Zum Inhalt:
Unterstützen Sie Manova mit einer Spende
Unterstützen Sie Manova
Die Vollkommenheit des Seins

Die Vollkommenheit des Seins

Die höchsten Höhen und die tiefsten Abgründe gehören zum Universum — beide haben ihre Daseinsberechtigung.

Ein Mann, der am Strand spazieren ging, sah einen Jungen, der Seesterne aufhob und sie ins Wasser warf.

„Was machst du da?“, fragte ihn der Mann.

„Ich werfe diese Seesterne zurück ins Meer“, antwortete der Junge. „Die Flut ist vorbei, und sie werden in der Sonne gebraten, wenn ich ihnen nicht helfe.“

„Aber der Strand ist mehrere Kilometer lang, und es gibt unzählige Seesterne“, sagte der Mann. „Du kannst unmöglich etwas ausrichten!“

Der Junge hörte höflich zu, dann hob er einen weiteren Seestern auf und warf ihn in die Brandung.

„Für den hat es etwas ausgerichtet“, sagte er zu dem Mann.

„Ich meine, das ist ja eine nette Antwort und so“, sagte der Mann. „Sie würde sich gut für ein Facebook-Meme eignen, das deine religiöse Tante teilt, oder für eine Motivationsrede aus den frühen Neunzigern. Aber im Großen und Ganzen musst du doch einsehen, dass die Rettung dieses einen Seesterns keine wirkliche Bedeutung hat, nicht wahr? Morgen wird die Flut erneut zurückweichen, und dieser Strand wird wieder von sterbenden Seesternen gesäumt sein, genau wie jetzt, und unter ihnen ist wahrscheinlich auch unser kleiner Freund, den du gerade gerettet hast.“

„Was willst du von mir hören, Mann?“, erwiderte der Junge, wobei sich sein Ton plötzlich änderte. „Dass es eine Art ewige metaphysische Rechtfertigung für mein heutiges Handeln hier am Strand gibt? Dass es eine absolute Wahrheit gibt, die von oben in das Gewebe der Realität eingeschrieben ist und die besagt: ‚Ein geretteter Seestern ist verbunden mit einer ultimativen Bedeutung‘? Auf welche Grundlage stützt du deine Annahme, dass Handlungen überhaupt einen Sinn oder Zweck haben?“

„Ich … Ich … Nun …“, stammelte der Mann.

Der Junge wurde größer und größer, und während er sprach, nahm seine Haut einen überirdischen Blauton an.

„Hast du eine Ahnung, wie groß das Universum ist? Wie uralt? Wie vergänglich?“, fragte der Junge. „Wie kannst du behaupten, irgendetwas tun zu können, das einen endgültigen Unterschied macht, wenn du und alles, was du je gekannt hast, nichts als ein unendlich kleiner Fleck inmitten der gähnenden Weite der Unendlichkeit ist?“

„Wer bist du?“, fragte der Mann.

Ein zweites Paar blauer Arme wuchs aus dem Oberkörper des Jungen. Seine Stimme donnerte, während er den Mann überragte.

„Wer bin ich? Wer bist du?“, konterte der Junge. „Für wen hältst du dich? Wer bist du, dass du herumläufst und verkündest, welche Handlungen von Bedeutung sind und welche nicht? Wie lange gibt es dich schon? Sechzig Jahre? Du bist eine Zygote. Du bist eine Eintagsfliege. Was das Universum angeht, hast du im Grunde dieselbe Lebensspanne.

Du bist nichts weiter als eine lose verbundene Wolke von Zellen, die für kurze Zeit in untrennbarem Zusammenspiel mit dem Ökosystem, das sie hervorgebracht hat, auf einem winzigen Planeten in der äußeren Peripherie einer Galaxie umherwirbelt, die im Grunde kaum älter ist als du selbst.

Du bist ein Winzling, der für einen Augenblick im Ozean herumtreibt, und du maßt dir an, so weise und autoritär zu sein, dass du Urteile über die Sinnhaftigkeit des Lebens eines Seesterns fällen könntest? Hältst du dich für wichtiger oder bedeutender als irgendeiner dieser Seesterne im Sand?“

„Es tut mir leid!“, sagte der Mann und fiel vor Schreck auf die Knie. „Ich habe es nicht böse gemeint!“

Die Gestalt des Jungen löste sich auf und verwandelte sich in Milliarden von Galaxien, die sich vor einem Hintergrund aus unendlicher Schwärze drehten.

„Das Universum dehnt sich in mir aus und zieht sich zusammen wie die Luft in deiner Lunge“, sagte der Junge. „Jeder Urknall in jedem Universum entfesselt einen neuen Tanz wirbelnder Energie, die sich bei ihrer Ausdehnung in immer komplexere Iterationen von Materie verwandelt, sie erreicht Gipfel von schillernder Schönheit, wie sie sich dein junger Primatenverstand nicht einmal vorstellen kann, dann erkaltet sie und fällt wieder in sich selbst zusammen. Immer wieder bringe ich unendliche Universen ins Dasein; sie blühen und sterben in mir wie Blumen in der illusorischen Erscheinung der Zeit. Kein einziges dieser Universen ist jemals von Bedeutung. Kein einziges von ihnen macht jemals einen endgültigen Unterschied. Das Leben eines einzigen Seesterns hat den gleichen Wert wie die Lebensdauer dieses ganzen Universums.“

„Wozu dann die Mühe?“, fragte der Mann und fasste plötzlich neuen Mut. „Wenn nichts etwas bedeutet und nichts von Bedeutung ist, warum dann all das erschaffen?“

„Aus demselben Grund, aus dem ich manchmal Seesterne zurück ins Meer werfe“, sagte der Junge.

„Und was ist das?“

„Du warst verheiratet, oder?“, erwiderte der Junge.

„Ja“, sagte der Mann verblüfft. „Meine Frau ist vor Kurzem gestorben.“

„Hast du sie geliebt?“

„Ja. Sehr sogar.“

„Hast du ihr das jemals gesagt?“

„Ja. Viele Male.“

„Hast du je etwas Nettes für sie getan?“

„Ja.“

„Warum?“

„Warum … weil ich sie geliebt habe. Es gab keinen anderen Grund.“

„Ja, nun, so ist es bei mir auch.“

„Du liebst all diese Universen, die du erschaffst?“

„Unermesslich.“

„Warum lässt du sie dann sterben? Warum lässt du sie unvollkommen sein? Warum lässt du zu, dass es Krebs gibt?“

„So funktioniert die Liebe nicht, mein Lieber. Die Liebe versucht nicht, zu dominieren oder zu kontrollieren. Wahre Liebe liebt alles so, wie es ist, egal wie es sich zeigt. Du hast deine Frau genauso geliebt, als ihr Körper von Krebs geplagt war, wie am Tag eurer Hochzeit, selbst als sie spindeldürr war und wegen des Morphiums kaum noch wach bleiben konnte. Wahre Liebe lehnt nicht ab, was ist; sie ist ein tiefes und bedingungsloses Ja. Und natürlich kann dieses Ja auch Operationen und Chemotherapie beinhalten. Es kann auch bedeuten, Seesterne zurück ins Meer zu werfen. Aber das Ja ist immer da, wenn man über all den Lärm im Kopf hinwegsehen und es wahrnehmen kann.“

Der Mann blinzelte die Tränen weg und wandte den Blick ab. „Manchmal tut es wirklich sehr weh.“

„Ja“, sagte der Junge.

„Aus jedem Urknall entstehen Bewegungen in allen möglichen Formen. Zu diesen Bewegungen können Schmerzen gehören. Und Krebs. Sie können auch Serienmörder, Ökozid, Oligarchen und Kriegstreiber beinhalten. Diese Dinge sind alle Teil der wirbelnden, fortlaufenden Explosion dieses Universums.

Sie sind alle kleine Kringel in der Bewegung seiner Energie, so wie der Schaum auf den Wellen. Und sie alle sind vollkommen geliebt, so wie sie sind. Kein Teil des kosmischen Tanzes wird abgelehnt. Jeder Teil wird umarmt. Und wenn alles vergeht, wird auch das Vergehen umarmt, ebenso wie der Schmerz des Verlustes.“

„Aber was soll ich mit all dem anfangen?“, fragte der Mann. „Du sagst, nichts ist wichtig und nichts bedeutet etwas, und im Moment, an diesem Punkt in meinem Leben, fühlt es sich definitiv so an. Aber wie soll ich dann leben? Wie soll ich weitermachen? Wie soll ich handeln, wenn nichts einen wirklichen Unterschied macht?“

„Verdammt! Hast du mir überhaupt zugehört?“, fragte der Junge. „Entweder du liebst das Leben oder du lässt es bleiben. Entweder stürzt du dich in grundlose Liebeshandlungen oder nicht. Es spielt keine Rolle. Jedes deiner Moleküle ist vollkommen geliebt, egal, was du tust. Du weißt, was es heißt, eine Frau zu lieben, und du kannst lernen, was es heißt, das Leben zu lieben, wenn du willst. Es liegt an dir.“

„Ich … wollte mich von der Klippe stürzen. Da wollte ich hin.“

„Ich weiß.“

„Oh.“

„Du kannst es immer noch tun, wenn du willst.“

„Oh. Hmm. Hm.“

Die Welt war wieder da: Der Junge stand vor dem Mann, in seiner normalen Knabengröße, mit der normalen Anzahl von Armen.
Der Junge schaute dem Mann tief in die Augen und legte ihm die Hand auf die Brust, dann drehte er sich um und warf wieder Seesterne in die Wellen.

Der Mann sah dem Jungen eine Weile zu, dann richtete er seinen Blick auf die Klippen in der Ferne und dann wieder auf den Jungen.

„Ach, es ist sowieso Ebbe“, sagte der Mann und bückte sich, um einen Seestern aufzuheben.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien am 24. Oktober 2021 unter dem Titel „The Boy And The Starfish And The Yawning Chasm Of Infinity“ zuerst auf dem Blog caitlinjohnstone.com. Er wurde von Max Stadler vom ehrenamtlichenRubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.


Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.

Weiterlesen

Die Perversion des neuen Zeitalters
Thematisch verwandter Artikel

Die Perversion des neuen Zeitalters

Die Neuauflage von Jochen Kirchhoffs philosophischem Sachbuch „Nietzsche, Hitler und die Deutschen“ gibt Aufschlüsse über die Licht- und Schattenseiten des „deutschen Geistes“.

Unvernünftige Staatsräson
Aktueller Artikel

Unvernünftige Staatsräson

Deutschland übt sich in Solidarität mit Israel und lässt die Palästinenser im Regen stehen — ein Lehrstück für doppelte Standards.

Mündige Eltern
Aus dem Archiv

Mündige Eltern

Der Filmemacher Karolis Spinkis macht Mut, eigenverantwortlich über Impfen zu entscheiden.