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Das Tahiti-Projekt

Das Tahiti-Projekt

Die Zerstörung der Welt oder Leben im Ökoparadies? Begleiten Sie den Hamburger Spitzenjournalisten Cording auf seiner Reportagereise. Teil 6.

Seit fünf Jahren war der Airport von Papeete für den internationalen Luftverkehr gesperrt. „Tahiti Nui“ hatte jetzt als einzige Gesellschaft das Recht, auf der Piste von Faaa starten und landen zu dürfen. Von hier aus wurden die Inseln im Südpazifik angeflogen und sonst nichts. Es gab weder Pass- noch Zollkontrollen auf Tahiti, stattdessen Blumengebinde und einen Begrüßungstanz. Cording war zu erschöpft, um seiner Freude über den Empfang Ausdruck zu verleihen, aber eines spürte er ganz deutlich: er war aus der Kälte getreten, und dies hatte nichts mit der schwülwarmen Luft zu tun, die ihm das Hemd auf den Körper klebte.

Ein Bus brachte sie nach Arue, dem Bezirk im Norden Papeetes. Die Hauptstadt lag fast vollständig im Dunkeln. Wo waren all die bunten Leuchtreklamen am Boulevard Pomare, wo waren Coca Cola und Konsorten? Der Quai d´honneur lag wie verwaist da, kein illuminiertes Kreuzfahrtschiff steckte seine Nase in die Stadt. Bis auf wenige Taxis bewegte sich nichts auf den Straßen, auf denen vor neun Jahren noch der Dauerstau herrschte.

Ihre Hotelanlage grenzte direkt ans Meer. Es war ein großzügiges Areal mit dreißig Bungalows, in denen jeweils zwei Wohneinheiten untergebracht waren. Das Einchecken zog sich in die Länge. Zum Glück besaß Steve genügend Standfestigkeit, um wenigstens den Platz im hinteren Drittel der Warteschlange zu verteidigen. Als sie endlich an der Reihe waren, mussten sie erfahren, dass ihr Bungalow zur Zeit wegen eines Rohrbruchs unbewohnbar war. Man arbeitete aber daran, gegen sechs Uhr, versicherte der junge Mann hinter dem Computer, wäre der Schaden sicher behoben. Er schlug vor, dass es sich die Herrschaften so lange auf den Liegen am Pool bequem machten. Dieser befände sich jenseits des künstlichen Flüsschens am Ende des Parks.

Kein Problem. Sie waren lange genug eingesperrt gewesen, da ließ man die müden Blicke doch gerne unterm Kreuz des Südens schweifen... Dies war Tahiti! Was sollte noch passieren? Cording registrierte mit Genugtuung, dass sich Steve ebenso klaglos in sein Schicksal fügte wie er selbst. Sie passierten den kleinen Steg über dem Gewässer und steuerten auf den Pool zu, in den sich ein künstlicher Wasserfall ergoss. Die Liegen befanden sich unter einem halbkreisförmigen Baldachin, der aus über Kreuz geflochtenen Pandanusblättern bestand. Die Pandanus ist eine Schraubenpalme und wird in weiten Teilen Ozeaniens kultiviert. Die Decke in dem Empfangsraum bestand aus dem gleichen Material. Das beige glänzende Dach wirkte äußerst ästhetisch, es atmete, anstatt die geplagte Besucherseele unter Mörtel und Spannbeton zu begraben.

Cording rückte seine Liege einige Meter vor, er wollte den Himmel sehen. Es war eine mondlose Nacht, die Milchstraße hatte sich gewaschen, ihre Nebel schwebten so klar und deutlich im Raum, dass er glaubte, sie einatmen zu können. Er hatte Lust zu schreiben, Lust, die frischen, belebenden Gedanken festzuhalten, die ihn so unversehens anflogen. Aber er hatte weder Papier noch Bleistift zur Hand. Die Sternschnuppe, die eine lange glühende Spur in die Atmosphäre fräste, behielt er für sich. Einen Wunsch vermochte er ihr nicht anzuhängen, er war wunschlos glücklich in diesem Moment ...

Er streifte die Schuhe von den Füßen, zog die Socken aus und lief durch das feuchte Gras Richtung Meer. Der Rasen war von gänzlich anderer Konsistenz als daheim. Es waren keine Halme, die seine Sohlen kitzelten, sondern ein dichtes Geflecht flacher, kleeblattähnlicher Pflänzchen, die einen federnden, weichen Untergrund ergaben. Er blieb stehen und lauschte den Wellen, die hinter der Natursteinmauer leise gurgelnd den schwarzen Strand beleckten. Zwei Meter neben ihm klatschte eine Kokosnuss zu Boden. Sie hätte ihn erschlagen können, aber eigenartigerweise beunruhigte ihn das nicht. Er fühlte sich frei in dieser herrlichen duftenden Nacht, er würde den Tod in diesem Augenblick so klaglos akzeptieren wie das Leben. Das Bedürfnis des verbildeten Menschen, alles und jedes zu hinterfragen, erschien ihm lächerlich angesichts dieser unendlichen Weite, in der man Sterne pflücken ging, anstatt sein Gottvertrauen zu untergraben.

Am Horizont schimmerte ein weißes, phosphoreszierendes Band. Es war die Brandung, die sich an den Korallenriffen die Zähne ausbiss und deren gedämpftes Getöse er bis ans Ufer vernahm. Er blickte in die Dunkelheit, umschmeichelt von der seidenweichen Luft der Südsee. Wie privilegiert dieses Inselvölkchen doch war! Ein Regentropfen klatschte auf seine Schulter. Sekunden später, geradeso, als hätte jemand den Reißverschluss der schweren Kumolonimbus geöffnet, die sich unbemerkt vor die Milchstraße geschoben hatte, stand er in einem Sturzbach warmen Wassers, der ihn bis auf die Haut durchnässte. Büsche und Bäume begannen zu rauschen und zu singen. Nach zwei Minuten war der Spuk so abrupt beendet wie er begonnen hatte. Triefend und tropfend trottete er zu seinem Liegeplatz zurück. Steve hatte sich unter dem Baldachin schlafen gelegt. Auch Cording suchte dort jetzt Schutz, um vor weiteren Überraschungen sicher zu sein.

Kurz vor Sonnenaufgang weckte sie das Geschrei der Vögel, die zu hunderten im dichten Blätterwerk der Bäume nisteten. Der junge Mann vom Empfang kam über die Wiese gelaufen und bedeutete ihnen, dass der Bungalow nun bezugsfertig sei. Ihr Gepäck war bereits in den Zimmern. Cording schlug vor, den Tag in Papeete zu verbringen. Steve aber wollte lieber bleiben. Er konnte es sich nicht leisten, seinem Computerspiel länger als eine Stunde fern zu bleiben, ohne eliminiert zu werden, wie er sagte.

„Okay“, bemerkte Cording genervt, „mach was du willst. Irgendwann wirst du begreifen, dass es neben der virtuellen Welt noch eine andere gibt — eine die man anfassen und riechen kann. Tahiti ist nicht London, mein Lieber, diese Insel öffnet die Sinne. Sofern man noch welche besitzt. Wäre schade, wenn du das verpasst ...“

Cording beschloss, den Bus zu nehmen. Er erinnerte sich noch gut an die zerschrammten, reptilähnlichen Trucks mit den drei abgewetzten, in Fahrtrichtung installierten hölzernen Sitzbänken, auf denen man während der wackligen Fahrt automatisch mit den Einheimischen in Berührung kam. Irgendein Knie, Schenkel oder Hinterteil drückte einem immer in die Seite. Die Fahrgäste schienen in diesen vorsintflutlichen Vehikeln zu einem Körper zu verschmelzen. Und genau das war es, was er jetzt brauchte: das Gefühl, absorbiert zu werden, eins zu sein mit den Menschen, deren heitere Gelassenheit ihm so imponierte. Umso erstaunter war er, als sich ein moderner, fast futuristisch anmutender Kleinbus der Haltestelle näherte. Als Fahrkarte diente ihm der Gästeausweis, den er im Hotel bekommen hatte. Mit ihm konnte er sich bargeldlos und frei bewegen.

Vor ihm saß ein Mann mit einem Kleinkind auf dem Schoß. Seine rechte Gesichtshälfte war tätowiert, das Muster lief über die Schulter den Arm hinunter bis zu den Fingerspitzen. Der Mann hielt die Füßchen des schlafenden Kindes in seiner Pranke, als hüte er ein verletztes Vögelchen. Zur Rechten redeten zwei junge Mädchen aufeinander ein, weiße Blüten schmückten ihre glänzenden schwarzen Mähnen. Wie schon bei seinem ersten Besuch fiel Cording auf, dass die Tahitianer von Fremden kaum Notiz nahmen. Damals hatte ihn das irritiert, bis er feststellte, dass ein einziger freundlicher Blick ausreichte, um auf ihre Gesichter ein Lächeln von solcher Intensität zu zaubern, dass man unversehens in elysische Sphären katapultiert wurde.

Er ließ sich den Fahrtwind um die Ohren wehen, der durch die geöffneten Scheiben ins Wageninnere drang. Da war er wieder, dieser würzige Geschmack des Meeres. Unverdorbener und frischer, als er es in Erinnerung hatte. Als er in Papeete aus dem Bus stieg, wurde ihm langsam klar, welch wunderbare Wandlung sich auf Tahiti vollzogen hatte. Waberten vor einigen Jahren noch dichte Abgasschwaden durch die Straßen der Hauptstadt, die als dunkler Schleier vor der Sonne schwebten und den Besucher in der vom Lärm vibrierenden schwülwarmen Luft permanent mit übelsten Brechreizen beglückten, hatte man heute den Eindruck, an einem lichten Luftkurort zu verweilen. Das war nicht allein auf das extrem reduzierte Verkehrsaufkommen zurückzuführen, es lag auch an den Fahrzeugen selbst. Die Autodächer bestanden aus Solarpanels* und er sah erstaunlich viele dreirädrige Kabinenroller und Mofas sich leise surrend fortbewegen; vermutlich waren sie mit Elektroantrieb ausgerüstet.

Cording hielt sich die Nase zu und blies Luft hinein. Seine Ohren fühlten sich an, wie in Watte gepackt. Waren das die Nachwirkungen des Fluges oder war es tatsächlich so still? Es irritierte ihn, dass er sich in einer Stadt bewegte, in der die Worte der Menschen mehr akustisches Gewicht besaßen, als die Motorengeräusche der sie umgebenden Fahrzeuge. Die Abwesenheit von Lärm machte ihn nervös. Aber nicht nur seine Ohren hatte Umstellungsschwierigkeiten, den Augen erging es genauso. Wo waren sie geblieben, die Toyotas, Renaults und Volkswagen, die das Städtebild in aller Welt bestimmten? Er glaubte sich in ein Märchenreich versetzt, in dem die ästhetischen Normen seines vertrauten Alltags nicht mehr galten. Die Straßen waren befreit von großflächigen Konsumbotschaften, kein überdimensionaler Schmollmund nuckelte an einer Pepsiflasche, auf keinem Dach wurde großflächig zum Kauf von Computern oder Slipeinlagen aufgerufen.

Ein Haus war ein Haus und kein aufgerüsteter Werbeträger. Das einzige Logo, das in Papeete noch ins Auge stach, war das im Schneidersitz hockende Hinanomädchen*, welches praktisch auf jedem einheimischen Produkt zu sehen war. Und das ließ man sich gerne gefallen ...

Er betrat die große Markthalle. Der Geruch von Fisch und Parfum, von Blumen, Ananas und Vanille, die flirrenden Farben der Tücher und Gewänder, der Anblick der matt glänzenden schwarzen Perlen an den Schmuckständen, das Sprachgewirr und das Lachen der Leute — das alles war von solcher Intensität, dass er sich wie erschlagen davon fühlte. Außerdem war die Luft extrem stickig. Er beschloss, Zuflucht in der nahe gelegenen Kathedrale zu suchen. Obwohl die Türen nach allen Seiten offen standen, herrschte dort ein angenehm kühles Klima. Außer ihm war nur noch eine alte Frau anwesend, die zurückgelehnt in einer Bank saß. Cording überraschte sich dabei, wie er sich bekreuzigte. Das hatte er noch nie getan. Eine Viertelstunde hockte er gedankenverloren auf seinem Platz. Die Frau war längst verschwunden und er war allein in diesem von schrägen Lichtbahnen durchfluteten Kirchenschiff.

Er wollte gerade gehen, als ein junges Mädchen an ihm vorbei auf den Altar zuschritt. Sie bewegte sich mit einer Anmut, als trüge sie ihr Lebenselixier in einer Schale spazieren. Sie schaute zu dem Gekreuzigten empor, streifte die Schuhe von den Füßen, kniete nieder und faltete die Hände. Die mit erhobenem Kopf geführte Zwiesprache mit dem Gottessohn war von solcher Inbrunst, dass die Seele dieses Mädchens im Gebet zu erröten schien. Und er saß da als stiller Gaffer, außerstande die Augen von ihr zu wenden. Endlich stand sie auf, endlich war auch er imstande zu gehen. Er folgte ihr ins Freie und sah, wie sie einmal über die Schulter auf den Rasen spuckte. Es war ein symbolisches Spucken, ohne die Verschwendung von Speichel. Die Zunge presste mit leisem Plop Luft durch die Lippen, als würde man aus einem Blasrohr schießen.

Automatisch wanderte seine Hand zu der Hemdtasche, in der für gewöhnlich die Zigarettenschachtel steckte. „Ava ava hava hava! (1) “ stand auf einem vorbeifahrenden Bus, was so viel hieß wie: „Schmutziger Tabak“. Daneben prangte ein Totenkopf, der einen Glimmstengel zwischen den Zähnen hielt. Gelegentlich waren die Zeichen, die einem zur Navigation durchs Leben gegeben wurden, doch recht plump, dachte er schmunzelnd.

Das Erlebnis in der Kirche beschäftigte ihn noch eine Weile. In besserer Verfassung hätte er die Augen niedergeschlagen und mit dem Mädchen gebetet, anstatt sie heimlich anzustarren. Doch zu diesem ungleich höheren Genuss war er offenbar noch nicht in der Lage. Immerhin hatten seine Augen eine Geste von Format eingefangen — die der leidenschaftlichen Demut, zu der die Mädchen auf Tahiti fähig waren.

Er suchte das Bistro auf, in dem er so gerne gesessen hatte, und ließ seine Augen zwischen dem gegenüberliegenden Eisstand, der Boutique und dem Parfumladen hin und her schwirren. Er bewunderte die ursprüngliche Schönheit der Polynesier. Sie hatten es im Laufe der Geschichte immer wieder verstanden, die Betonlasten der Zivilisation zu sprengen, die man ihnen die letzten zweihundert Jahre auferlegt hatte. Sie waren eben nicht damit zufrieden, sich in einer Bastardkultur einzurichten.

Nach einigen Stunden, in denen er den Reiz des europäischen und asiatischen Einflusses in den Gesichtern der Mädchen mit dem der unverfälschten, von Gauguin gemalten Maori-Erbinnen verglichen hatte, kehrte ein Gefühl zurück, das sich bereits bei seinem ersten Besuch eingestellt hatte. Es war das Gefühl, von wilder Schönheit umgarnt zu werden und sich zu ergeben unter dem Einfluss des süßen Gifts, das höchsten Genuss bereitete, aber nicht die geringste Begehrlichkeit weckte. Dieses Gefühl ging außerhalb Tahitis unweigerlich verloren. Aber jetzt war es da, jetzt winkten ein paar entspannte Wochen ...

Als er am Nachmittag zurück kehrte, legte er sich endlich schlafen. Wenn Steve ihn nicht am nächsten Morgen geweckt hätte, um ihn daran zu erinnern, dass in wenigen Minuten die offizielle Begrüßung anstand, hätte er wohl den ganzen Tag verschlafen. Er folgte dem Jungen hinüber in die Versammlungshalle am Wasser. Das gewölbte Dach der Halle wurde von Säulen gestützt und der Raum war zu allen Seiten hin offen. Der mosaikverzierte Boden wurde von einer Bambusbalustrade umlaufen, die Stühle waren paarweise Richtung Meer ausgerichtet. An der Stirnwand stand ein langer, mit Blumen geschmückter Tisch auf einem Podium, an dem vermutlich das Begrüßungskomitee Platz nehmen würde. Zur Rechten wartete eine Gruppe Musiker auf ihren Einsatz.

Cording setzte sich. Kurz darauf fragte eine junge Dame nach seinem Namen, schaute auf eine Liste und platzierte ihn drei Reihen weiter hinten. Der Stuhl zu seiner Rechten war frei und als er sich umschaute bemerkte er, dass alle Kolleginnen und Kollegen einen freien Stuhl neben sich hatten. Auf jedem dieser Stühle befand sich ein beschriftetes Namensschildchen. Cording nahm seines zur Hand. Maeva stand drauf. Das hieß willkommen, war aber auch ein Mädchenname!

Steve lehnte draußen an der Säule und versuchte vergeblich, Cordings Aufmerksamkeit auf den Zug der Frauen und Männer zu lenken, der sich durch den nahen Kokoshain auf die Halle zu bewegte. Die Musiker begannen zu spielen. Die Töne plätscherten dahin wie Blüten auf den warmen Wassern der Lagunen. Es ist der Atem des Ozeans, dem die tahitianische Musik verpflichtet ist.

Eine Reihe stolzer Frauen und Männer schritt in die Halle, die Tücher ihrer traditionellen Gewänder schmiegten sich um die Körper und unterstrichen eindrucksvoll die Grazie ihres aufrechten Gangs. Die Frauen zerstäubten ihr feinstes Lächeln, die Herren blickten stolz über die Versammlung hinweg. Sie gingen den Mittelgang hinunter und stellten sich hintereinander auf. Jedem Kollegen stand nun ein entzückendes weibliches Wesen zur Seite und den Kolleginnen ein gut gewachsener Tahitianer.

„Iaorana! (2) “, hörte er Maeva sagen.

Es musste Maeva sein, das stand auf dem Kärtchen. Cording erhob sich und rückte ihr den Stuhl zurecht. Sie quittierte die Geste mit einem amüsierten Lächeln. Nachdem die Tahitianer ihre Plätze eingenommen hatten, nachdem sich das peinlich beredte Schweigen der Journalisten lange genug an dem taktvollen Schweigen ihrer fremden Begleiterinnen gerieben hatte, erschien der Einzug der Regierungsdelegation den meisten Reportern wie ein Geschenk des Himmels. Im Zentrum der Riege, die nun auf dem Podium Platz genommen hatte, saß der Umweltminister. Zu seiner Rechten die Finanzministerin mit ihrem Dezernenten, links davon die Regierungssprecherin und die Dolmetscher.

Die Musiker hörten auf zu spielen. Noch bevor sich der letzte Ton verflüchtigt hatte, begannen die Tahitianer zu applaudieren. Der Applaus schwoll an, als ein schlanker, in lange weiße Gewänder gekleideter Mann im Gegenlicht erschien und majestätisch vor die Versammlung trat. Sein gelocktes Haar, das von der Sonne mit einem flirrenden Goldrand bedacht wurde, fiel bis auf die Schultern. Unter dem linken Arm trug er einen hölzernen Schemel. Cording konnte sich nicht satt sehen an der Erscheinung. Der Mann senkte kaum merklich den Kopf. Eine imponierende Verbeugung, wie Cording fand, voller Respekt und Zuneigung. Kein Zweifel, das war Omai. In nur neun Jahren war sein jugendlicher Freund vom revolutionären Wortführer zu einem sich seiner Verantwortung bewussten würdevollen Herrscher gereift!

„Mein Name ist Omai“, begann er, „ich bin der frei gewählte Präsident der Ökologischen Konföderation Polynesien. Meine Eltern gaben mir drei Vornamen: Jacques für meine französischen Vorfahren, Harold für meine angelsächsischen Vorfahren, und Tiamatahi für meine Maori-Vorfahren. Für alle, die nicht genügend Tahitianisch können: Tiamatahi heißt ‚Der erste Unabhängige‘. Und als solcher begreife ich mich.“

Im Namen seines Volkes hieß er die Medienvertreter aus aller Welt willkommen und erinnerte an den Zweck der Einladung.

„Wir haben Sie hergebeten, damit Sie sich davon überzeugen können, dass die menschliche Gemeinschaft funktioniert. Dass sie frei sein kann von Missgunst und Vorteilsnahme, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zwingend notwendig ist. Die menschliche Gemeinschaft ist unsere Heimat, ebenso wie die Natur unsere Heimat ist. Wir Polynesier begegnen uns im gegenseitigen Respekt und verstehen, dass der Natur das gleiche Recht gebührt. Wir haben damit begonnen, unser Leben neu zu organisieren. Wir glauben, dass so wichtige gesellschaftliche Themen wie Mobilität, Grundversorgung, Baubiologie, Bodenrecht, Landwirtschaft, Geld- und Steuersystem, Parlamentsreform, Architektur, Bildung und Gesundheit nur befriedigend zu lösen sind, wenn sie im Verbund wirken und vom gleichen Geiste getragen werden. Die Menschheit ist entschieden zu weit gegangen — es ist an der Zeit, Lebensqualität statt Gier und Zerstörung zu produzieren. Wie sagte doch Sokrates: Nicht das Leben ist von Bedeutung, sondern die Lebensführung ... Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt auf unserer Insel, ich wünsche mir von Herzen, dass Sie verstehen, was auf Tahiti geschieht. Denn was bei uns möglich ist, sollte auch woanders möglich sein.“

Wieder verneigte sich Omai und wieder steckte in diesem kaum merklichen Kopfnicken Würde und Aufmunterung. Cording war von der kurzen Ansprache beeindruckt, Omai hatte es verstanden, mit wenigen einfachen Worten das tahitianische Lebensmodell auf den Punkt zu bringen.

Während Polynesiens Präsident an der Seite eines Leibwächters die Versammlungshalle verließ, ergriff die Regierungssprecherin das Wort. Sie klärte die Anwesenden darüber auf, was es mit den tahitianischen Begleitern auf sich habe. Maeva würde also während der nächsten drei Monate Cordings Führerin sein, ihm auf seinen Ausflügen über die Insel zur Seite stehen und ihm jede sachdienliche Frage beantworten.

„Wie, wann und wie häufig Sie Ihre Verabredungen treffen, hängt natürlich von Ihnen ab“, fügte die Sprecherin lächelnd hinzu. „Damit Sie sich mit ihrer Begleiterin oder Ihrem Begleiter jederzeit in Verbindung setzen können, erhalten Sie von uns nachher ein G-Com-Mobiltelefon*, wie es bisher nur in Polynesien benutzt wird. Diese neuartige Telekommunikation ist gesund und kostenfrei. Sie produziert keinen Elektrosmog und benötigt weder Sendemasten noch Satelliten, Verstärker oder Provider. Sie nutzt die in der Natur vorhandenen, stehenden Gravitationswellen. Da diese Wellen das gesamte Universum durchfluten, spielen weder Entfernungen noch Zeit eine Rolle. Alle weiteren Details zu dieser Technik entnehmen Sie bitte Ihren Presseunterlagen. Sie sehen also: es gibt viel zu entdecken auf Tahiti.“

Cording tat sich schwer, den anschließenden Ausführungen des Umweltministers zu folgen, der nicht nur ein schlechter Redner war, sondern auch ein gewöhnungsbedürftiges Englisch sprach. Über eine Stunde schwadronierte der Minister über die Schwierigkeiten des Rückbaus, was immer das sein mochte. Außerdem wackelte er mit den Ohren. Parallel, in entgegen gesetzter Richtung, oder einzeln. Kaum einer der anwesenden Journalisten konnte angesichts dieses Schauspiels ernst bleiben. Es war unvorstellbar, dass so jemand außerhalb Tahitis in Amt und Würden geraten wäre.

Die Finanzministerin nahm das Wort. Sie bedankte sich für die Unterstützung, die Europa ihnen während der letzten Jahre gewährt hatte. Ihre Aufgabe bestand darin, der internationalen Reporterschar klar zu machen, dass es ganz wesentlich von ihrer Berichterstattung abhing, ob das „Tahiti-Projekt“ weiterhin mit Geldern rechnen dürfte oder ob man auf dem eingeschlagenen Weg ins Stolpern geriet.

Cording hielt diese Strategie für falsch. An Omais Stelle hätte er auf diesen unverhohlenen Hilferuf verzichtet. Er hätte die gestressten Lohnschreiber in Ruhe gelassen, ihnen die Möglichkeit gegeben, sich frei und ungezwungen auf der Insel zu bewegen, sich infizieren zu lassen von dem neuen Geist, der auf Tahiti herrschte. So aber begriffen sich die meisten wohl als willkommenes Propagandainstrument in den Händen der hiesigen Regierung. Das konnte nicht gut gehen. Er kannte die Mentalität von Journalisten. Sie reagierten allergisch auf jeden Versuch der Vereinnahmung. Diese Leute waren hergekommen, um einen Job zu erledigen, sie waren mindestens so abgestumpft wie er. Denen brauchte man mit Ethik und Aufbruchstimmung nicht zu kommen.

Tahiti war ein Fliegenschiss auf der Landkarte, und wie es außerhalb der Korallenriffe aussah, wusste niemand besser als diese Bagage. Das ganze Konglomerat aus Klimakollaps und Korruption, aus Arbeitslosigkeit, ökologischen Altlasten, Hunger, Atommüll, Wissenschaftswahn, Wasserknappheit, Epidemien, Terrorismus, Bürgerkriegen, Spekulation und wer weiß was allem flog der Menschheit gerade weltweit um die Ohren. Da war es allenfalls rührig, dass sich ein unerschrockenes Inselvölkchen neu zu orientieren versuchte. Wie hatte Mike gesagt? „Südseesekte“. Gegen diese Arroganz war kein Kraut gewachsen.

Cording rutschte vom Stuhl und stahl sich so unauffällig wie möglich ins Freie. Die Situation war günstig. Die Finanzministerin hatte aufgehört zu betteln und ihr Dezernent blätterte noch in dem angekündigten Rechenschaftsbericht, was zur Folge hatte, dass die Versammlung nervös mit den Füßen scharrte. Wo war Steve? Er kauerte mit seinem Laptop an einer Kokospalme. Von den fleißigen Helfern, die große Mengen Früchte, Salate und Getränke herbeischafften, um sie auf den im Hain verstreuten Tischen zu drapieren, nahm er keine Notiz. Ebensowenig ließ er sich von der zwölfköpfigen Tanzgruppe aus der Ruhe bringen, deren weibliche Mitglieder sich gegenseitig bei der Anprobe der Kostüme behilflich waren.

Cording blickte zu Maeva hinüber, die er im wahrsten Sinne des Wortes hatte sitzen lassen. Er war sich seines Affronts bewusst und hätte ihr gerne zu verstehen gegeben, dass er sein Verhalten bedauerte, doch die Gelegenheit gab sie ihm nicht. Aufrecht und aufmerksam verfolgte sie das Geschehen auf dem Podium, als wollte sie ihm Anschauungsunterricht in gutem Benehmen erteilen. Nach einer quälenden halben Stunde, während der er beschämt an der Bambusbalustrade lehnte, entließ die Regierungssprecherin die erschöpften Zuhörer in den Garten. Sie kamen paarweise heraus, wie bei einem Abschlussball.

Jemand tippte ihm von hinten auf die Schulter. Als er sich umdrehte, stand Meredith Rose vor ihm und grinste ihn an. Er hatte die Reporterin von National Geographic während des Redwood Summers in Alderpoint kennengelernt. Sie gehörte zu den Unerschrockenen ihres Fachs, darüber hinaus war sie eine brillante Schreiberin und verfügte über einen köstlichen Humor. Er war froh sie zu sehen, zumal Maeva nicht die geringsten Anstalten machte, zu ihm zu kommen. Sie diskutierte mit dem Umweltminister.

„Da hat man Ihnen aber eine zauberhafte Perle zugeteilt“, hörte er Meredith sagen.

„Hm ...?“

„Das Mädchen. Es ist außergewöhnlich schön.“

„Ihr Mädchen etwa nicht?“

Sie schauten sich an und brachen in schallendes Gelächter aus. Maeva drehte sich nach ihnen um und wirkte fast ein wenig erschrocken.

Cording verabschiedete sich von Meredith, ging hinüber zum Podium und reichte Maeva den Arm. Schweigend schlenderten sie an den Strand. Seine Begleiterin zog die Schuhe aus und er folgte ihrem Beispiel. Der feine schwarze Sand kitzelte zwischen den Zehen.

„Es tut mir leid“, sagte er und ließ sich der Länge nach im Sand nieder. Er schaute durch die Palmenwedel hindurch in einen wilden Himmel und lauschte auf das ferne Rauschen der Brandung. Maeva blickte auf ihn herab.

„Ich hab mich vorhin unmöglich benommen“, sagte er, „es tut mir aufrichtig leid.“

Maeva antwortete nicht, sie machte jedoch nicht den Eindruck, als wollte sie ihm die Unverschämtheit bis in alle Ewigkeit nachtragen. In Gegenwart dieses Mädchens, das ihn so liebevoll anschaute, kam es Cording vor, als sei sein Leben bisher an ihm vorbei geglitten.

„Ich bin noch nicht angekommen“, fuhr er leise fort, „ich ertrage euch noch nicht ...“

Maeva schaute ihn weiterhin einfach nur an.

„Geben Sie mir drei Tage Zeit. Drei Waschtage. Dann können wir anfangen, miteinander zu arbeiten. Ist das okay?“

Seine Begleiterin nickte.

„Danke“, sagte er und stand auf. Er ging neben ihr her und genoss die zufälligen Berührungen, wenn einer von beiden in dem tiefen Sand aus der Balance geriet. Drei Tage, das müsste reichen, um sich ein paar Placken aus der Dreckschicht zu hauen, die einem zivilisierten Endzeitbürger wie ihm die Poren verklebte.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Bedeutet soviel wie „beschmutzter Tabak“.
(2) Eigentlich „Ia ora na“, wird zur allgemeinen Begrüßung verwendet wie unser „Hallo!“ (wörtlich: Dass du lebst).

*Die Erklärungen der im Roman verwendeten Fachbegriffe sowie Hinweise für interessierte Leser auf weiterführende Literatur oder Webseiten befinden sich im Buch. Obwohl das „Tahiti-Projekt“ ein Zukunftsroman ist, sind die in ihm dargestellten technischen Lösungen und sozioökologischen Modelle keine Fiktion: sie existieren bereits heute! Das einzig Fiktive ist die Annahme, dass irgendwo auf diesem Planeten tatsächlich mit konkreten Veränderungen in Richtung auf eine zukunftsfähige Lebensweise begonnen wurde.

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