„Unsere einzige moralische Verpflichtung ist, in uns selbst Lichtungen des Friedens zu schaffen und sie immer weiter auszudehnen, von Ort zu Ort, bis dieser Frieden auf andere ausstrahlt. Und je mehr Frieden in den Menschen herrscht, desto mehr Frieden wird es auch in dieser aus den Fugen geratenen Welt geben“, schrieb die niederländisch-jüdische Philosophin Etty Hillesum in ihr Tagebuch, bevor sie 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurde.
Diese Worte, niedergeschrieben während der kriegerischen Zeit, mit der das vergangene Jahrtausend endete, haben nichts an Aktualität verloren. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich die Dinge nur oberflächlich zum Besseren gewandelt. Unterschwellig ging das Massenmorden weiter. Auch heute noch ist die Welt mit Kriegen überzogen. Die Bedrohung einer globalen Auslöschung ist mindestens wieder ebenso groß wie im Kalten Krieg. Das Lebendige wird trotz aller Kenntnisse über die Umweltzerstörungen nach wie vor mit Füßen getreten. So ist der Ruf nach Frieden heute dringlicher denn je.
Damit dieser Ruf nicht zu einem Todesschrei wird, ist es Zeit, den Friedensbewegten unserer Geschichte die Ehre zu erweisen.
Wirklicher Frieden, das wussten alle, die es ernst meinten, kommt von innen. Wie die Liebe kann Frieden nicht verordnet, von oben aufgedrückt, in uns hineingepflanzt werden. Dauerhafter Frieden braucht Freiheit.
Kein Beschluss, keine Verordnung, kein Gesetz kann Frieden bringen, wenn die einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft nicht bereit für ihn sind.
Vom inneren zum äußeren Frieden
Zu friedlicheren Menschen werden wir nicht, indem man uns Gewalt antut. Nicht die Knute macht uns zu friedensfähigen Menschen, sondern das Gefühl der Anerkennung und das harmonische Zusammenspiel mit anderen Lebewesen. Anstatt Menschen, die Unrecht getan haben, in Gefängnisse zu werfen, ist es in manchen Kulturen Afrikas üblich, diesen Menschen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, denn Schaden fügen vor allem diejenigen zu, die sich von der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlen.
So wird dort die betreffende Person von der Gemeinschaft in die Mitte genommen, und man sagt ihr stunden-, manchmal tagelang, wofür sie geschätzt wird, was ihre Stärken sind und was sie besonders und liebenswert macht. Denn nur auf dem Boden von Selbstliebe kann Frieden gedeihen. Nur wenn wir uns selbst achten und respektieren, können wir anderen Menschen mit Offenheit und Wohlwollen begegnen und müssen uns nicht wie ausgehungerte Wölfe auf sie stürzen, um ihnen zu entreißen, was wir wollen: ihr Hab und Gut, ihre Zuneigung, ihre Anerkennung.
Wer entdeckt hat, dass er das, was er im Außen so verzweifelt sucht, in sich trägt, der wird zu einer Flamme für den Frieden. Tief in sich spürt er, wie reich er ist, wie großzügig beschenkt. Er fühlt, dass er seinem Glück nicht hinterherjagen muss, sondern es hier bei sich finden kann. Und er erkennt, dass nicht andere die Lösung der Probleme, in die er verwickelt ist, herbeiführen können, sondern er selber. Unter den Trümmern zahlloser Kriege ist eine tiefe innere Weisheit verschüttet, die nur darauf wartet, wieder freigelegt zu werden.
Wirklich ist, was wirkt
Dass es möglich ist, tiefen inneren Frieden auch in Kriegszeiten zu finden, hat Etty Hillesum und haben viele andere uns vorgelebt. Es ist möglich, Gewalt nicht mit Gegengewalt zu vergelten. Menschen sind dazu in der Lage, noch im dunkelsten Gefängnis, in der aussichtslosesten Lage, im größten Chaos Klarheit in sich zu bringen. Denn anders als Tiere und Pflanzen haben wir die Möglichkeit, unsere Position bewusst zu wählen und das, was uns im Außen geboten wird, innerlich zu klären und Krieg in Frieden zu verwandeln.
Wir müssen uns nicht auf jeden Trigger-Happen stürzen, den man uns zuwirft. Niemand zwingt uns, andere mit unserer Missgunst, unserer Verachtung oder unserem Sarkasmus zu strafen. Wir sind nicht dazu verdammt, ein Leben voller Frustration, voller Überdruss, Hass, Gewalt, Sorge und Angst zu führen, und wir müssen nicht mit Scheuklappen durch einen Alltag hasten, den wir nur noch abgelenkt und betäubt ertragen. Wir dürfen uns der Sehnsucht nach einem glücklichen und friedlichen Leben hingeben.
Dieser Wunsch muss keine Utopie bleiben. Er kann Wirklichkeit werden, wenn wir uns auf unsere eigene Wirkkraft besinnen. So gut wie niemand will Krieg. Doch die meisten glauben, sie könnten sowieso nichts tun, und verharren in einer passiven Erwartungshaltung. Was dann nicht kommt, das soll wohl nicht sein. Die wenigsten nutzen die Situation, in der sie sich gerade befinden, um an dem einzigen Ort anzusetzen, wo sie Einfluss auf die Dinge haben: bei sich selbst.
Ein Mensch, der sich dafür entscheidet, in sich selbst Lichtungen des Friedens zu schaffen, trägt Frieden in die Welt. Wir können es spüren, wenn wir jemandem begegnen, der in sich ruht und mit sich in Frieden ist. Wie ein Stern, wie eine Sonne strahlt es aus ihm heraus.
Er muss gar nichts Besonderes tun. Allein die Frequenzen, die er aussendet, haben eine Wirkung auf seine Umgebung. So ist Friedensarbeit kein Schauspiel, kein Spektakel, das von allen bejubelt wird, sondern das demütige und gleichzeitig kraftvolle Mitwirken an einem unsichtbaren Netz, das die Welt umspannt.
Ein mutiges Projekt
„Glauben wir noch an eine Zukunft ohne Krieg? Wie müssen wir unser Denken und Handeln umstellen, um eine Zukunft ohne Krieg einzuleiten?“ (Sabine Lichtenfels).
San José de Apartadó liegt in der nördlichen Region von Urabá in Kolumbien, die von verschiedenen bewaffneten Gruppen wegen ihrer strategischen Lage und ihrer natürlichen Ressourcen heftig umkämpft wurde und immer noch wird. Bauern und indigene Gruppen wurden jahrzehntelang vertrieben, um Platz für Bergbau, industrielle Landwirtschaft und Staudammprojekte zu schaffen. Die verwendeten Methoden — Massaker, Folter, Vergewaltigung und Vertreibung — zeigen das organisierte Verbrechen, das in weiten Teilen des Globalen Südens die kapitalistische Globalisierung begleitet und unterstützt.
Die Bauern von San José de Apartadó waren am 23. März 1997 zusammengekommen, nachdem sie von verschiedenen bewaffneten Gruppen bedroht, von ihren Grundstücken vertrieben worden waren und Angehörige verloren hatten. Sie erklärten dem Land und der Welt, dass sie ihr Land nicht verlassen würden, sondern als Akt des gewaltlosen zivilen Widerstands eine Friedensgemeinschaft gründen würden. Sie wurden darin vom Jesuitenpater Javier Giraldo und der damaligen Bürgermeisterin von Apartadó, Gloria Cuartas, sowie von internationalen Menschenrechtsorganisationen unterstützt. An diesem Tag haben sie sich zu folgenden ethischen Werten verpflichtet, die ihr mutiges Projekt definieren und bis heute gültig sind:
- Teilnahme an der Gemeinschaftsarbeit
- Widerstand gegen Ungerechtigkeit
- Verzicht auf Waffen sowie direkte oder indirekte Teilnahme am bewaffneten Konflikt
- Keine Informationsweitergabe an die am Konflikt beteiligten Parteien
- Keinen Konsum oder Verkauf von Alkohol oder Drogen
Die Gemeinschaft wurde heftig bekämpft, auch vom kolumbianischen Staat selbst. Seit 1997 wurden mehr als 200 Mitglieder der Gemeinschaft, darunter viele Anführer, von den verschiedenen bewaffneten Gruppen getötet — hauptsächlich von rechtsgerichteten Paramilitärs und dem nationalen Militär. Kaum eines dieser Verbrechen wurde jemals untersucht. Trotz der Schrecken, denen sie ausgesetzt waren, hat sich die Gemeinschaft behauptet und arbeitet weiter für Vergebung und Frieden.
Die Gemeinschaft erkannte an ihrem eigenen Leben, dass die Wunden des Krieges heilen können und das Potenzial für Anteilnahme, Vergebung und Zusammenarbeit in Menschen aktiviert werden kann, selbst bei Menschen, die durch das Grauen, das sie erlebt hatten, zutiefst traumatisiert waren. Mit ihrem gemeinschaftlichen Leben zeigen die Einwohner der Friedensgemeinschaft, wie sie das Opfer-Täter-Verhältnis beenden können. Sie sind sich bewusst, dass jede Rache oder weitere Gewalttat den Kreislauf der Gewalt nur fortsetzen wird.
Heilung durch Worte
„Wo Schmerz war, soll Heilung erwachen. Wo Wut war, soll verändernde Kraft entstehen. Wo Angst war, soll Schutz und Vertrauen entstehen. Wo Feindschaft war, soll das große Erwachen der gegenseitigen Anteilnahme beginnen. Wo Unterdrückung geschah, soll die große Freiheit einziehen. Wo Völkertrennung geschah, soll die Anteilnahme an diesem Planeten Erde zu einer gemeinsamen verantwortlichen Schau führen“ (Sabine Lichtenfels).
Sabine Lichtenfels rief den 9. November als „Global Grace Day“ ins Leben. Gemeinsam mit der Gemeinschaft Tamera lädt sie Menschen ein, auch in diesem Jahr den 9. November als Gebets- und Aktionstag zu nutzen, um sich auf die Kernfrage einer globalen Friedensmöglichkeit zu besinnen.
„Am 9. November 1989 fiel die Mauer in Berlin. Am 9. November 1938 fand die Reichspogromnacht statt, und damit begann öffentlich die Vernichtung und Verfolgung der Juden in Deutschland. Es ist ein Tag der Mahnung und Tag der Hoffnung, den wir jedes Jahr nutzen für die Besinnung.
Auf einer Ebene ist die Antwort auf das Elend unserer Zeit sehr einfach: Sie besteht darin, aus der Hypnose der patriarchalen Epoche zu erwachen und die Grundtatsache des Lebens wieder anzunehmen. Wie tief dieser Wandel vollzogen werden muss, das merken wir, wenn wir mit der Arbeit beginnen“ (Sabine Lichtenfels).
Sabine Lichtenfels lädt Menschen ein, den 9.November bei Sonnenaufgang mit einer Friedensmeditation zu beginnen. Dieses Jahr wird sie zusammen mit Andrea Regelmann am 9. November in Kolumbien in der Friedensgemeinschaft San José de Apartadó sein. Ihre Kollegen aus dem Friedensforschungszentrum Tamera, Monika Alleweldt, Ramona Kufert und Benjamin von Mendelssohn, beginnen zur gleichen Zeit in Deutschland ein Seminar zum „Plan der Heilungsbiotope“. Gemeinsam werden sie sich an den verschiedenen Orten auf die Kraft und Macht von Friedensgemeinschaften und den Aufbau dezentraler Friedensmodelle besinnen.
Weltweit schließen sich immer mehr Gruppierungen zusammen mit der Frage, wie eine wirklich autonome Friedensmacht entstehen kann. Diesen Vorgang zu unterstützen ist ihr Anliegen. Sie möchten sich an der Entwicklung autonomer Friedensmodelle beteiligen und weltweit mithelfen, dass sie entstehen können.
Das ist eine Antwort, die wir auf die globale Krise unserer Zeit derzeit geben können und an der die verschiedenen Friedensgemeinschaften bereits arbeiten.
Am 9. November hält Sabine Lichtenfels direkt aus der Friedensgemeinschaft in Kolumbien auch eine öffentliche Ansprache über die Grundlagen autarker Lebensgemeinschaften und ihre potenzielle Friedensmacht. Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, mitmachen möchten, können wir gemeinsam einen feldbildenen Aspekt der Heilung aktivieren. Es geht um einen gemeinsamen Tag der Besinnung, an dem Meditation und Aktion miteinander Hand in Hand gehen.
„Wir versuchen in aller Bescheidenheit in unserer Gemeinschaft immer der Vergebung zu folgen. Wir üben uns darin, unseren Feinden nicht mit Hass, sondern mit Solidarität zu begegnen. (...) Für mich war immer klar, dass ich meinen Kampf für ein besseres Leben ohne Gewalt führen muss. Nur ein einziges Mal in meinem Leben wollte ich zu einem Gewehr greifen. Das war, als meine Tochter erschossen wurde. Sie war damals mit anderen Jugendlichen auf einer Tanzveranstaltung und geriet in einen Schusswechsel. Sie war 15 Jahre alt. Damals dachte ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, dann wäre das jetzt der Moment, zu den Waffen zu greifen. Aber das kam aus meinem Schmerz.
Als ich wieder nachdenken konnte, habe ich an meine überlebenden Kinder gedacht, die mich brauchen. Heute bin ich sehr froh, dass ich den Weg der Gewaltlosigkeit gegangen bin, den Weg der Gemeinschaft. Waffen machen Frieden unmöglich. Die Regierung hätte am liebsten, dass wir uns bewaffnen, denn damit würden wir ihr einen Grund geben, offen gegen uns vorzugehen. Aber mit gewaltfreiem Widerstand können sie nicht wirklich umgehen“ (Brigida Gonzales, San José de Apartadó, Kolumbien).
„Hope for Columbia“: Dokumentarfilm über die Grace Pilgerreise durch und um die kolumbianische Hauptstadt Bogota im November 2010
Quellen und Anmerkungen:
Dieser Beitrag übernimmt in leicht abgeänderter Form Textstellen von Sabine Lichtenfels zum Global Grace Day sowie von der Website von Tamera.
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