Früher hatten sich Deutschland und die meisten europäischen Partnerländer nach dem Grundsatz „keine Waffenlieferungen in Krisengebiete“ — zumindest öffentlich — aus militärischen Auseinandersetzungen, an denen nur ausnahmsweise eine Seite die alleinige Schuld trägt, herausgehalten.
Die unter Bruch dieses bewährten Grundsatzes seit Beginn des Ukrainekrieges getätigten Waffenlieferungen haben nicht zu einer Annäherung zwischen den Konfliktparteien beigetragen, sondern vorhersehbarer Weise zu einer Eskalation, die gerade dabei ist, aus dem Ruder zu gehen. Dem Kontrollverlust auf Ebene der Kriegshandlungen liegen Wahrnehmungsdefizite zugrunde — auf der Ebene historischer und aktueller Fakten und auf der Ebene der wirksamen psychologischen Mechanismen.
Bereits seit rund 160 Jahren existieren internationale Bemühungen, das Leiden von Kriegsverletzten zu mildern und besonders grausame Formen der Kriegsführung zu ächten. Doch hinken deren Fortschritte infolge der Widerstände einflussreicher Militaristen hinter dem technischen „Fortschritt“ der Rüstungsindustrie hinterher. Der letzte Erfolg für die humanitäre Bewegung liegt bereits 15 Jahre zurück: das Übereinkommen zur Ächtung von Streumunition von 2008, das inzwischen von 123 Staaten ratifiziert wurde.
Da es sich bei der nun gelieferten Streu- und Uranmunition um abwehrbrechende Waffen handelt, steht die eskalierende Wirkung Richtung eines Gemetzels bereits fest. Dagegen kann sich der leider auch von der Bundesregierung behauptete „militärische Nutzen“ gar nicht einstellen, da Russland solche Waffensysteme für den Eskalationsfall gleichfalls im Depot hat.
Die Bundesregierung als Vertreter eines Unterzeichnerstaates des Übereinkommens von 2008 unterliegt allerdings besonderen Verpflichtungen im Verhältnis zu Nichtunterzeichnerstaaten wie den USA und der Ukraine. Diese ergeben sich aus § 21 Abs. 2 :
„Each State Party shall notify the governments of all States not party to this Convention, referred to in paragraph 3 of this Article, of its obligations under this Convention, shall promote the norms it establishes and shall make its best efforts to discourage States not party to this Convention from using cluster munitions.“
Diese vertragliche Verpflichtung haben die Bundesregierung und andere NATO-Partnerländer gebrochen.
Die unbegrenzte Belieferung der Ukraine mit Waffen seitens der NATO-Staaten — einschließlich Deutschlands — zerstört völlig deren Kompromissbereitschaft.
Die fatalen Ergebnisse kennen wir:
- Ablehnung des bereits fertigen Friedensvertrages zwischen Russland und der Ukraine im März 2022 durch Großbritannien und die USA .
- Der nachfolgende dauerhafte Abbruch von Friedensverhandlungen mit Russland seitens der ukrainischen Führung seit dem 17. Mai 2022.
- Die Haltung der NATO- und EU-Länder zeigt eine Unterordnung unter das US-Diktat und eine zunehmend autoritär nach neuen Rüstungsgütern verlangende ukrainische Regierung.
Souveränität von Staaten beziehungsweise Selbstbestimmungsrecht der Völker
Zu Recht reklamiert Selenskyj für sein Land das in Artikel 2 der UNO-Charta von 1945 verkündete Recht auf Souveränität und territoriale Integrität, ignoriert aber zugleich ein anderes — das in Artikel 1 derselben Charta verbriefte Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Beide Rechte sind auf unterschiedliche Weise geeignet, das Zusammenleben der Völker und Staaten zu ordnen und zu harmonisieren. Doch stehen sie teilweise im Widerspruch zueinander. Zur Entfaltung ihrer konstruktiven Wirksamkeit benötigen sie daher zwingend eine klare und international verbindliche Abgrenzung der Gültigkeitsbereiche.
Zahllose Konflikte seit 1945 haben gezeigt, welch millionenfachen Blutzoll ein an so entscheidender Stelle lückenhaftes internationales Rechtsgefüge fordert.
Bei einem Streit um Territorien, einem Standardfall, können Verhandlungen keinen Schritt vorankommen, solange eine Seite auf territorialer Integrität besteht und die andere das Selbstbestimmungsrecht der betreffenden Bevölkerung einfordert.
Wichtige, bisher kaum beachtete, Aussage Selenskyjs auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2022
Auf der 58. Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2022, wenige Tage vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine zum Schutz der russischen, wie auch der ukrainischen, Bevölkerung , die die 2014 durch einen blutigen Staatsstreich zur Macht gekommene faschistoide ukrainische Regierung nicht anerkennen, hat der ukrainische Präsident Selenskyj in seiner Rede — nach einer groben Fehlanalyse der weltpolitischen Lage — eine höchst relevante Aussage vorgetragen, von deren Gültigkeit jetzt, rund 1,5 Jahre später, die Frage abhängt, ob die Eskalation zum Weltkrieg noch gestoppt werden kann:
„Russia says Ukraine seeks to join the Alliance (NATO) to return Crimea by force. … But they inattentively read Article 5 of the NATO Charter: collective action is for protection, not offensive. Crimea and the occupied regions of Donbas will certainly return to Ukraine, but only peacefully.“
„Russland sagt, die Ukraine wünsche der Allianz (der NATO) deshalb beizutreten, um die Krim mit Gewalt zurückzuholen (….) Aber sie haben (den) Artikel 5 der NATO-Charta nicht aufmerksam gelesen: Gemeinschaftliche Aktion dient der Verteidigung, nicht der Offensive. Die Krim und die besetzten Regionen des Donbass werden mit Sicherheit zur Ukraine zurückkehren, aber nur friedlich“ (Referenz: kyivindependent.com).
Damit hat Selenskyj eingeräumt, dass ein ukrainischer Versuch, die Krim militärisch zurückzuholen, keinen Verteidigungsfall darstellen würde, sondern den Charakter eines Angriffs hätte — ungeachtet der bekannten Tatsache, dass die Halbinsel von Kiew als ukrainisches Territorium angesehen wird.
Zu dieser Zusage einer ausschließlich friedlichen Rückkehr der abtrünnigen Donbassregionen und der Krim zur Ukraine stehen die aktuellen Narrative und militärischen Attacken gegen die Krim im höchst gefährlichen Widerspruch — und bestätigen die russischen Befürchtungen, dass die Ukraine die Rückendeckung der NATO-Länder nicht nur zur Verteidigung nach Artikel 5, sondern zur gewaltsamen Rückeroberung der Krim und der Donbass-Regionen auszunutzen versucht.
So wird exakt im augenblicklichen Zeitpunkt der Eskalationsspirale die rote Linie erreicht — sowohl nach den Warnungen Russlands betreffend der atomaren Option bei militärischer Gewalt gegen die Krim — und ebenso nach den Worten Selenskyjs auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu einer friedlichen Rückkehr der umstrittenen Gebiete.
Da die ukrainische Bevölkerung unter der Janukowitsch-Asarow-Regierung nach manchen Einschätzungen sogar besser als die Deutschen gelebt hatte — und das in nachbarschaftlicher Harmonie mit Russland und den angrenzenden Ländern — wurde der blutige Staatsstreich im Jahr 2014 von der Mehrheit der Menschen abgelehnt — siehe Buch „Russen und Ukrainer sind 1 Volk. Sie haben nur 1 Feind — den Faschismus. Menschheit steht am Scheideweg: Menschlichkeit, oder Barbarei“, Bestellungen unter: anna.demok@gmx.de.
Deshalb und aufgrund des konsequenten Bruchs aller Wahlversprechen, wie friedliche Lösung für Donbass, Eindämmung der Korruption, Beschneidung der Macht der Oligarchen, sind Neuwahlen nach dem Krieg ein Gebot der Fairness.
Die Bundesregierung muss aus ihren politischen Fehlern lernen.
Für die Einsicht, aus historischen Fehlern und Versäumnissen lernen zu müssen, ist es irgendwann zu spät. Genau dieser Zeitpunkt steht jetzt mit dem drohenden Dritten Weltkrieg dicht bevor.
Unausweichlich drängt sich die Frage auf, wie es zu einer solchen Situation des drohenden Kontrollverlusts kommen konnte.
Als der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower 1961 aus dem Amt schied, bewies er in seiner Abschiedsrede eine für Politiker — noch immer — untypische Courage, indem er auf eine Gefahrenquelle für Freiheit und Demokratie hinwies, die nicht bei feindlichen Mächten verortet ist, sondern mitten in den westlichen Gesellschaften.
Als diese Gefahrenquelle identifizierte Eisenhower den militärisch-industriellen Komplex und meinte damit das inoffizielle Konsortium aus — allein in den USA über 20 — Geheimdiensten, der Militärführung, der Rüstungsindustrie und politischen Führungspersonen.
Sein Amtsnachfolger John F. Kennedy, der den Anstoß aufgriff und eine neue Ära des Friedens unter Überwindung des Militarismus verkündete, wurde durch seine Ermordung an der Umsetzung dieser Vision gehindert. Kein Präsident nach ihm hat sich den zahlreichen, vom MIC gepushten militaristischen Abenteuern der USA und Großbritanniens ganz verweigert, auch Donald Trump nicht, unter dem aber der Ukrainekonflikt nicht eskaliert ist.
Das Bedrohliche an den amerikanischen Militäreinsätzen ist ihre selbstzerstörerische Wirkung. Die gigantischen, den Staatshaushalt ruinierenden Kosten, rund 50 Prozent aller weltweiten Rüstungsausgaben, passen in keiner Weise zu den Resultaten in Gestalt militärischer und politischer Misserfolge.
Doch durch eine selektiv unvollständige und unkritische mediale Berichterstattung konnte auf Seiten der Bürger stets eine künstliche Akzeptanz für die in Wahrheit inakzeptablen Militäreinsätze über viele Jahre aufrechterhalten werden, so unter anderem in den Kriegen gegen den Irak, Libyen und Afghanistan.
Das Ausmaß der offenen Verstöße gegen freiheitlich-demokratische Grundwerte kommt fast immer erst im Nachhinein ans Tageslicht und umfasst Förderung von Diktaturen, Einsatz korrupter Regierungen, Verwicklung in Drogengeschäfte, Ausbildung von und Kollaboration mit brutalen Milizen, gezielte Falschmeldungen sowie erniedrigender Umgang mit der Zivilbevölkerung. Die faktische Rufschändung der USA, des gesamten Westens und ihres freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsmodells wird weltweit auch als solche wahrgenommen — nur nicht in den westlichen Ländern selbst, deren Bewohner weiter von ihren Regierungen und Medien nach Kräften in ihrer bisherigen naiv-unkritischen Weltsicht bestärkt werden.
Durch Lob der Medien für den militärisch-industriellen Komplex und den von ihm betriebenen Militarismus sowie durch ein höchst undemokratisches Vorgehen regierungsamtlicher Kreise gegen Andersdenkende, auch unter Drohung mit Gefängnis beziehungsweise sehr hohen Geldstrafen, werden die Menschen in Deutschland systematisch darin beeinträchtigt, gewaltfreie und nachhaltige Formen der Konfliktlösung zu fordern.
Doch mit jedem neuen großen Militärabenteuer wird der Charakter der medialen Berichterstattung als paralleler Informationskrieg klarer erkannt.
Auch Vordenker und idealistische Organisationen in den USA arbeiten bereits an den Parametern einer umfassenden Gesellschaftsreform, welche von einer Wiederbelebung des freiheitlichen Wertefundaments der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassung ausgeht und den bisherigen sozialen und wirtschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenwirken soll.
Der militärisch-industrielle Komplex wird dabei immer mehr als nur ein Teil eines umfassenderen Systems wahrgenommen, das letztlich eine Herrschaft des großen Geldes verkörpert.
Auch in Europa wendet sich eine wachsende Zahl zu Recht besorgter Bürger Strömungen zu, die den verantwortungslosen Militarismus ablehnen.
Einer Umfrage in Deutschland zufolge befürworten über 80 Prozent der Bürger einen sofortigen Abzug aller im Land stationierten amerikanischen Atomwaffen.
Diese sind bereits seit vielen Jahrzehnten in Deutschland stationiert und keine einzige Bundesregierung hat es bisher für angebracht gehalten, den Sicherheitsbedenken ihrer Bürger entsprechend für einen Abzug zu sorgen.
Auch in Europa zeigt sich das Bild von Gesellschaften, die ihren Bürgern keinen Schutz gegen Beeinflussung ihrer politischen Vertreter durch den militärisch-industriellen Komplex bieten. Im Gegenteil hat es für die Bürger den Anschein, als wäre der MIC den Regierungen und Parlamenten gegenüber weisungsbefugt. So entfernt sich die derzeitige Bundesrepublik von ihrem nach außen proklamierten Idealbild einer modernen, freiheitlichen Demokratie. Mit der Verfolgung Andersdenkender –Berufsverlust, Androhung von Freiheits- und hohen Geldstrafen — geraten wir unversehens auf einen gefährlichen Weg, der zurück in die Nähe einer Staatsform zu führen droht, die längst als überwunden galt.
Die endlosen Waffenlieferungen zugunsten einer ultranationalistischen Regierung machen die EU- und NATO-Länder immer eindeutiger zur Kriegspartei. Zugleich entfernen sich diese vom demokratischen Grundgedanken, indem eine zunehmend vom Willen der Bürgermehrheit losgelöste Politik durchgesetzt wird.
Was Desinformation als Waffe angeht, hat der MIC mit der Zensur im Spanisch Amerikanischen Krieg (1898 bis 1899), mit der systematischen Meinungsmanipulation durch das Creel Committee (1917 bis 1919) und der Propaganda des Office of War Information (1942 bis 1945) besonders lange Erfahrungen.
Es ist daher unaufrichtig, in den Ukrainekrieg eine Verteidigung der freiheitlichen Demokratie hineinzuinterpretieren oder gar von einem Kampf zwischen Despotismus und Demokratie zu reden.
Nur aus einer realistischen Selbsteinschätzung der westlichen Regierungen — in diesem Fall der deutschen Regierung — kann die Grundvoraussetzung für eine friedliche Konfliktlösung erfüllt werden!
Das setzt voraus, bereit zu sein, den Gegner zu verstehen, so wie es Mahatma Gandhi und Martin Luther King schon vor Jahrzehnten längst als eine notwendige Voraussetzung für das Zusammenleben der Menschen erkannt hatten und wie es nach bereits zwei Weltkriegen in Europa eine absolute Überlebensnotwendigkeit darstellt.
Das Propaganda-Schlagwort „Putin-Versteher“ weist leider in die Gegenrichtung und zeigt zugleich das flache Niveau einer Gesinnungskontrolle, die Verständigung brandmarkt, Eskalation predigt und die Tatsache ignoriert, dass verstehen etwas ganz anderes bedeutet als alles gutheißen.
Von den Bürgern wird die dringende Notwendigkeit, zwischen prorussischer Parteilichkeit und dem Bemühen um einen fairen Blickwinkel klar zu unterscheiden, schon auf breiter Front erkannt.
Umso alarmierender ist es, dass Politiker und Journalisten diesbezüglich den einfachen Menschen im Lande hinterherhinken — einer der Gründe, weshalb dieser unser Offener Brief an Sie überfällig ist.
Eine friedliche Konfliktlösung kann erreicht werden, wenn sich Politiker und Journalisten aus ihrer Unterwürfigkeit gegenüber den MIC-Militaristen lösen und dem kritischen Denken wieder größeren Raum bieten. Das würde auch bei der Bewältigung der akkumulierten wirtschaftlichen und sozialen Probleme in ganz Europa helfen.
Quellen und Anmerkungen:
Chinavortrag am Montag, den 30. Oktober 2023
Am 30. Oktober 2023 findet um 16.00 Uhr im ND-Gebäude, Franz-Mehring-Platz 1, in 10243 Berlin im Saal 2, ein Chinavortrag von Professor Wolfram Elsner, jahrelanger Gastprofessor für Politische Ökonomie an der Jilin Universität in Chanchun, China, statt.
Das Thema lautet: Chinas neue Stellung im Weltsystem. Multipolarität, Friedensdiplomatie, Neue Seidenstraßen
Einladende: „Mütter gegen den Krieg Berlin-Brandenburg“
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