Bevor man den Wähler Böses unterstellt, sollte man fragen: Ist das Volk nicht „der Souverän“ in unserer Demokratie? So heißt es in Artikel 20(2) des Grundgesetzes (GG):
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“
Der Souverän also hat gewählt, und die Medien ringen um die Deutungshoheit. Politologen und Soziologen werden bemüht, das Unfassbare zu erklären: Da ist vom Gegensatz zwischen Stadt und Land die Rede, von Abgehängten, Globalisierungsverlierern, Diktatursozialisierten, tief verwurzelter Fremdenfeindlichkeit et cetera.
Das ZDF, hier Bettina Schausten, entblödet sich nicht, den Wahltag in Thüringen am 1. September 2024 mit dem Kriegsbeginn der Nazidiktatur am 1. September 1939 zu vergleichen; der SPIEGEL sieht eine Gefährdung unserer Demokratie. Das Volk gefährdet seine Demokratie?
Enttäuschung, Frust, Zorn über den massiven „Rechtsruck“ in den etablierten Parteien und Leitmedien. Da fällt mir spontan das berühmte Zitat von Bertolt Brecht ein, ursprünglich gegen die DDR-Regierenden gerichtet:
„Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ (Bertolt Brecht)
Statt ganze Landstriche unter Extremismus-Verdacht zu stellen, sollte man vorurteilslos das Wählervotum betrachten im Kontext der Politik der letzten Jahre. Die Wahlanalysen zeigen ein differenzierteres Bild; keine der Umfragen belegt, dass die Wähler der AfD ein geschlossenes rechtsextremes Politikprofil wollten.
Ihre größten Sorgen waren Themen wie finanzielle und soziale Unsicherheit, innere Sicherheit/Kriminalität, ungesteuerte Migration, Gefahr durch Islamismus, die wirtschaftliche Lage sowie die Furcht, mit in den Krieg in der Ukraine hineingezogen zu werden. Letzteres wurde vor allem vom BSW bedient — bei BSW-Wählerinnen und -Wählern in Thüringen das zweitwichtigste Thema (vergleiche Infratest Dimap, Landtagswahl Thüringen 2024). Allen anderen etablierten Parteien wird von einem großen Teil der Wähler offenbar eine glaubwürdige Lösung dieser Probleme nicht mehr zugetraut. Das ist das Resultat ihres Politikversagens auf breiter Front. Wie kam es dazu?
Seit Jahren zeigt sich ein fortschreitender Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie
In den letzten Jahren hat das Vertrauen der Bevölkerung in die Bundesregierung rapide abgenommen. Hatten 2020 noch 61 Prozent der Bürger „eher Vertrauen“ in die Regierung, so waren es im Frühjahr 2024 nur noch 38 Prozent; 55 Prozent entschieden sich für „eher nicht“.
Auch das Vertrauen in die Demokratie nimmt ab: 54 Prozent der Deutschen haben „weniger großes oder geringes Vertrauen in die deutsche Demokratie“ (Umfrage der Körber-Stiftung, 17. August 2023). Das sind alarmierende Befunde. Die SPD meint beispielsweise hierzu, man müsse den Menschen die Politik einfach besser kommunizieren, erklären. Aber der Vertrauensverlust ist keine Frage besserer Politikvermittlung, sondern einer anderen Politik und vermutlich auch anderer — glaubwürdigerer — Politiker.
„71 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass führende Leute in Politik und Medien in ihrer eigenen Welt leben, aus der sie auf den Rest der Bevölkerung herabschauen“, heißt es in der gleichen Umfrage.
Daraus lässt sich schließen, dass das Grundproblem darin besteht, dass sich viele Menschen nicht mehr beachtet und repräsentiert sehen. Das ist eine enorme Gefahr für eine Demokratie, die sich ja als repräsentative Demokratie versteht, also die pluralistische Vielfalt der gesellschaftlichen Gruppen und Lebensbereiche repräsentieren will.
Es klafft eine stets größer werdende Repräsentationslücke zwischen den etablierten Parteien und der Bevölkerung, besonders im Osten. Und so schaut die politische und journalistische Elite aus ihrer westdeutschen Blase verständnislos auf das Wahlergebnis.
Die — überwiegend westdeutsch geleiteten — Medien schicken ihre Reporter daraufhin in besonders abgelegene Dörfer, um dort vordergründig Motive für die Wahl der AFD zu besichtigen: schlechte Verkehrsanbindung, kein Netz, kein Arzt in der Nähe, Überalterung der Bevölkerung, weite Wege zum Arbeitsplatz, geringer Bildungsgrad und so weiter. Das sind eben die „Abgehängten“, die nicht mehr mit den Zeitenwenden mitkommen.
Der Westen dominiert den Osten: Unter 1 Prozent der Mitarbeiter in den Berliner Ministerien stammen aus Ostdeutschland.
Es sind aber nicht nur die ländlichen Gebiete in Sachsen oder Thüringen, die sich nicht mehr gehört und repräsentiert fühlen. Dirk Oschmann hat in seinem Buch „Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ (Seite 97) die Empfindungen und Stimmungen vieler Bürger detailliert und kritisch beschrieben:
„Auf welche Weise soll der Osten Vertrauen in Institutionen entwickeln, die er nicht mitgestalten, geschweige denn leiten darf, die er nur als bürokratische Vollzugsmaschinen, nicht aber von innen kennt, als notwendigen Bestandteil einer funktionierenden Demokratie?“
Er verweist dabei auf die sicher nicht allen Westbürgern und -bürgerinnen bekannte Tatsache, dass im Zuge der mit der deutschen Einheit verbundenen Übertragung der Rechts-, Verwaltungs- und Politikstrukturen auf die ehemalige DDR hauptsächlich Westbürger in Leitungspositionen kamen; zum Beispiel bekamen Richter und Staatsanwälte aus dem Westen in den „neuen Ländern“ eine satte Gehaltszulage und leiteten die Ämter. In den Bundesministerien, schreibt Oschmann weiter, wo die politischen Weichen gestellt werden, „sind diejenigen mit einer ostdeutschen Herkunft nur mit unter einem Prozent vertreten (Stand Januar 2022)“.
„Wir sind das Volk!“
„Wir sind das Volk!“ Dieser Ruf begleitete die politische Wende 1989 und drückte das Grundprinzip unserer Demokratie, die Volkssouveränität, prägnant aus. Wie tragisch ist es daher, dass diesem Bekenntnis keine echte, breite Mitwirkung der Bevölkerung an der Gestaltung einer gemeinsamen Demokratie für West wie Ost folgte. Die Verträge zur deutschen Einheit, die wirtschaftliche Abwicklung der DDR durch die Treuhand, die Währungsunion, alles das war von westdeutschen Interessen und Rechtsnormen vorbestimmt.
Staatliche Institutionen, die nicht mitgestaltet werden, Parteien, deren Dogmen und Sprache als fremde Zumutung erlebt werden, stoßen im Osten auf die tief verwurzelte Erfahrung, dass man „dem System da oben“ nicht trauen dürfe.
„So wie man damals gegen (die SED-Diktatur) auf Distanz ging, so ist auch heutzutage wieder vom ‚System‘ die Rede, dem nicht zu trauen sei“ (Oschmann, Seite 98).
Etliche politische Entscheidungen der Bundesregierung waren von völliger Unkenntnis der Lebens- und Wohnverhältnisse der Menschen gerade in den mittleren und unteren Einkommensschichten bestimmt, so zum Beispiel das Gebäudeenergiegesetz angesichts der zigtausende ungedämmter älterer Eigenheime, die Diskussion um das Heizungsgesetz, das Diesel-Aus und die unter Sparzwängen vernachlässigte Infrastruktur. Hinzu kommt die Überforderung vieler Kommunen durch die ungebremste Migration und dann die energiepolitische Kehrtwende weg von russischem Gas hin zu teurerem und umweltschädlicherem Fracking-Gas aus den USA oder Gas aus dem autokratischen Katar.
Unverstanden für viele blieb insbesondere, wie viele Milliarden plötzlich für die Aufrüstung und die Unterstützung der Ukraine zur Verfügung stand, trotz Schuldenbremse, und wie wenig dem Staat dagegen die Bildung und die Kindergrundsicherung wert waren.
Die wachsende Distanz zwischen der politischen Führung in den etablierten Parteien und großen Teilen der Bevölkerung besonders im Osten ist meines Erachtens einer der Hauptgründe für das schwindende Vertrauen in die Politik und die Institutionen unserer Demokratie, wie sie in Umfragen dokumentiert sind. Wir konnte es dazu kommen?
Das zeigt sich exemplarisch an der politischen Entwicklung, die in Deutschland zu einer „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) führte, die ohne Beispiel in der Geschichte der Bundesrepublik ist.
Eine Fortsetzung folgt in Teil 2.
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