitalgesellschaften“ zusammenschließen, allen voran BlackRock mit Hauptsitz im Reich der Gier, der US-amerikanischen „Steueroase“ Delaware, wo, mithilfe verzweigter Netzwerke von Briefkastenfirmen auch noch letzte mögliche Steuerforderungen trickreich-legal umgangen werden. (7)
Vierstunden-Arbeitstag statt Reichtumsvernichtung durch Rüstung und Krieg
Echter gesellschaftlicher Fortschritt läge in der Verteilung von Vermögen und Macht unter Gleichen. Statt den gesellschaftlichen Reichtum Deutschlands zu verschwenden für die Produktion und den Erwerb von Tötungsmaschinen und Massenvernichtungswaffen sowie für staatlich finanzierte „Bullshit-Jobs“, einschließlich der bis zum Anschlag aufgeblähten Verwaltung, könnten in einem produktionstechnisch weit entwickelten Land wie die Bundesrepublik ohne Weiteres der 4-Stunden-Arbeitstag bei vollem Lohnausgleich und die Rente mit 60 für alle eingeführt werden. (8)
Allein hunderttausende der Unsinn-Jobs beansprucht der parasitäre Überwachungs- und Geheimdienstapparat, der aus Angst der „Eliten“ vor dem Volk immer weiter ausgebaut wird.
Und diese Furcht, eigentlich sollte es Scham sein, ist durchaus berechtigt, denn dass diese Gesellschaft bereits in unversöhnliche Lager zerbrochen ist und ständig weiter zerfällt, kann selbst „bei bestem Willen“ kaum noch jemand bestreiten. Allein die eklatante Vermögensspreizung wird für jeden sichtbar, der seine Augen vor dem menschlichen Elend, wie es in beinahe jeder Straße und unter jeder Brücke in den Städten zu sehen ist, nicht gänzlich verschließt. In kaum einem anderen Industrieland klafft der Graben zwischen Arm und Reich so tief wie in Deutschland. „Was die soziale Ungleichheit betrifft, gehört Deutschland bei 30 OECD-Staaten zur absoluten Spitze,“ so der „Ossietzky“-Autor Georg Rammer. (9)
Dabei ist es „keine Sünde, arm zu sein, aber es ist eine Sünde, die Armen zu schänden und zu verachten“. Diese Worte lässt einer der tiefgründigsten und bedeutendsten Vertreter der Weltliteratur, der russische Autor Fjodor M. Dostojewski (1821 bis 1881), seine Romanfigur „Nelly“ sagen, ein junges, wegen der Armut seiner Mutter viel zu früh sterbendes Mädchen. (10) So gesehen hat Deutschland keine Chance mehr – eine Nation, die heute mehr durch Pfandflaschen-Sammler repräsentiert wird als durch ihre „Volksvertreter“.
Es sei denn, neue Mehrheiten schließen sich zusammen und stehen gemeinsam auf, um dafür zu sorgen, dass die Umverteilung, die schäbig und seit Jahrzehnten beschleunigt von „unten“ nach „oben“ verläuft, sich endlich umkehrt und der „Turnaroud“ gelingt (11). Gescheitert seien die Deutschen 1918 weil sie, „allzu schnell wieder gelernt (haben), Untertanen zu sein. Schon dieser Umstand allein, hat die Demokratie entscheidend in ihrer Entwicklung gehemmt,“ so Sering. Zu den „Bedingungen des Sieges der Revolution“ gehört stattdessen: „Nur durch die Entfaltung der Selbsttätigkeit der Massen an jedem Punkt und auf jedem Gebiet kann der Apparat der faschistischen Unterdrückung aufgelöst und der Geist der Unterdrückung aus den letzten Winkeln verjagt werden.“ Dabei darf „kein Gebiet von der Demokratisierung ausgenommen“ werden. Das gelte auch für das Heer, „wenn dies nicht erneut zur reaktionären Waffe gegen das Volk werden soll“. Umgekehrt hielt Sering es für unablässig, „die Revolution mit der Errichtung ihrer eigenen Schutzwaffe, einer zuverlässigen Kerngruppe gegen die Reaktion, (zu) beginnen.“ (12)
Demokratie heißt: politische Entscheidungen „Bottom-up“, Reichtumsverteilung „Top-down“
Sollte die Demokratisierung auch in Deutschland einmal gelingen und mehr sein als ein bloßes „Label“, dann wäre diese daran zu erkennen, dass das „Führerprinzip“ in allen Bereichen abgeschafft und statt dessen überall Mitsprache und „Plebiszit“ eingeführt wären. Die Entscheidungen würden nicht mehr ausschließlich „Top down“, sondern „Bottom up“ getroffen.
Noch werden der „aufrechte Gang“ und die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ durch ein Wirtschafts- und damit ein Gesellschaftssystem verhindert, das unter „Freiheit“ in erster Linie die Freiheit zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen versteht.
Der Kapitalismus, der seit Jahrzehnten „noch immer sein Ende“ wiederholt, so Rudi Dutschke (1940 bis 1979, Dutschke starb an den Spätfolgen des 1968 auf ihn verübten Attentats), (13) bedeutet nach Deutschlands bekanntestem Vertreter der „68er-Studentenbewegung“ – in Anlehnung an die „Feuerbach-Thesen“ von Karl Marx – ein System, das „nicht nur ökonomisch ständig Krisen ‚produziert‘, sondern eine ‚Katastrophe des menschlichen Wesens‘, eine Verkehrung seines Wesens’“. (14)
Die gesamte Sozialisierung im kapitalistischen Deutschland zielt auf Gehorsam und Ausbeutung. Bereits in seinem Beitrag „Jugend und Arbeiterbewegung“ im „Der Monat“ vom November 1968 schreibt Peter Brandt: „Diese Gesellschaft muß, um funktionsfähige und -willige Maschinen für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß heranzuzüchten, alle natürlichen Wünsche nach Glück, Lust und Selbstbestimmung in ihren Kindern und Jugendlichen disziplinieren und, wenn nötig, abtöten, um bei den künftigen Produzenten alle nach kapitalistischen Rehabilitätsbegriffen unnötigen Kosten zu vermeiden.“ (15)
Rudimentäre Reste basisdemokratischer Errungenschaften von 1918 bilden sich heute noch in der Einrichtung von Betriebs- und Personalräten ab. Wobei durch das System der „Funktionärs- und Arbeiteraristokratie“ mit seinen breiten Gehaltsauffächerungen die Gewerkschaften, so Rudi Dutschke, die Arbeiterklasse entpolitisiert haben. (16) Ihr Auftrag sei dazu beizutragen, „die lohnabhängigen Massen in Unmündigkeit zu halten“. Dutschke spricht – vor bereits mehr als 50 Jahren – von einem „Kartell zum Zwecke der gemeinsamen Niederhaltung der Massen“. In diesem „umarmen sich die liberale Bourgeoisie, die Vertreter der Monopole, die Arbeiterverräter aus den Gewerkschaften, (… und) richten sich die Manipulationszentren, die Augstein und Springer ein. Zusammen bilden sie die ‚anonyme Aktienkompanie‘, den subtilen – wenn nötig – manifesten Terrorismus der Klassenherrschaft des Spätkapitalismus“ (17).
Für Dutschke waren Presse, Funk und Fernsehen Träger zur „Manipulation und Anpassung der Menschen“. Speziell den Springer-Konzern sah er als „unmenschliche Maschinerie“, die „seit langer Zeit im Interesse der bestehenden Ordnung eine planmäßige Verhetzung aller Kräfte, die das Freund-Feind-Schema der Meinungsmacher nicht akzeptieren wollen“, entfaltet! (18)
Und noch immer fabulieren Vertreter dieses „Kartells“ vom „besten Deutschland“, in dem wir lebten. Der Zweck einer solchen Erzählung ist leicht zu durchschauen. Denn auch diese Phrase dient dazu, das von den „Eliten“ gefürchtete Volk einzulullen und gebückt zu halten. Was in Wirklichkeit hinter solch einer Nebelkerze steckt, stellte die Revolutionärin Rosa Luxemburg, die Mehrheiten für den Umsturz, möglichst ohne Blutvergießen, gewinnen wollte, bereits vor mehr als 100 Jahren ein für alle Male klar.
Heute würde die Agitatorin, langjährige Professorin der SPD-Parteischule und, zwischenzeitlich, (Chef-)Redakteurin der SPD-Zeitungen Leipziger Volkszeitung und Vorwärts, weil sie sich an im Vergleich zu ihr meist politisch weniger geschulte Adressaten wandte, als „nach rechts offen“ diffamiert. Vermutlich würde sie, weil es von Seiten der Reaktion in Deutschland wieder üblich geworden ist, Oppositionelle bis „aufs Blut“ zu verhetzen, mit dem Begriff „Querdenkerin“ gebrandmarkt. Für eine unorthodoxe Analytikerin wie Luxemburg wäre das eigentlich eine „Ehrenbezeugung“, weil damit anerkennt ist, dass sie über die üblichen – und gesetzten – „Korridore“ hinaus denken kann. Dies wiederum ist eine Kompetenz, die besonders in der Politik gefragt sein sollte und die für Forschung und Entwicklung, eigentlich, unerlässlich ist.
„Meinungsmachern“ in Deutschland ist es stattdessen gelungen, den vormals positiv konnontierten Begriff des „Querdenkens“ systematisch als Herabwürdigung umzuschreiben. Das Ziel solch einer Stigmatisierung war und ist noch immer das Gleiche: Mit der auch zur Nachahmung für den „Mob“ bestimmten Beleidigung wollen Profiteure des Systems ihnen und „ihren“ Privilegien gefährlich werdende Oppositionelle die Glaubwürdigkeit nehmen, um zu erreichen, dass sich möglichst nur wenige überhaupt noch trauen, kritische Positionen kennenzulernen.
Denn das birgt die „Gefahr“ in sich, dass diese Analysen mehr Menschen überzeugen, die dann ebenfalls opponieren könnten, statt sich weiter von den Narrativen der Mächtigen betäuben zu lassen und passiv zu bleiben. In einem autoritären Staat versuchen Herrschende und Privilegierte, die Systemkritiker mindestens mundtot zu machen. (19)
In ihrem Vorwort der von ihrem Kollegen, Kampfgefährten und Freund Franz Mehring (1846 bis 1919) verfassten Biographie über Karl Marx schreibt die promovierte Nationalökonomin: „Die ‚wissenschaftlichen‘ Verteidiger der besten Welten, in der wir leben, (...) erklärten den kapitalistischen Reichtum durch eine ganze Reihe mehr oder minder plausibler Rechtfertigungsgründe und schlauer Manipulationen (wie …) zur ‚Entschädigung‘ des Unternehmers für das von ihm zur Produktion edelmütig ‚überlassene‘ Kapital, als Vergütung für das ‚Risiko‘, das jeder Unternehmer laufe, als Lohn für die ‚geistige Leistung‘ des Unternehmers und dergleichen mehr. (...) Den Reichtum der einen, also auch die Armut der anderen“ stellen sie als „etwas ‚Gerechtes‘, mithin Unabänderliches“ hin. (20)
Den Faschismus deutscher Prägung führt Sering auf geschichtliche Besonderheiten zurück, denn, so der Autor: „Nur in Deutschland war die Nation selbst ein Produkt gewaltsamer staatlicher Expansion. Hier und nur hier allein entsprach die Ideologie der Brutalität der brutalen Wirklichkeit, wurde als Inhalt der nationalen Mission nackt und deutlich die Weltherrschaft verkündet, wurde die klassische Ideologie des Imperialismus geschaffen.“ Das Nationalbewusstsein war nicht gekoppelt „mit irgendeiner Form der Freiheitsidee wie im Westen, sondern mit der Verehrung der Gewalt als einzig geschichtsbildender Kraft“. Die staatliche Macht selber, symbolisiert durch Kaiser und Heer, wurde „zum Gegenstand der Verehrung“ erhoben. Sering spricht auch von der „Anbetung“ und „Vergottung des Staates“. (21)
„Das Kaiserreich stützte sich entscheidend auf die drei soziale Kräfte: das preußische Junkertum, die privilegierten Teile der Bourgeoisie und das städtische Kleinbürgertum.“ Wobei die Junker als feudaler Stand untergingen. Sie verwandelten sich aber „nicht in eine bürgerliche Klasse, sondern in eine Kaste“. Die Entfeudalisierung des Adels, so Sering, „hatte mit dem Aufbau des Militärstaates begonnen. [… Sie] vollzog sich daher weder als revolutionäre Enteignung wie in Frankreich, noch als Verbürgerlichung und Verschmelzung mit der Oberschicht der Bourgeoisie wie in England“. Die Junker in Deutschland „wurden vielmehr unter Beibehaltung ihrer Güter die führende Schicht des absolutistischen Staatsapparats selbst. Sie verloren ihre feudalen Privilegien nur, um die militärisch-bürokratischen Privilegien des Absolutismus dafür einzutauschen“. Gegenüber dem Monarchen, „hatten sie ihren Rückhalt in der ökonomischen Position, gegenüber allen andern Klassen ihr Vorrecht in der Beherrschung der leitenden Stellen in Diplomatie, Heer, Verwaltung, Staatskirche und Justiz“.
Die mit dem industriellen Aufschwung Deutschlands erstarkte Bourgeoisie „überließ der privilegierten Kaste unter Ausübung einer formellen Kontrolle die Verteidigung ihrer Interessen, nach außen gegen die anderen Mächte, nach innen gegen das Proletariat“. Wobei die Verbindungen zwischen dem Regime und der von ihm alimentierten Rüstungsindustrie besonders eng waren: „Die Politik des Junkerstaates verwandelte sich so in imperialistische Politik.“ (22)
Die Chance zum Umsturz blieb nach dem Ersten Weltkrieg ungenutzt
Entscheidender noch als das Bündnis der Bourgeoisie mit der Monarchie für die Entwicklung, die in den Faschismus führte, hält Sering das „Fehlen einer demokratischen Tradition in den Massen der städtischen Mittelschichten“. Neben den eigentlichen Kleinbürgern, den Handwerkern und Kleinhändlern gehören ihnen auch „die schnell wachsende Angestellten- und Beamtenschicht und die freien Berufe“ an. Alle diese Schichten, so Sering, „orientierten sich in wachsendem Maße an der Lieferung für den Staatsapparat (Hoflieferanten, Garnisonsstädte und so weiter) und an den Aufstiegschancen im militärischen und bürokratischen Staatsapparat“. (23)
Diesem standen „nicht mehr organisierte, traditionsgebundene Gruppen, nur freie Individuen gegenüber“. Und, so Sering, „ein Rechtssystem, dessen oberster Grundsatz die individuelle Vertragsfreiheit ist, sucht diesen Zustand zu verewigen“. Deshalb sei auch zu erwarten, sah Sering voraus, dass „jeder, der aus dem Faschismus gelernt hat, daß ohne die Freiheit der Massen, ihre Rechte zu verteidigen, keine Rechtsordnung Bestand haben kann, (...) von eilfertigen Schreibern der Bourgeoisie als Feind des Rechts und Umkehrer der faschistischen Willkürherrschaft verleumdet werden“ wird. (24)
Die Arbeiterbewegung hingegen musste sich „in Preußendeutschland unter Ausnahmerecht“ entwickeln, wobei sich Teile der Opposition in den „Privilegienstaat“ einfügte. Ihre Träger orientierten sich „an der Hoffnung, die Ventile schrittweise bis zur vollen Einführung des Parlamentarismus und zur Beseitigung der Privilegien zu erweitern“, so Sering. Auf der anderen Seite konnte das „Nationalbewußtsein, das auf der Verehrung eines Staates beruht, der große Volksteile unterdrückte (...) nicht das ganze Volk erfassen“. In diesem System der „Kombination von Unterdrückung mit einem gewissen demokratischen Spielraum der Opposition (galten) die politischen Repräsentanten der unterdrückten Volksteile (...) als staatsfeindlich, als nichtnational und waren es auch in beschränktem Grade, soweit es sich um den gegebenen Staat handelte“.
Aber, so der Autor: „Erst die Not des Krieges und der Prestigeverlust des Militärstaates durch die Niederlage haben die angehäuften Spannungen explodieren und das System zerbrechen lassen.“ (25)
Obwohl das Prestige der alten Mächte zerstört und „so die Voraussetzungen eines neuen demokratischen Nationalbewußtseins geschaffen“ waren, blieb die Chance ungenutzt, „die große nationale demokratische Revolution, die in der deutschen Geschichte fehlt“, nachzuholen.
Zwar standen am Ende des Krieges die Arbeiter- und Soldatenräte als spontan „aus dem Zusammenbruch des alten Regimes entstandene Organe der unmittelbaren Selbstverwaltung des arbeitenden und bewaffneten Volkes, doch sie traten ab, ohne bleibende Spuren im deutschen Volk zu hinterlassen“. Entscheidend für dieses Scheitern war, so Sering „daß die Umwälzung von 1918 unter ganz anderen Bedingungen, auf ganz anderen Entwicklungsstufen vor sich ging, als die demokratischen Revolutionen der Vergangenheit: unter den Bedingungen eines hochentwickelten, modernen Industrie-, Verwaltungs- und Militärapparats“.
Als „grundsätzliche Lehre von 1918“ formuliert Sering: Die Macht der Revolution hätte nur errichtet werden können, „indem dies Bastionen der Reaktion gebrochen, Heer und Verwaltung demokratisiert, Schlüsselstellungen der Wirtschaft vom neuen Staat besetzt“ hätte. „Diese wirkliche Revolution, die wirkliche Entmachtung der Reaktion war nicht möglich ohne die Sachkenntnis und Vorbereitung allein auf Grund revolutionären Willens; am wenigsten in einer Zeit der Not, am wenigsten durch eine Arbeiterbewegung, die sich niemals bewußt auf den Kampf um die Macht vorbereitet hatte. In einem entwickelten Industrieland kann die demokratische Revolution nicht mehr bloßes Sprengen reaktionärer Fesseln, sie muß der Beginn bewußter Beherrschung der Staats- und Wirtschaftsmaschine sein.“
Stattdessen, so Sering, reorganisierte die „revolutionäre Regierung selbst (...) das Prestige der militärischen Führung und die ersten Sammelpunkte der Konterrevolution: im Einverständnis mit der alten militärischen Führung und unfähig, eine Truppe der Demokratie zu organisieren, setzte sie konterrevolutionäre Freikorps gegen die radikale Minderheit der Arbeiterschaft ein, die sie nicht durch revolutionäre Taten zu überzeugen vermochte.“ (26)
Die abstrakte Analyse Serings füllt der Autor und Regisseur Klaus Gietinger mit seiner 2008 veröffentlichten Dokumentation „Der Konterrevolutionär Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere“ mit konkreten Details und umfangreichen Quellennachweisen. Im Zentrum seiner Ausführungen stehen die Morde an Rosa Luxemburg (1871 bis 1919) und Karl Liebknecht (1871 bis 1919), koordiniert und befohlen von dem damaligen Freikorps-„Kommandanten“, dem 1. Generalstabsoffizier des Garde-Kavallerie-Schützen-Division (GKSD) und späteren Rheinmetall-Direktor Waldemar Pabst. Dessen Schuld, auch die der zuvor begangenen Verbrechen im Ersten Weltkrieg, in den verschiednen Etappen des kapitalistischen Deutschland – Militärstaat, autoritärer Parlamentarismus, Faschismus, Protektorat und Notstands-Parlamentarismus – blieb ungesühnt. (27)
Gietingers Dokumentation und Analyse will ich in einem weiteren Beitrag darlegen und dabei erneut die Frage aufgreifen: Ist Antikommunismus antisemitisch?
Quellen und Anmerkungen:
(1) Paul Sering (Pseudonym von Richard Löwenthal), „Die Aufgaben der deutschen Revolution“, Zeitschrift für Sozialismus, aus: „Faschismus und Monopolkapitalismus, 6 frühe Aufsätze“, Juni 1936, Seite 80 folgende (wie Quellenangabe 21, Teil 1 dieses Beitrags)
(2) Sering, aaO., Seite 7;
vergleiche „Militärisch-industrieller Komplex“, „historisch kritisches wörterbuch des marxismus“, Lunapark 21, Heft 59/60, Herbst 2022, Seite 28 folgende, https://www.lunapark21.net/militaerisch-industrieller-komplex;
(3) Hermann Theisen, „Immanuel Kant und der Ukrainekrieg“, Ossietzky 8/2023, Seite 343, https://www.ossietzky.net/artikel/immanuel-kant-und-der-ukrainekrieg/
(4) Sering, aaO., Seite 7 folgende
(5) Bertholt Brecht, Fotoepigramm: „Seht ihn hier reden von der Zeitenwende. …“, „Kriegsfibel“, Reproduktion der Erstausgabe, Berlin, 2008, Bild 23;
vergleiche Wolfgang Herzberg, „Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz“, Ossietzky 8/2023, Seite 284 folgende, https://www.ossietzky.net/artikel/offener-brief-an-bundeskanzler-olaf-scholz/;
vergleiche Winfried Wolf, „Tatsächlich eine Zeitenwende. Der Krieg in der Ukraine und die neue-alte Geopolitik des Westens – neun Thesen“, Lunapark 21, Heft 59/60, Herbst 2022, Seite 40, folgende, https://www.lunapark21.net/tatsaechlich-eine-zeitenwende/;
(6) Rudolph Bauer, „Deutschlands ostpolitische Kontinuität“, Ossietzky 4/2022, Seite 128 folgende, https://www.ossietzky.net/artikel/deutschlands-ostpolitische-kontinuitaet/;
vergleiche Georg Rammer, „Kollateralschäden der Zeitenwende“, Ossietzky 10/2023, Seite 339 folgende, https://www.ossietzky.net/artikel/kollateralschaeden-der-zeitenwende/
(7) Werner Rügemer, „Pandora Papers: Weißwäsche des westlichen Finanzsystems – Es fehlen die wichtigsten Finanzoasen und deren Nutzer“, Lunapark 21, 56/2021, Seite 20 folgende, https://www.lunapark21.net/pandora-papers-weisswaesche-des-westlichen-finanzsystems/;
vergleiche Franziska Heinisch, unter anderem, „Ihr habt keinen Plan – darum machen wir einen, 10 Bedingungen für die Rettung unserer Zukunft“, Jugendrat der Generationen Stiftung, Claudia Langer, Hrsg., München, 2. Auflage, 2019, Seite 69 folgende und 165 folgende
(8) Stefan Fuchs, „Nur der Vier-Stunden-Tag kann uns noch retten“, Der Freitag, 11. Juli 2013, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/nur-der-vier-stunden-tag-kann-uns-retten;
vergleiche Rudi Dutschke, „Genehmigte Demonstrationen müssen in die Illegalität überführt werden (Brief zum Münchner Konzil der ‚Subversiven Aktion’, April 1965)“, aus: „Geschichte ist machbar – Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens“, Berlin, Auflage 1981, Seite 27 folgende
(9) Georg Rammer, „Happy Birthday, BVerfG“, Ossietzky, 19/2021, Seite 655 folgende, https://www.ossietzky.net/artikel/happy-birthday-bverfg/;
Bernd Ebert, „Ach, solche Armut“, Ossietzky 11/2023, Seite 373 folgende, https://www.ossietzky.net/artikel/ach-solche-armut/;
vergleiche Susanne Beyer, Simon Book, Thomas Schulz, „Auf die sanftere Tour“, Der Spiegel, 30. Dezember 2023, Seite 10 folgende
(10) Eugen Drewermann, „Dass auch der Allerniedrigste mein Bruder sei. Dostojewski – Dichter der Menschlichkeit“, das Zitat ist seiner „Betrachtung“ entnommen: „Die Sanftmut besitzt eine ungeheure Kraft“, Ostfildern 5. Auflage, 2013, Seite 21;
vergleiche „Drewermanns Friedensappell“, Videobotschaft zu der Gegenkundgebung des Aachener Bündnis 'Diplomatie statt Waffen und Sanktionen!’ anlässlich der Verleihung des "Internationaler Karlspreis zu Aachen / Für die Einheit Europas" am 16. Mai 2023 an Wolodymyr Selenskyj, https://www.youtube.com/watch?v=Ru1-TUAbfVU;
vergleiche Eugen Drewermann, „Rede gegen den Krieg; Ohne NATO leben - Ideen zum Frieden“, Ansprache vom 21. Mai 2022, https://www.youtube.com/watch?v=0yUMuRiqiOY&t=41s
(11) Heinisch, unter anderem, aaO., Seite 47, Seite 83 folgende, Seite 99 folgende, Seite 145 folgende und Seite165 folgende
(12) Sering, aaO., Seite 83
(13) Dutschke, „Das wiedergewonnene Abenteuer (Über die Gründe der Revolte)“, aaO., Seite 140 folgende;
vergleiche Dutschke, „Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf (Rede auf dem Internationalen Vietnam-Kongreß in West-Berlin 1968)“, aaO. Seite 105 folgende
(14) Dutschke, „Ausgewählte und kommentierte Bibliographie des revolutionären Sozialismus von Karl Marx bis in die Gegenwart“, aaO, Seite 45 folgende;
vergleiche Dutschke, „Genehmigte Demonstrationen müssen in die Illegalität überführt werden,“aaO., Seite 27 folgende;
vergleiche „Stimmen der proletarischen Revolution. Bibliothek der revolutionären Revolution – Reden, Schriften, Briefe, Wissenschaftliche Studien, http://www.mlwerke.de/index.shtml
(15) Peter Brandt, „Jugend und Arbeiterbewegung“, Der Monat, Heft 242, November 1968;
vergleiche: Dutschke, „Genehmigte Demonstrationen müssen in die Illegalität überführt werden“, aaO., Seite 27 folgende
vergleiche Heinisch, „Gute Bildung für alle garantieren“, aaO., Seite 127 folgende
(16) Dutschke, „Wir waren niemals eine Studentenbewegung (Brief über das Sektierertum), Aarhus, den 25.6.71“, aaO., Seite 129 folgende;
vergleiche Dutschke, „Sozialistische Tragödien bewältigen“, und Dutschke, aaO., Seite 27 folgende
(17) Dutschke, „Vom ABC-Schützen zum Agenten (Rudi Dutschke antwortet Rudolf Augstein)“, aaO., Seite 100 folgende
(18) Dutschke, „Rede auf dem Internationalen Vietnam-Kongress“, aaO., Seite 120
vergleiche „Medien in Deutschland“, Swiss Policy Research, Mai 2017, aktualisiert Juni 2022, https://swprs.org/netzwerk-medien-deutschland/
(19) Bernd Schoepe, „Hannah Arendt. Das ‚gefährliche Denken‘ und Wir. Eine Relektüre Hannah Arendts aus Anlass der ‚Zeitenwende‘-Proklamation der deutschen Politik“, Free21, Teil 1, 9. April 2023 und Teil 2, 23. April 2023, https://free21.org/hannah-arendt-das-gefaehrliche-denken-und-wir-teil-1/ und: https://free21.org/hannah-arendt-das-gefaehrliche-denken-und-wir-teil-2/;
vergleiche Roland Rottenfußer, „Des Glückes Unterpfand“, Teil 1/2 und „Die Nebelscheinwerfer“ Teil 2/2, Manova, 24. und 25. März 2023, https://www.manova.news/artikel/des-gluckes-unterpfand und https://www.manova.news/artikel/die-nebelscheinwerfer;
vergleicheHans-Peter Waldrich, „Salto mortale“, Ossietzky 5/2023, Seite 159 folgende, https://www.ossietzky.net/artikel/salto-mortale/
(20) Rosa Luxemburg, „Der zweite und dritte Band des ‚Kapitals’“, aus: „Rosa Luxemburg – Ein Leben für die Freiheit, Reden, Schriften, Briefe – Ein Lesebuch“, Hrsg. Frederik Hermann, Frankfurt am Main, 1986 , Auflage 21. – 23. Tausend, Seite 199 folgende;
vergleiche: Iring Fetscher, „Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie“, aus: „Rosa Luxemburg – Ein Lesebuch“, aaO., S. 194 folgende;
vergleiche: Rosa Luxemburg, „Einführung in die Nationalökonomie“, MLWerke, „Stimmen der proletarischen Revolution, Bibliothek der revolutionären Bewegungen unserer Zeit, Reden, Schriften, Briefe, Wissenschaftliche Studien“, http://www.mlwerke.de/lu/lu05/lu05_en.htm
(21) Sering, aaO., Seite 69 folgende
(22) Sering, aaO., Seite 65
(23) Sering, aaO., Seite 66 folgende
(24) Sering, aaO., Seite 85 und Seite 28
(25) Sering, aaO., Seite 68
(26) Sering, aaO., Seite 71 folgende
(27) Klaus Gietinger, „Der Konterrevolutionär, Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere“, Hamburg, 2008, („Gietinger I“), Seite 117 folgende und Seite 47 folgende und: Klaus Gietinger, „Eine Leiche im Landwehrkanal – Die Ermordung der Rosa L.“, Berlin 1995, („Gietinger II“), Seite 128 folgende;
vergleiche kla.tv, 25042, „Krieg in Deutschland? Kommandozentrale direkter Kriegsführung“, April 2023, https://www.kla.tv/USA/25042;
vergleiche Dutschke, „Besetzt Bonn!“, aaO. Seite 96 folgende sowie Seite 27 folgende und 131 folgende
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