von Heiner Weidmann
„Der Strick des Glücks“: Das ist der berühmte Strick, an dem wir alle ziehen, in die gleiche Richtung, damit es uns allen weiterhin gut geht, wenn nur niemand ausschert. Aber sicher kennt der Strick auch noch andere Verwendungen. Teer Sandmann erzählt 25 „Gute-Nacht-Geschichten für Kinder und Keti“. Dieser Sandmann aber bringt keinen ruhigen Schlaf, er streut keinen Sand in die Augen, er sorgt eher für weit aufgerissene und für anhaltende Schlaflosigkeit.
„We came, we saw, he died“
Gute-Nacht-Geschichten sollten kurz sein, daran hält er sich. Aber sie sind nicht einmal jugendfrei. In der Geschichte „Böser Penis“ wird erzählt, wie Netflix „Die Biene Maya“ aus dem Angebot nimmt, weil eine empörte Mutter auf einem Baumstamm im Hintergrund einen gekritzelten Penis gesichtet und gegen Netflix geklagt hat. Aber schlimmer als jener Penis ist natürlich dieser Schutz, den sich die Kinder angedeihen lassen müssen. Und richtig obszön ist nicht eine „Scheide“, sondern zum Beispiel Hillary Clintons „We came, we saw, he died“ als Kommentar zum Tod von Gaddafi oder das berühmte Bild jener Clique, die in Washington gerade der Tötung eines oder „des“ Terroristen auf dem Bildschirm zuschaut, welches Sandmann plausibel als pornografische Szene liest.
Kinder müssen aufgeklärt werden. „Aufklärung für Kinder“, so nannte Walter Benjamin eine Reihe von Rundfunktexten 1929 bis 1932, und im Zeichen der Aufklärung steht auch das neue Buch von Teer Sandmann. Sein letztes, „Golo spaziert“, radikalromantische Betrachtungen eines Flaneurs im 21. Jahrhundert, eines Ausgestoßenen, der beobachtend die Gegenwart seiner kompromisslosen Analyse unterzieht, ein großes Buch, monumental montiert aus scheinbar kleinen Texten, es führt ganz folgerichtig zum „Strick des Glücks“, dieser Lektion in Sachen Aufklärung.
Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
Morgens um sieben war die Welt noch in Ordnung, in den Siebzigerjahren, instrumentiert von James Last? Sie war es nicht, und sie ist erst recht nicht in Ordnung heute, wo wir Kinder auf unsere Gute-Nacht-Geschichten warten. Was nicht in Ordnung ist, das ist diese ganze Ordnung, alles ist falsch, und es könnte so, wie es ist, auch nicht sein, könnte auch anders sein. Das ist es, was dieser Sandmann uns erzählt, und darum sind seine Geschichten politisch.
Da alles falsch ist, müssen seine Geschichten nicht unbedingt bei Skandalen ansetzen, aber natürlich kann das auch sein: Beim Fall Mechtild Bach etwa, die als Palliativmedizinerin von der Justiz 2011 in jene (Selbst-)Tötung durch Morphium hineingetrieben worden ist, die ihr von der Justiz zu Unrecht vorgeworfen wurde. Oder bei der Abhängung unsittlicher Kunst in der Mensa der Uni Göttingen 2017.
Schlag gegen den Lack
In anderen Geschichten greift der Sandmann ganz alltägliche Vorfälle auf; er nimmt und dreht und wendet sie derart gedanklich im Kopf und sprachlich im Mund herum, dass die Kinder atemlos zuhören: Vater und Tochter auf dem Weg zur Kita, großes schwarzes Auto fährt auf sie zu, Schlag des Vaters an den Lack, Fahrer — arabisch aussehend, aber egal — droht mit Polizei, lässt es dann aber für einmal gut sein. Oder: Ein — dritter — Geburtstag wird gefeiert, Eltern locker, dann Streit unter den Kindern und „Jetzt entschuldigst du dich“ und wieder Lockerheit, auch wenn jemand so tut, als sei er anders gesinnt. Oder: Einer sucht einfach so nach den Primarschulklassenkameradinnen und -Kameraden, er recherchiert und stellt sich vor, was inzwischen aus ihnen geworden ist. Oder es denkt einer nach über jene Deutschen, die aus bewussten Gründen mit Kippa auf die Straße gehen.
Lechts und Rinks
So unspektakulär und schon bekannt vieles ist — was dann in der Gute-Nacht-Geschichte, die sich dem widmet, daraus gemacht wird, das kann einen durchschütteln. Denn jede schöne Position, jede linke und jede rechte, wird uns erst einfach mal weggenommen. Wir müssen zusehen, wie Aufklärung — was sie natürlich tut, wenn es sich um Aufklärung handelt — sich selber angreift, wie Sandmann genau gegen jene Haltungen am heftigsten vorgeht, die seine eigenen und ihm lieb sind: Bei Professor Mausfeld, der ihm als der klügste der Professoren erscheint, muss er den blinden Fleck entdecken, dass der große „Lammforscher“ nicht mit der Neigung der Lämmer gerechnet hat, geführt und behütet werden zu wollen.
Einen Theatermacher, Milo Rau, den er schätzen muss, ertappt er ausgerechnet dabei, wie er seine Gesellschaftskritik eben wohlweislich nicht gegen die Gesellschaft richtet, die ihm das Geld gibt, sondern gegen eine andere, leichter kritisierbare. Er hört „Raschia tudei“ und staunt darüber, dass die dort mindestens genau so kritisch sind wie die Medien Zeit-Spiegel-Welt hier, aber halt genau andersrum, und er kommt ins Nachdenken. Er durchschaut, dass die, die die Guten des Mainstreams durchschauen, auch eben nur die Guten-Guten sind, und er lenkt folgerichtig den Verdacht weiter auf sich selbst, ob er, der das auch noch durchschaut, vielleicht nur ein Guter-Guter-Guter sein könnte.
So einer kann nicht mehr links oder rechts stehen, ein Wunder, dass er noch steht; und wenn man auf den ersten Blick in diesem Buch sofort Antiamerikanismus ausmachen kann und Verschwörungstheorien — aber dieses Wort kommt im Buch nicht vor — erkennen will, dann stockt einem doch der Atem, wenn man vom berühmten durch keine Ursache an 9/11 in sich zusammengefallenen „dritten Turm“ liest und aufgefordert wird zu bedenken, dass die Gegner der Verschwörungstheorie, also wir, sich nicht anders gebärden als Gläubige, die einen Irrglauben bekämpfen. Und was den Antiamerikanismus betrifft: Keiner ist empfänglicher als Sandmann für den poetischen Zauber des Films „La notte di San Lorenzo“, wo die Ami-Befreier mit den Kindern Spaß machen, während man doch jetzt weiß, dass die Sprengung der Kirche von San Miniato durch ein amerikanisches Geschoss erfolgte.
Eine georgische Frau als Kontrapunkt
Sandmanns Denken greift alles und auch sich selbst an. Und hier kommt Keti ins Spiel. „Gute-Nacht-Geschichten für Kinder und Keti“ heißt ja der Untertitel, und wie in seinem letzten Buch „Golo spaziert“ instrumentiert Sandmann Mehrstimmigkeit, indem immer wieder die abwesende Keti angesprochen wird, eine Frau in Georgien. Der Erzähler hat sie angetroffen im Jahr 1997, begeistert von der historisch offenen Gegenwart, von der ungebändigten Vitalität der Frau und des Landes, das wohl damals aufbrach genau gegen Westen in eine Amerikanisierung hinein, die Georgien inzwischen zu einem „Stützpunkt des Pentagons“ gemacht hat. Wie es Keti geht, weiß er nicht, er weiß nur, dass sie seinen Projektionen entgeht, eine Figur der Gegenläufigkeit, die zu diesem kritischen Buch passt.
Vielleicht kann der Sandmann den angesprochenen Kindern besser die Augen öffnen als den Erwachsenen, die sich schon für genügend kritisch halten, wie der Pfarrer, der sich den Einspruch, die aktuellen Exempel, die er in seine Predigt einbaue, könnten vielleicht seiner Botschaft widersprechen, geduldig anhört: Ja, darüber sei nachzudenken, und ja, die Mächtigen trügen halt eine schwere Bürde. Oder wenn Sandmann in einer linken Runde von Patienten erzählt, die auf dringende Spitaluntersuchungen monatelang warten müssten wegen der großen Zahl von zu untersuchenden Flüchtlingen, dann gibt man ihm zu verstehen, er solle sich doch mit Gleichgesinnten zusammenschließen. Und dabei ist er nur ein Ungleichgesinnter, gleichgesinnt nicht mal mit sich selbst.
Gegen die Glättung
Aufklärung ist Auflehnung, und gerade die Hoffnungslosigkeit des Unterfangens macht, dass die Gefühle mit der verständigen Einsicht durchgehen. Beim Aufklärer Lessing kann man lesen: „Wer über gewisse Dinge seinen Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.“ Sandmanns Buch ist scharfe Gesellschaftskritik und Kulturanalyse — und zugleich Abrechnung. Die Sprache gibt sich einfach, so als werde zu Kindern gesprochen, und Kinder sind offen und zum Glück noch schwer von Begriff. Aber die nur allzu verständlichen kurzen Sätze, die einhämmernde Wiederholung von wichtigen Schlüsselbegriffen, die so weit getrieben wird, bis sie nichts mehr bedeuten oder das Gegenteil oder endlich das, was sie sagen: Das ist sprachliche Wucht.
Sprachlich umwerfend, umstürzend muss ein Buch sein, das sich abheben soll vom Mainstreamdenken, vom herrschenden Diskurs, der alles, auch die Kritik an ihm, beherrscht und der sich fast nicht mehr fassen lässt. Gegen diese Gefahr schreibt Sandmann an: dass alles nur noch flächig ist und nahtlos, digitalisiert und geglättet wie die Oberflächen, die wir streicheln, als seien wir es selbst. Über den Korrespondenten einer großen Zeitung — aber es könnte auch eine ARD-ZDF-Sprecherin sein oder ein Professor oder jemand aus dem Elternkreis beim Kindergeburtstag — heißt es einmal:
„Mit nichts hat es zu tun. Außer mit seiner Glättung. Die Glättung kann er nicht sehen. Zu nahtlos alles. Keine Tiefe und keine Furchen und keine Kratzer. Und so glaubt er, seine Sätze hätten zu tun. In der Tat, das Erkennen der Glättung ist nicht Teil ihrer selbst.“
Ein gescheiter Amerikaner
So kann man die Sprache dieses Buchs beschreiben: Sätze, die zu tun haben. Sätze, die kratzen und Tiefe erzeugen wollen, die Differenzen schaffen, die einen Unterschied machen, die verletzend sind. Zum Beispiel:
„… und dann muss ich an Noam Chomsky denken, einen intelligenten Amerikaner, der einmal gesagt hat, dass es an den Hochschulen und bei den sogenannten Ausbildungen darin im Grunde nur darauf ankäme, sich von einer bestimmten Art des Redens und des Denkens vollständig überziehen zu lassen. Und der, bei dem dieser Überzug vollständig und bis zum Letzten an- und durchschlage, bekäme wieder einen Professoren- oder aber anderen hohen Stuhl.“
So viel zum Thema „Überzeugung“.
Oder in einer Gute-Nacht-Geschichte, die wie früher schon andere kürzlich als Beitrag in Rubikon erschienen ist und den Titel „Überall Butter“ trägt und in der das Wort „Butter“ 39-mal vorkommt: „Nun, ich glaube wahrhaftig an einen Verlauf von Geist zu Butter durch die Zeit, ein Verlauf, der sich in den letzten zwanzig Jahren allerdings tornadohaft beschleunigt hat.“
Wer in dieses Buch hineingeht, kann sicher sein, dass er nicht unbeschadet wieder herauskommen wird. Geschrieben worden ist es 2018 und 2019, also vor der Corona-Zeit. Dass der Autor dieses Thema ausgespart hat — oder ist es schon das Thema die ganze Zeit? —, das weckt die Hoffnung auf ein nächstes Buch von ihm.
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