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Gemeinsam uneinig

Gemeinsam uneinig

Um sich zu versöhnen, muss man vorher erst einmal gestritten haben. In unserer formierten, konsenssüchtigen Gesellschaft geht diese Weisheit immer mehr verloren.

Als ich ein Teenager war, habe ich zwei- bis dreimal die Woche Fußball gespielt, auf der zermanschten Wiese neben unserer Giesinger Kirche und mit einem bunten Haufen Freunde aus der Schule und der Nachbarschaft, der sich ganz ohne Smart-Phone-Messenger und ähnlichen Firlefanz ungefähr pünktlich einfand, um zwei bis drei Stunden und manchmal bis in den späten Abend hinein wild herumzubolzen, bis sich die Wiese endgültig in ein Schlammloch verwandelt hatte. Der Gärtner der Pfarrei, ein ansonsten meist grantiger, aber recht stiller Mann, äußerte sein Entsetzen mit biblischen Tobsuchtsanfällen, aber vertreiben konnte er uns nicht, nicht mal von seinem Wasserhahn, mit dem wir uns nach Abpfiff gegenseitig vollspritzten, bis auch seine zierlichen Blumen- und Kräuterbeete in Schlammlöcher verwandelt waren.

Wir waren, nicht nur für den Gärtner, ein eingeschworener Haufen Rabauken, der auch außerhalb des Spielfelds nichts als Unfug, Krawall und Zerstörung im Schilde führte. Schon im siebten Schuljahr — dem dritten an Münchens damals berüchtigtstem Gymnasium — gab es im Lehrerzimmer finstere Verschwörungen mit dem Ziel, unsere Klasse zu zerschlagen und auf die anderen beiden siebten zu verteilen, wobei der notorische „harte Kern“ bankpaarweise tranchiert werden sollte. Das funktionierte selbstverständlich nicht, nicht mal im Kleinen: Sobald man einen von uns woanders hinsetzte, fand er dort sofort einen Gesinnungsgenossen, und nach wenigen Minuten ging der vermeintlich abgewürgte Trubel von vorne los.

Allerdings gab es in unserer Klasse zwei bis drei Fraktionen: Die einen wollten den Lehrern gehorchen, um keinen Ärger zu kriegen, ein paar andere waren auf gute Noten aus, und wir — die ganz anderen — interessierten uns für Noten genauso wenig wie für einen ärgerfreien, also stinklangweiligen Schulalltag.

Was die Obrigkeit bis hinein ins Direktorat verzweifeln ließ, waren dabei nicht nur die zahlreichen Streiche, Spinnereien und Terroranschläge, mit denen wir die penetrante Fadheit der Lehranstalt etwas lockerten, sondern fast noch mehr die Tatsache, dass man aus uns nichts herausbekam: Wer war das? Wer hat das angerichtet? Wer war der Anstifter?

Wir sagten kein Wort, und selbstverständlich hielten auch die unschuldigen Fraktionen der Spießer und Streber absolut dicht. Falls sich doch mal jemand äußerte — weil ein Lehrer ansonsten kollektives Nachsitzen androhte —, war das Geständnis geschwindelt, was sich sofort zeigte, wenn der nächste sich meldete und ebenfalls gestand, bis es am Ende alle gewesen sein wollten.

Dabei konnte man auch Grundsätzliches über das Leben lernen. Als einmal einer meiner sogenannten besten Freunde während einer Englischstunde eine Tränengaspatrone zerlegt und mir den Inhalt ins Gesicht geschmiert hatte, interessierte sich die Lehrerin, während ich am Waschbecken in Flammen stand, nicht für mein Leiden, sondern nur für die Identität des Täters. Die ich selbstverständlich nicht verriet, weshalb sie mir einen Verweis erteilte. Wegen „Störung des Unterrichts“.

Man könnte meinen: Wow, das war ja mal eine eingeschworene Gemeinschaft, die Hand in Hand durch dick und dünn ging, getreu dem alten Schwur von Tick, Trick und Track: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns waschen und Gefahr!“

Das wäre allerdings eine grobe Falschbehauptung. Wir waren uns nämlich in so gut wie keinem Punkt einig. Das fing bei der Musik an: Der eine legte für Deep Purple beide Hände ins Feuer, der andere betete die Gruppe Yes an oder schwärmte von und für Emerson, Lake & Palmer. Einer meiner wüstesten Kumpane, der bereits eine Erdmann-Lederjacke besaß und sich in seiner Freizeit mit echten Rockern herumtrieb, stand seltsamerweise auf die Bay City Rollers. Ein eher milder Ersatzlibero mochte überhaupt keine Popmusik, sondern nur Beethoven und Schubert, und dann gab es auch noch diverse Ausreißer: Harry Belafonte, Scorpions, Disco, Schlagerquatsch. Und als Ende 1976 die ersten Ausläufer von Punkrock ins heimlich belauschte Nachtprogramm des Amisoldatensenders AFN vordrangen, konnte die Diskussion, welche Musik amtlich dufte und welche der letzte Dreck war, auch mal handgreiflich enden.

Das galt auch fürs Outfit. Zwar gab es noch keinen echten Markenterror, aber dessen Anfänge machten sich schon bemerkbar: Levi’s oder Wrangler? Adidas oder Puma? Und was war mit den vielen No-Name-Hosen und Schuhen, die im ehemaligen Glasscherbenviertel zwangsläufig die absolute Mehrheit bildeten? Waren zehn Zentimeter hohe Glam-Rock-Absätze schon so out, dass Cowboystiefel doch irgendwie cool waren? Durfte man Hufeisen an Turnschuhe schrauben? Und so weiter — und auch hier ging mit Punk der Streit erst richtig los. Ganz zu schweigen von den bevorzugten Fußballvereinen, wobei man sich, um Prügeleien zu vermeiden, mit Hängen und Würgen auf den FC Wacker oder den SC 1906 hinausreden konnte.

Politisch war die Sache immerhin ein bisschen einfacher, weil uns der Schmarrn noch nicht wirklich interessierte. Trotzdem gab es bei gewissen Tagesthemen keine Einigung; von Umweltschutz, Polizeigewalt, Atomkraft und der Emanzipation der Frau über die Ostpolitik — lieber rot? lieber tot? — bis hin zu weltbewegenden Fragen wie dem Rauchverbot im Schulhaus und ob es im Pausenverkauf Cola geben solle.

Ähnlich war es bei den präferierten Parteien: Der eine schrieb mit seinem CSU-Kugelschreiber — Aufdruck: „Freiheit oder Sozialismus“ — und fand den Strauß gut, der andere — oder sagen wir: ich — kicherte über die Seyfried-Comics im linksradikalen „Blatt“, verteidigte im Religionsunterricht die RAF und fing sich damit einen Direktoratsverweis ein. Einer begeisterte sich für die Ideen der aufkeimenden „Grün-Alternativen“, noch einer verteilte SPD-Aufkleber für Helmut und gegen den anderen Helmut, der dritte fand alles scheiße, was Helmut hieß, und verteilte die vor der Schule verteilten Kommunistenzeitungen weiter, und der vierte oder fünfte trug graue Flanellhosen und hatte einen Onkel bei der FDP.

Manche wollten mit dem Politikzeug gar nichts oder wenigstens sehr wenig zu tun haben, weil sich schon die Eltern ständig zankten über Kohl oder Schmidt oder Brandt oder Biedenkopf, und dann gab es auch noch einen, den man heute wohl als echten Nazi bezeichnen müsste. Der stolperte auf dem Fußballplatz recht hilflos herum, aber egal: Er war nett, und wir zogen ihn mit. Ab der achten Klasse verhaderte ich mich mit ihm in politische Marathonschreiereien, die jeden Stammtisch zur Explosion gebracht und in die Unversöhnlichkeit getrieben hätten. Wir brüllten uns an, schrieben unsere Extremmeinungen in die gemeinsame Schülerzeitung, gaben uns die Hand und waren wieder gut. Ist doch alles bloß Politik. Oder Musik. Oder Klamotte. Oder sonst was.

Und das alles heißt:

Wir waren vielfältig und tief — so vielfältig und tief es nur ging — gespalten. Notfalls gab es zu einem Thema nicht eine einzige Meinung, die zwei Fürsprecher fand. Soweit ich mich erinnere, ist es auch nie jemanden gelungen, einen anderen von seinem Standpunkt zu überzeugen.

Oder vielleicht hin und wieder in Einzelfällen, das waren dann aber technische Nebensächlichkeiten. Selbst dümmste Irrtümer gestand man grundsätzlich nicht ein, sondern vertrat sie bis zur Weißglut und hoffte beschämt, die Sache werde durch die nächsten vier oder fünf ähnlichen Konflikte in Vergessenheit geraten, bevor sich herausstellen konnte, wie blöd man war. Ansonsten behauptete man halt steif und stur, das nie gesagt zu haben, und sowieso irrte sich jeder immer wieder. Blöd waren wir schließlich alle und wussten das auch.

Wieso ich das alles so ausufernd erzähle? Weil mir die Lust auf Widerspruch, Zwietracht und Disput — in sozusagen altersmilder Form — bis heute erhalten geblieben ist. Sobald jemand etwas im notorischen „Brustton der Überzeugung“ dekretiert, suche ich nach dem Haar in der Suppe, dem fundamentalen Denkfehler oder der übersehenen Kleinigkeit, die die Theorie zusammenklappen lässt. Und zwar selbst dann, wenn die These mich spontan überzeugt, und erst recht dann, wenn sie von mir selber stammt. Und am allermeisten dann, wenn sie ohne Begründung daherkommt. „Ist halt so! Macht man halt so! Weiß doch jeder! Follow the science!“

Woher diese Sucht stammt und wieso sie in unserer Generation oder „peer group“ so famose Blüten trieb, weiß ich nicht. Sie hatte ihre Nachteile, wie man an den vielen zerzwisteten Kleinstpolitgrüppchen späterer Zeiten sehen konnte. Aber sie hatte auch Vorteile, von denen ein scharfer, streitlustiger Blick für Unstimmigkeiten, Bullshit und hanebüchenen Blödsinn einer der wichtigsten ist. Der bleibt einem, genauso wie die vorlaute Klappe.

Und der schlägt Alarm, wenn jemand Diskussionen zu ersticken versucht, indem er sie mit Konsensbrei bekübelt. So richtig schrillt die Glocke, wenn dann auch noch behauptet wird, der Konsensbrei sei unbestreitbar, weil „wissenschaftlich“ oder „mehrheitlich“ bestätigt. Und wenn es am Ende heißt, es sei gefährlich, schädlich, „undemokratisch“ oder gar verboten, irgendetwas zu äußern, was von der knallharten, rasierklingenscharfen Linie der ideologischen Vorgabe abweicht, dann heulen die Sirenen.

Tatsächlich ist es eine schöne Erfahrung, sich zu einigen. Dazu muss man aber erst mal streiten. Sich von vornherein einig zu sein oder sich ohne Diskussion auf eine Parole, Ansage oder ähnliches einzuschwören, macht borniert und führt im Wiederholungsfall direkt in die Verblödung.

Wenn sich Hampelmänner zu Führern aufschwingen und ihr Gefolge zusammenschweißen, Unterhaken und Gleichschritt befehlen, zum Kampf gegen den gemeinsamen Erzfeind aufrufen, jegliches Widerwort als Ketzerei oder Neudeutsch „Querdenkerei“ verdammen und diesen Prozess der Radikalisierung und Faschisierung „Demokratie“ nennen, dann ist eine ganz andere Form der Spaltung unausweichlich: Dann wird das ungehorsame Kroppzeug mit dem Beil des Debatten- und Betretungsverbots vom Volkskörper abgetrennt und ausgeschlossen und verkörpert fortan das absolut Böse, das geistige Virus, das sein Gift in dessen Adern bringen möchte, um ihn zu zersetzen.

Was dann passieren kann oder logischerweise passieren muss, kennen wir in der einen oder anderen Form aus Geschichtsbüchern und Romanen: Wo nicht mehr gestritten wird, wo es keine mannigfaltigen, allgegenwärtigen Spaltungen mehr gibt, sondern nur noch einen großen, künstlich erzeugten Bruch, da wird’s gefährlich. Zuerst für die Abgetrennten, am Ende aber für alle. „Wir sind mehr“ ist kein Argument, sondern eine Drohung, und was sie und ähnliche Auftrumpfkampagnen erzeugen, ist immer das gleiche: Hass.

Und deshalb brauchen wir gerade heute nichts dringender als Spaltungen jeder Art, in jedem Detail. Es muss gestritten werden, über jeden Blödsinn, denn nur so lässt sich spüren, erkennen und begreifen, was das Wesentliche ist: Dass man sich mögen, respektieren und gemeinsam Fußball spielen kann, auch wenn der andere die falsche Jeans trägt, „Corona“ für eine Erkältung, modRNA-Impfungen für den Segen der Menschheit oder deren Untergang hält, Angst oder keine Angst vor Kohlendioxid, Gletscherschmelze, Hitzesommer, Ozonloch oder dem Waldsterben hat, politisch oder musikalisch ein Riesendepp und womöglich auch noch Bayernfan ist — oder meinetwegen Sechziger. Und dass man sich vor jeden stellen muss, der von einer Übermacht bedroht und drangsaliert wird, und ihn verteidigen, auch wenn man ihn persönlich nicht ausstehen kann und in nichts seiner Meinung ist. Weiterstreiten kann man hinterher.

Was dann nämlich nicht mehr funktioniert, ist das Marionettentheater der Mächtigen, das Ausspielen des einen gegen den anderen und der Mehrheit gegen welche Minderheit auch immer. Dieses Spiel haben schon unsere Lehrer immer wieder versucht, immer vergeblich, und im Nachhinein waren sie — oder wenigstens die Guten unter ihnen — darüber übrigens selber ganz froh.

Manchmal — wenn wir uns mangels Zeitlupe mal wieder nicht einigen konnten, ob der Ball den aus einer zusammengerollten Jacke bestehenden „Pfosten“ oder gar die völlig imaginäre Querlatte überquert oder ins Tor oder daran vorbei geflogen war, und uns deswegen geifernd anbrüllten und kurz vor dem Watschen waren — hat übrigens sogar der Pfarrgärtner versöhnlich gelächelt, den Schlauch an den Wasserhahn geschraubt und gesagt: „Kühlt’s euch erst amal ab, ihr Halunken!“


Brüder! Zur Sonne! Zur Spaltung! #Belästigungen 21

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