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Ein Jahr älter

Ein Jahr älter

Wer die Angst vor der Vergänglichkeit überwinden will, muss sich ihr stellen.

Schon wieder ein Jahr älter! Wie die Zeit vergeht! Kaum ist der Körper zur Höchstform aufgelaufen, kaum haben sich Schönheit und Kraft vollends entfaltet, geht das Leben auch schon seinem Ende entgegen. Allzu schnell ist der Zenit überschritten. Kaum ist der Sommer da, schon werden die Tage wieder kürzer und die blühende Pracht beginnt zu welken. Noch zeigen sich die Blüten in farbenfrohem Gewand, noch stehen die Bäume in vollem Grün. Doch im voranschreitenden Sommer erahnen wir schon seinen unerbittlich nahenden Abschied.

„Man muss sie loslassen, die Jugend. Man muss sich neu machen und sich in einer neuen Zeit lieben, sich neu erfinden, neugierig bleiben. Werden Sie alt, als wären Sie Wein, riechen und genießen Sie das Aroma, ohne sich an das Gähnen zu gewöhnen“, schreibt die italienische Dichterin Cecilia Resio. Ich schenke mir ein Glas ein und lasse meine Gedanken über die vorbeifliehenden Monate und Jahre gleiten. Sie streifen meine Zeit des Suchens, des sich Setzens und des Weiterziehens, die süße Kindheit, in der die großen Ferien wirklich und wahrhaftig noch groß waren.

Heute ist es, als läge zwischen zwei Weihnachten ein Wimpernschlag. Kaum hat etwas begonnen, so ist es auch schon wieder zu Ende. „Vorbei, vorbei“, seufzt in dem Märchen von Hans Christian Andersen der Tannenbaum, als er abgetakelt aus der guten Stube verbannt wird, nachdem er sein Leben lang davon geträumt hatte, einmal Weihnachtsbaum zu sein. Als noch der Wind ihn küsste und der Tau Tränen auf ihn weinte, verstand der kleine Tannenbaum nicht, wie reich ihn seine Gegenwart beschenkte. Sein ganzes Leben verbrachte er damit, sich zu sehnen und die Freude auf später zu verschieben.

Den Zeitfächer öffnen

Ich schüttele meine Melancholie ab und sage mir, dass es immerhin besser ist, älter zu werden, als nicht älter zu werden. Schließlich lebe ich gern. In der sommerlichen Schwüle beginne ich, meinen Lebensfächer auseinanderzuziehen. Aus Jahren werden Tage, Stunden, Minuten. Immer weiter entfaltet sich das Akkordeon, bis es mir vorkommt, als sei mein Leben nicht eins gewesen, sondern zwei, drei, viele. Ich bin uralt und habe unzählige Leben hinter mir. Streift mein Blick so über den heutigen Tag, ist auch der Morgen schon eine Ewigkeit her. Was habe ich in den letzten Stunden gesehen, gehört, gespürt, gedacht, gesagt, getan? Welches Wort hat mich berührt, welcher Duft mich gestreift, welcher Geschmack mich überrascht?

Jede Minute hat ihren eigenen Schimmer und jeder Augenblick seinen besonderen Klang. Verträumt spiele ich mit dem Zeitfächer in meiner Hand. Wie nutze ich den Moment, der mir gegeben wurde?

Wie gestalte ich ihn? Lasse ich meine Zeit verstreifen oder laufe ich ihr hinterher? Lasse ich andere über sie bestimmen oder entscheide ich selbst, was ich mit ihr anfange? Dümpele ich immer an derselben Stelle oder wage ich mich hinaus in das Meer der Zeit?

Hier herrscht Bewegung. Wellen türmen sich auf und drohen, mich durcheinanderzuwirbeln. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, nicht gegen sie anzukämpfen und sie, so gut ich kann, zu nehmen. Es ist wie surfen. Das Wasser trägt. Ich muss mich nur darauf einlassen, mich flexibel und biegsam machen und mein Bestes tun, um das Gleichgewicht zu halten. Ich kann mich den Wellen vertrauensvoll hingeben. Sie sind nicht gegen mich. Von ganz alleine werden sie auslaufen und mich dort absetzen, wo ich Boden unter den Füssen habe.

So gewappnet trete ich vor den Spiegel. Ich sehe ein Gesicht, das mehr als nur ein paar charmante Lachfältchen hat. Die jungen Jahre sind ganz eindeutig vorbei. Will ich sie zurück? Will ich mich erneut von jedem Windhauch verunsichern lassen? Will ich wieder jedem gefallen und von der Angst gefangen sein, nicht den richtigen Mann, die richtigen Freunde und den richtigen Job abzubekommen? Will ich wieder meine Zeit damit verbringen, den Dingen hinterherzulaufen? Will ich meine Energie darauf verwenden, die Spuren der Zeit zu verwischen?

Das alles will ich nicht mehr. Früher war nicht alles besser. Die Welt war nicht grösser und die Möglichkeiten waren nicht unbegrenzter. Diese Geschichten erzählen wir uns, um über unsere Bequemlichkeit hinwegzutäuschen. Vielleicht haben wir im Laufe der Jahre unsere Ideale verraten und unsere Seele verkauft und sind dabei blind geworden. Wir sehen nicht mehr wie das Kind, wenn der Kaiser nackt ist. Wir halten unsere Illusionen für Realitäten und nennen das Vernunft. Doch das hat nichts mit der voranschreitenden Zeit zu tun, sondern vor allem mit geistiger Unbeweglichkeit und emotionaler Verkümmerung.

In Würde altern

So tausche ich bereitwillig meine jungen Jahre gegen das bewusste Altern. Es ist eine gute Gelegenheit, sich aus alten Fesseln zu lösen. Wir sind nicht dazu verdammt, Vergangenem hinterherzutrauern und Zukünftiges zu befürchten. Wir müssen unser Leben nicht ertragen, sondern können es jederzeit selbst nach unseren Vorstellungen gestalten.

Bis zu unserem Tod bewahrt sich unser Gehirn die Kapazität, neue Neuronen und Verschaltungen zu bilden. Auch wenn die Muskeln schlaffer und die Knochen brüchiger werden: Wir können uns nicht damit herausreden, „zu alt“ zu sein und den nachfolgenden Generationen den Schlamassel hinterlassen, den wir angerichtet haben.

Ob alt oder jung: Hier geht es darum, zusammen zu arbeiten. Arthrose und ausfallende Haare sind kein Grund, die Hände in den Schoss zu legen. Im Gegenteil: Je beweglicher wir uns machen, desto besser geht es uns. Raus aus den Sesseln also! Das Leben bietet zu jedem Zeitpunkt unerschöpfliche Möglichkeiten! Wir können noch einmal richtig loslegen, wenn wir uns auf das konzentrieren, was sich mit den Jahren weiter entwickelt: unsere geistige Schöpferkraft. Anstatt uns mit Fernsehshows, Biertischen und Kaffeekränzchen abzulenken, können wir die uns verbleibende Zeit damit verbringen, unser Bedauern in ein neues Abenteuer zu verwandeln.

Überleben oder leben?

Es sind vor allem die vielen Wiederholungen im Leben, die uns den Eindruck bescheren, die Zeit rase dahin. Immer die gleichen Gesten, die gleichen Ideen, die gleichen Abläufe, die gleichen Beschäftigungen. Wer lange etwas von seinem Leben haben will, der muss zur Veränderung bereit sein. Er muss sich eingestehen, dass er nicht schon alles kennt und alles weiß und sich vielleicht hier und da auch geirrt hat. Gerade die heutige Zeit bietet einen wunderbaren Anlass, damit anzufangen. Denn wenn wir jetzt nicht damit beginnen, uns zu öffnen und uns Fragen zu stellen, wird unsere Spezies nicht mehr lange diesen Planeten bevölkern.

Lassen wir also Wechseljahre und Prostata in Ruhe und bringen etwas auf die Welt, von dem alle etwas haben: unsere Fähigkeit, frei zu denken und entsprechend zu entscheiden. Noch ist das möglich. Noch sind die 5G-Netzwerke nicht komplett, noch sind wir nicht totalüberwacht, noch sind unsere Körper nicht durch Impfstoffe genetisch modifiziert. Noch können wir selbst beeinflussen, was in uns los ist, welches Ziel wir mit unserem Leben verfolgen und welcher Sache wir uns verschreiben: Kontrolle oder Freiheit? Technik oder Natur? Dahinvegetieren oder Leben?

Souverän in der eigenen Innenwelt

Während ich in Gedanken versunken mein Glas leere, gehen mir die Generationen durch den Kopf, die noch zu Hause altern und sterben durften. Heute müssen wir damit rechnen, dass man uns unter dem Vorwand, unser Bestes zu wollen, in einem sogenannten Pflegeheim einschließt, mit Medikamenten vollpumpt, körperlich und seelisch misshandelt und uns von allem trennt, was uns lieb ist. Vor laufendem Fernseher sterben wir isoliert und einsam nicht an einer warmen Hand, sondern an kalte Maschinen angeschlossen. Das ist der Preis für unsere erhöhte Lebenserwartung.

So will ich nicht aus der Welt gehen. Ich will in Freiheit sterben. Doch vorher will ich in Freiheit leben. Niemand soll von mir das Recht bekommen, über mich zu bestimmen.

Mögen mich äußere Umstände gefangen halten: In meinem Inneren bin ich Souverän. Ich allein übernehme die Verantwortung für das, was in mir geschieht. Ich trage Sorge für mein Terrain und ich bestimme, was hier wächst und was nicht.

Ich reiße das aus, was nicht in meinen Garten gehört. Regelmäßig reinige ich mein Terrain, auf dem sich wie auf der Festplatte eines Computers Überholtes festgesetzt hat. Immer wieder befreie ich meine Innenwelt von meinen eigenen alten Überzeugungen und fixen Ideen, von obsoleten Programmen und ihren Kopien. Versprechen und Erinnerungen, Schwüre und Flüche, Verletzungen und Gedanken lösen sich auf in den Sonnenstrahlen, die ich in meiner Vorstellung hineinscheinen lasse. Im Einklang mit meinem Höchsten und Wahrsten — mit meiner Seele — gedeiht und entfaltet sich das Schönste, was mein Terrain herzugeben vermag.

Im Zyklus des Lebendigen

In welchem Zustand ich auch bin: Diese Meditation kann ich mir bewahren. Mit ihr verliert auch das Altern seinen Schrecken und das Feld wird frei für Neues. Hier wird sichtbar, dass die eigentliche Angst nicht die vor dem Tod ist, sondern die Angst vor dem Leben. Denn das Schlimmste, was uns widerfahren kann, ist es, im Sterben zu erkennen, nicht richtig gelebt zu haben: das Geschenk nicht ausgepackt, das Talent nicht erkannt, den Ruf der Seele nicht erhört, den Sinn nicht erfasst. Im Materiellen steckengeblieben, abhängig gemacht von äußerer Anerkennung und billigem Amüsement, vergänglichem Ruhm verschrieben und persönlichem Profit hinterhergejagt.

Wer sich den feinen Klängen des Lebens gegenüber verschlossen und sein Bewusstsein nicht weiterentwickelt hat, der steht im Alter vor dem Nichts. Er kann sich nur damit trösten, den fatalen letzten Augenblick so lange wie möglich hinauszuzögern.

Verzweifelt klammert er sich an vermeintlichen Reichtum und saugt bis zum letzten Blutstropfen aus, was er an sich reißen kann. Seine innere Leere nimmt ihm die Kraft, sich aus sich selbst heraus zu ernähren. Er muss sich auf alles stürzen, was mehr Leben in sich trägt als er selbst. Doch auch mit ihm wird es unweigerlich vorbei gehen, egal, wie viele künstliche Implantate seine angsterfüllte, vampirische und zombiehafte Existenz verlängern.

Für mich gibt es nur einen Weg aus der Angst vor meiner Endlichkeit heraus: mitten hinein in sie zu gehen. Ja, ich altere. Ja, es wird vorbei gehen. Ja, es kann wehtun. Auf diesem Boden der Akzeptanz will ich wachsen und blühen in den kräftigen und warmen Farben des Herbstes. „Befiehl den letzten Früchten voll zu sein, gib Ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein“, schrieb sich Rainer Maria Rilke seine Melancholie vom Herzen. Von diesem Wein will ich trinken. Früchte will ich tragen und zur Reife bringen, bevor wie in jedem Ende schon der neue Anfang zu erahnen ist.

So fühle ich mich gut aufgehoben im Zyklus des Lebendigen. Voller Freude blicke ich auf das, was sich schon abzeichnet. Bunt soll es sein, Überraschendes, Unvorhersehbares soll es bergen. Ganz da sein will ich, präsent für das Geschenk. Kosten will ich es, welchen Geschmack es auch hat. Ausprobieren will ich, was sich mir bietet. Nicht stehenbleiben will ich, weitergehen, weitermachen, neugierig sein und mich begeistern lassen. Vertrauen will ich, was auch kommt. Türen sollen sich öffnen, durch die ich hindurchschreiten will — ein Jahr älter, ein Jahr hoffnungsvoller, ein Jahr zuversichtlicher. Alles bleibt möglich.


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